bleibt.
Der Vater schlägt das Buch auf. Wo sind wir stehengeblieben? Eins von uns weiss die Stelle, wo er das Häkchen gesetzt hat, fast immer. Das Buch ist eine Sagensammlung. Die Geschichten erklären, warum etwas ist, wie es ist: warum die Katze grüne Augen und die Erde einen Mond hat, warum die Espe ununterbrochen bebt. Meist hat der Teufel dreingepfuscht – und mein Interesse für ihn ist das grösste. Die Espe allerdings wird, typisch für den lieben Gott, unschuldig bestraft. Was kann sie dafür, dass sich Judas Ischarioth an ihr erhängt hat? Heute erfahren wir, warum die Eiche buchtige Blätter hat. Weil der Teufel während der Schöpfung wieder einmal betrogen worden ist, vom lieben Gott selbst. In ohnmächtiger Wut hat er mit seinen Krallenpranken auf die Eiche eingedroschen, bis alle schön ovalen Blätter buchtig zerfetzt herabhingen. Was wir heute noch sehen können.
→Lesen →Orangen →Der arme Teufel
Vorausschule
Die Mutter hat den Vater während dessen Aktivdienstzeit zuweilen am Pult vertreten. Nun mochte es vorkommen, dass das Hausmädchen in der Fortbildungsschule war, die Geschwister ohnehin die Bank drückten, ich also allein zu Hause geblieben wäre. Dann nahm sie mich an der Hand, wir stiegen zum Schulpalast hinunter, die ausgetretenen Sandsteintreppen hoch, sie setzte mich in die leere hinterste Bank ans dritte Fenster, legte ein Bilderbuch sowie Zeichenblock und Farbstifte vor mich hin, strich mir über den Kopf und sprach: Bis lieb u braav. Der Unterricht begann.
Ich liebte diese Ausflüge, weil ich nicht zur Schule musste. Ich war der einzige im Klassenzimmer, der aus freien Stücken hier sass und tun und lassen konnte, was ihm behagte. Ich konnte aufmerksam zuhören, etwa in Schweizer Geschichte, oder zum Fenster hinaus oder in ein Buch schauen oder unser Haus und die Sonne darüber zeichnen; verboten war nur, was den Unterricht gestört hätte. Ich fühlte mich frei und leicht und bedauerte die armen Schüler, die in den Bänken vor mir herumrutschten, hie und da nach hinten schielten und ihr Gehirn zermarterten, ratlos schwiegen, die Hand aufstreckten und richtige oder falsche Antworten gaben. Dann kam ich mir vor wie der heimliche Fürst dieser Versammlung. Der Freie ist immer ein Fürst.
Einzig die Stimme der Mutter bereitete mir Unbehagen. Sie klang anders als noch auf dem Schulweg, nicht drohend oder unwillig; doch wenn sie so mit mir geredet hätte – energisch, gepresst, neutral-umsichtig –, hätte ich sie gefragt, warum sie mir böse sei. Mich verstörte, dass sie eine andre als ihre richtige Stimme brauchen musste; und was mich besonders quälte: Plötzlich tat sie mir leid. Ich hatte das Gefühl, ich müsse mich vor sie stellen und sie beschützen. Zuweilen fiel mich Angst an, sie könne nicht mehr und müsse abbrechen. Die Schule war offenbar nichts Gutes. Der Himmel vor dem grossen Fenster lag grau und bedrückend über der Sicht zum Wald hinauf, wo sich unser Haus hinter die riesige Scheinzypresse duckte.
→Freiheit des Kindes →Der Jüngste →Schulhaus →Schulschock →Schulzimmer des Vaters
Intermezzo: Waschtag
Der ersehnteste Wochenbeginn fällt auf jeden vierten Montag, wenn Frau Ess aus Wikon im Lozäärner um sieben Uhr ihr Rad das Strässchen heraufschiebt. Eine schwere Person, auf allen Seiten gleichmässig rund und kräftig, ohne Taille. Die grosse Wäsche wird angerichtet.
Unter dem Wasserschaff und dem Siedekessel mit dem mächtigen Deckel saust das Feuer. Frau Ess, Mama und Vroni arbeiten einander in die Hände. Zerknüllte Bettlaken füllen als erste Ladung den Vorwaschtrog aus galvanisiertem Weissblech, der rechts vom Spültrog an einer Wand der Waschküche verankert ist. Er erhält aus einem festen Hahn kaltes und aus einem Schwenkarm jetzt zischend heisses Wasser aus dem Schaff. Frau Ess ergreift den Stössel oder Stungger, eine Blechglocke mit Löcherkranz, am armlangen Holzstiel, taucht ihn ein, drückt ihn mit ihrem ganzen Gewicht in die eingeweichte Wäsche und zieht ihn wieder heraus. Er schmatzt und gurgelt, denn im Innern der mit einem Sieb verschlossenen Glocke wird ein in Längsrichtung verschieblicher Blechkolben mit jedem Stoss in die Tiefe gepresst und mit jedem Zug nach aussen gesogen. Drum schlürft und speit der Stössel, sein Durst scheint nicht zu stillen. Frau Ess hat die schwarze Gummischürze vorgebunden, ihre mächtigen Arme arbeiten wie Pleuelstangen. Sie ist das Herz der Einrichtung aus Kessel, Trögen, Zentrifuge und der Badewanne, welche die Waschküche ausfüllt.
Ich laufe durch die offenstehende Tür auf die mit Granitplatten belegte Terrasse und zur Regenwassertonne an der Hausecke, die von einer Kreisscheibe aus Drahtgeflecht überdeckt und gesichert wird. Im Wasser spiegeln sich körperlos die Maschen und meine eingekrallten Finger; unter ihnen erscheint mein Gesicht, fern und luftig, die Haare fallen in die Stirn. Und in unendlicher Tiefe von traurigem Indigoblau, taucht ein Föhnfisch auf, treibt durch die gespiegelten Maschen, tritt in meinen Kopf ein, fährt aus der rechten Schläfe hervor, mir sind zwei Flügel gewachsen. Um das Bild zu bewahren, folge ich mit dem Kopf der Wolke nach, die linke Hand greift über die rechte. Auf einmal ist unter mir der Rand des Betonrohrs; ich richte mich auf, von weither kommend, mir ist angenehm schwindlig.
Dampf und Dunkel füllen die Waschküche, ein warmer dichter Körper. Es brodelt, glunscht und gutscht, zischt aus Ritzen und schäumt die Hände der Wäscherinnen ein. Damit ihre Schuhe nicht aufquellen, stehen sie auf Holzpritschen, die vom Genässt- und Gescheuertwerden weiss sind. Die erste Vorwäsche wird aus dem Trog gefischt und triefend in den Siedekessel geschletzt, mit dem Stössel einige Male tief in die Seifenlauge hinuntergetunkt und zugedeckelt. Die Wäsche ist «unterwegs».
Frau Ess ist eine harte Arbeiterin, die einsilbig und nur zur Sache redet, zur Wäsche also. Ihre Zufriedenheit nährt sich aus deren Sauberkeit. Je fleckenloser, vom Vorwaschen über den Hauptwaschgang bis zum Nachspülen und Zentrifugieren, die Wäsche wird, desto besserer Dinge ist Frau Ess. Doch im Hinblick auf den brachialen Reinigungsvorgang liebt sie die schmutzige Wäsche. Frau Ess zeigt mir, wie beglückend eine Arbeit sein kann, wenn das Produkt nach zwei Stunden an der Leine in der Sonne blendet. Am Abend weiss und spürt Frau Ess, was sie gearbeitet hat. Sie blickt zurück auf Laken, Kissenbezüge, Unterhosen, Hemden und Socken, sieht sie im Frühlingswindchen leicht und kühl flattern, dreht sich auf die Seite und schläft mit einem schnarchenden Seufzer ein. Denn schnarchen tut sie, sonst hätte sie keinen Schnurrbart. Auch einen Mann hat sie, einen kleinen schwitzenden Wicht, den sie irgendwo in ihrem mächtigen Busen mit sich trägt.
Ich versuche nun, mich in der Waschküche nützlich zu machen, reiche den Stössel hierhin und das Waschbrett, weil Frau Ess die Taschentücher vornehmen will, dorthin. Das gewellte Blech schlurrt unter den auf- und abfahrenden Händen von Frau Ess. Ich stehe da und sehe zu; eine der Frauen nimmt mich sanft am Hinterkopf und führt mich einige Schritt beiseite. Ich ziehe mich zwischen die Badewanne und die Wäschezentrifuge zurück. Eine unheimliche Maschine, innen ausgekleidet mit einem Lochzylinder aus Chromstahl, der bis an den Grund gnadenlos sauber blitzt. Wer die Hand hineinhält, sagt die Mutter, dem wird sie abgerissen. Doch noch steht die Zentrifuge still und leer. So halte ich eine Weile den Arm hinein und trotze der Angst, die Maschine könnte sich, meinen Vorwitz zu bestrafen, von selbst zu drehen beginnen. Dann trete ich unter die offene Tür in den abziehenden Dampf.
Einer der ersten schönen Frühlingsmontage; die Wäscheleinen sind bereits quer über das Rasenparterre gespannt. Ich laufe die paar Treppenstufen hinunter und rüttle an einer der Tragstangen aus Leichtmetall. Vroni hat sie fest und sicher ins versenkte Eisenrohr gesteckt; der kleine Deckel, der verhindert, dass das Rohr sich mit Schlamm füllt, ist am Scharnier hochgeklappt. Über mir hängt die Wäscheleinenhaspel schief und unzufrieden und streckt die hölzernen, gegeneinander versetzten und drehbaren Aussengriffe in die Luft. Ich gehe über