Ernst Halter

Die Stimme des Atems


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mich weg, gehe zur Treppe und lasse mich, eine Hand am geschwungenen Geländer, Stufe um Stufe hinabfallen. Mir schwindelt. Der Spielzeugschrank gähnt offen, ich stosse die verglaste Wohnzimmertür auf, klettere auf meinen Stuhl und das Rosshaarkissen, stütze die Ellenbogen auf und das Kinn in die Hände und starre durch die Fenster zum Wald hinauf, der sich dünn wie graues vor weissem Seidenpapier durch den Herbstnebel abzeichnet, und versuche mit dieser Niederlage vor mir selbst zurechtzukommen. Warum bin ich unzufrieden und traurig? Warum aufsässig? Warum bin ich, wie ich bin? Warum gibt es mich überhaupt? Kämpfend gegen die Tränen, zähle ich die Baumwipfel, denn zählen kann ich schon lange.

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      Schneekönigin

      Ein sulztrüber Winternachmittag, tiefer Schnee. Am Steilhang hinter dem Eisweiher verändern wir die Landschaft. Wir pressen Bälle, werfen sie in den Schnee und rollen sie voran. Lage um Lage wickelt sich um die Kugeln, kleine Walzen entstehen, werden mächtiger, schwerer, reissen im Bergabrollen die ganze Schneeschicht ab, spulen sie auf wie dickes Moltontuch. Endlich können wir sie nur noch mit vereinten Kräften und dank der Steilheit des Hangs ein paar Schritt weiter wälzen. Zuletzt sitzt jeder von uns atemlos und heissgearbeitet mit frostgeröteten Händen auf seiner Walze und blickt hangaufwärts auf eine grüne Grasbahn, die sich breit unter seinem Gefährt hervorschält und sich nach zehn, zwanzig Schritt im Schnee verliert. Peter ist Winnetou, Fritzi Manitus Grosser Büffel, Thomi der Adler des Zeus, und ich bin der Steinbock der Schneekönigin, denn unser Werk gehört ihr; auf Steinböcken reitet sie durch ihr eisiges Reich.

      Am folgenden Morgen müssen die drei in der Schule die Köpfe ducken, nur ich lebe noch in Freiheit. In der Nacht hat sich ein schwerer Reif niedergeschlagen, der Nebel sich weggehoben, und wie ich gegen zehn Uhr vormittags in Windjacke, Wollmütze und Fäustlingen unser kleines Tal hinaufstapfe, um das Werk für die Schneekönigin zu besuchen, ergiessen sich die Buchenkronen des Waldrands als glitzernde Eisfälle aus der Tiefe des blauen Himmels. Mein Glück ist so mächtig, dass ich stehenbleibe und mich langsam und süss füllen lasse, um nicht zu zerspringen. Der Eisweiher liegt, grau eingedeckelt und mit der wirren Kurvenschrift der Schlittschuhläufer graviert, im Gebüsch. Funkenglitzernde Stille, Atemwölkchen. Vier Schneerugel stehen auf halber Höhe des Hangs. Vom eigenen Gewicht in den Boden gepresst, sind sie im Frost versteinert. Ich klettere und springe auf ihnen herum. Die krustig gefrorenen Oberflächen schneiden messerscharf wie Glassplitter. Ich bin allein, der Fröschenhof am gegenüberliegenden Hang verschwindet beinahe unter den Schneelasten. Ich besteige die grösste Walze und recke die Arme zu Hörnern hoch; ich bin der Steinbockkönig, stosse kurze scharfe Schreie aus, rufe, rufe die Schneekönigin herbei ins Glück der lichtsprühenden Welt. Januar 1945.

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      Zofinger Tagblatt, 27. Januar 1945

      Der Flüchtlingsstrom

      Grosse Teile der deutschen Ostbevölkerung sind in Bewegung geraten, um vor den näher rückenden russischen Armeen sich im Innern Deutschlands in Sicherheit zu bringen. Tag und Nacht rollen Flüchtlingszüge aus dem Osten in westlicher Richtung, wobei die öffentlichen Wohlfahrts-Organisationen bemüht sind, den reibungslosen Ablauf der Transporte und ihre schnelle Unterbringung in rückwärtigen Gebieten zu gewährleisten. Obwohl dieser Flüchtlingsstrom in diesem Umfang wahrscheinlich überraschend gekommen ist, da noch vor wenigen Wochen mit einem solch bedrohlichen Ausmass des Vorrückens der Roten Armeen in das alte Reichsgebiet wohl kaum gerechnet wurde, wird augenscheinlich Ordnung gehalten, um Panik zu vermeiden und die militärischen Operationen nicht zu stören. Das Hauptkontingent der vor dem Kampfgeschehen geflohenen deutschen Bevölkerung fällt offenbar auf die Gebiete des Warthe-Gaues und die Provinz Westpreussen. Von den Flüchtlingen wird übereinstimmend berichtet, dass sich die polnische Bevölkerung beim Abzug der deutschen Bevölkerung durchwegs loyal verhalten habe und dass es nirgends zu irgendwelchen Konflikten und Zusammenstössen mit den Polen gekommen sei.

      Erste Heimlichkeit

      Tief, übermannshoch und dicht ist die Buchshecke, ein dunkelgrüner Fremdkörper; sie trennt uns vom Nachbarn im Westen; gegenseitig unsichtbar, leben wir nebeneinanderher. An ihrem Fuss, bei den Wurzeln, wo der Grus von Jahren als modriger federnder Teppich liegt, läuft hangabwärts ein Betonkännel. Meist liegt er trocken, und dürres Laub sammelt sich darin. Zuweilen fülle ich einen Kübel mit Wasser und spüle ihn rein; neben der raschelnden Wasserwoge her renne ich den Kiesweg hinab und erwarte sie, die unter ihrer Fracht allmählich träger wird und beinahe verschwindet, am schmiedeeisernen Tor zu unsrem Garten neben dem Dolendeckel. Dringe ich in die Hecke ein, zwänge mich durch die zähen Zweige und das sperrige Totholz, verstärkt sich der herbe Buchsgeruch und schlägt mich an heissen Sommertagen in seinen schwarzgrünen Brodem. Sitze ich innen und blicke nach aussen, verflicht und verfilzt sich dürres Geäst schwarz vor dem Himmel; die äussere Laubhülle verwehrt den im Licht Stehenden den Einblick, mir im Finstern dagegen stört sie kaum die Sicht.

      Eines Nachmittags kauere ich dort drin und verrichte meine Notdurft. Das Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun, ist so mächtig, dass sich das Herzklopfen erst legt, als ich heraustrete; es verbindet sich mit dem Buchsgeruch. Einen Sommer lang mache ich Gebrauch von dieser genussvollen Erleichterung ausser Haus; immer habe ich Glück, und ich komme mir vor wie auf einer Bergwanderung, wo der Vater das Toilettenpapier verwaltet, das in handgrosse Blätter zerrissene «Zofinger Tagblatt». Dennoch bleibt das Gefühl des Unerlaubten.

      Die Mutter erwischt mich und und stellt mich zur Rede. Eine Bestrafung erfolgt nicht; um so röter ist meine Scham darüber, dass der Mensch, den ich am liebsten habe, mein Vergehen aufdeckt und ich auf die Frage, warum?, schweigen muss, denn das Argument, es reiche immer für die zwanzig Schritt bis zum nächsten Abort, sticht.

      Zum ersten Mal finde ich mich allein im öden Land ausserhalb des überwachten elterlichen Bezirks, das die Mutter mir am liebsten verbieten würde. Ich verspreche ihr, dies eine – ausser auf Alpenwanderungen – tatsächlich Verbotene nie mehr zu tun. Doch das graue Land nie zu betreten, das die lichte Welt unsrer Familie umschliesst und durch das Abendgebet Ängeli chumm, mach mi frumm, dasi zuder iHimel chumm gebannt wird, das kann ich ihr nicht versprechen. Seine Macht ist stärker als ich.

      Ich habe mit ihr darüber nie gesprochen.

      →AasEltern-TabuKind und ÖffentlichkeitPatriarchat und innere Emigration

      Vorlesen

      Bis ich selbst ein Buch bewältigen kann, liest uns der Vater, hat er Zeit, abends vor. Wir setzen uns auf dem abgeriebenen dunkelbraunen Ledersofa in der Bibliotheksecke des Studierzimmers nebeneinander. Ich sitze meist rechts von ihm, über mir staffeln sich die vollen Bücherregale, brennt die Stehlampe. Zwischen dem Vater und der Ofenkunst nehmen die Geschwister Platz. Die Kacheln wärmen die Szene, denn es ist Krieg, und die mit deutscher Kohle befeuerte Zentralheizung wird auf Sparflamme gefahren. Hinter uns hängt in schwarzem Rahmen Piranesis Stich des Sibyllentempels von Tivoli. Ich werde die Angst davor nie ganz los; sie verhindert,