und Brandbomben 150 2000-Kilo-Bomben mit sich. Der Angriff dauerte 40 Minuten. Nach 20 Minuten erfolgte eine ausserordentlich heftige Explosion, die riesige Flammen in die Luft warf und die Strassen der Stadt hell erleuchtete. Ein zweites Flammenmeer breitete sich im Zentrum der Stadt aus. Grössere und kleinere Brände wurden in allen Teilen von Essen und seiner näheren Umgebung beobachtet. (…) An diesem Angriff waren u. a. auch polnische Staffeln beteiligt.
Schlagen
Sind die Männer im Aktivdienst, ist die Geburtenrate hoch. Durch alle Strassen der Stadt schieben Mütter ihre Kinderwagen, lassen diese vor den Läden stehen, und bald beginnen die Babies zu schreien. Mir zerrt das Gewimmer an den Nerven. Nicht dass ich die Kleinen beruhigen möchte, o nein: Plötzlich zerreisst etwas in mir, ich kann das Geschrei keine Sekunde länger aushalten, und wie ein Schauder überläuft mich die Lust, auf die Säuglinge einzuschlagen, bis sie still sind. Dann erwache ich, und ein Grauen, die Angst vor dem Mörder in mir, packt mich.
Jahre später stosse ich auf den Leibspruch des Schlächters von Mauthausen: «Der ist kein Mann,/der nicht schlagen kann./Drum folg dem Gebot (?):/Schlag tot, schlag tot!» In uns wartet ein Ungeheuer auf seine Stunde. Sie schlägt, wenn körperliches Leiden andrer uns ausgeliefert ist.
→Aas →Ameisen – Todesspiel →Erste Heimlichkeit
Zofinger Tagblatt, 26. Januar 1946
[Zeugenaussage am Nürnberger Prozess]
Das Schreckenslager von Mauthausen
Der Zeuge Maurice Lampe, der gegenwärtige Generalsekretär der Föderation politischer Gefangener, schilderte (…), wie 47 amerikanische und englische Offiziere im August 1944 ermordet wurden: Die gefangenen Offiziere wurden gezwungen, in einem Steinbruch mit schweren Steinblöcken auf den Schultern eine grob aus dem Fels gehauene Treppe von 180 hohen, unebenen Stufen emporzusteigen. Man befahl ihnen, den Todesmarsch barfuss anzutreten und zu «laufen», nicht zu «gehen». Oben angelangt, mussten sie ihre Last abwerfen, um so rasch wie möglich die Stufen wieder hinabzurennen. Am oberen Ende der Treppe standen Gestapobeamte und wälzten die schweren Steine auf die treppabwärts laufenden Gefangenen. Die Überlebenden wurden unten aufs neue beladen, und zwar mit noch schwereren Steinen, worauf sich das «Spiel» wiederholte, bis es keine Überlebenden mehr gab. Wer mit zerquetschten Armen oder Beinen zusammenbrach, blieb liegen, und die Steinblöcke rollten weiter auf ihn herab, bis auch der letzte kein Lebenszeichen mehr von sich gab.
Ameisen – Todesspiel
Der Tod ist unanständig, man muss ihn verheimlichen, obwohl er von oben nach unten ausgeteilt wird und alle dies wissen. Zuoberst sitzt Gott, der stirbt nie, weil er Menschen, Tiere, Pflanzen tötet; die Grossen töten und fressen die Kleinen, diese die Winzlinge. Je kleiner die Lebewesen, desto zahlreicher, desto weniger zählend die Tode. Niemand fragt nach dem Lebensfünkchen der Blattlaus. Wenn die Menschen einander umbringen, explodieren Granaten und Bomben und brennen die Städte, im Frieden bimmeln die Glocken; stirbt eine Katze, stecken nur wir Kinder ein Astkreuz ins Gras. Müssen Ameisen dran glauben, schrillt kein Pieps von den offenen, glattgesäuberten Heerstrassen, die, von Erdbollwerk gesäumt, viele Meter weit durchs Rasengeviert der Gartenterrasse laufen.
Ich bin gross, und sie können sich gegen mich nicht wehren. Meine Eltern zertreten bei einem einzigen Rundgang im Garten mehr Ameisen, als ich, neben einer Ameisenstrasse kauernd, töte, aber meine Schuld ist grösser. Es muss verschiedene Tode geben. Der Tod, den ich austeile, schreit lautlos zum Himmel, schwärzt mich dort an, der Tod unterm Schuhabsatz der Mutter verklagt sie nicht. Sie weiss nichts davon. Und wer trägt die Schuld am Tod der Ameise im Krater des Ameisenbären? Fritzi und ich schubsen mit einem Strohhalm Ameisen hinunter. Der Ameisenbär trifft sie mit seinem Staubstrahl, saugt sie in seinen Trichter, und am nächsten Morgen liegen leere Chitinhüllen am Trichterrand. Warum sind wir schlecht, wenn doch Gott den Ameisenbären und die Ameise, den Tod und unsere Lust daran geschaffen hat?
In einer Schublade von Vaters mehrstöckigem Eichenholzpult liegt die Lupe. Wenn ich sie ins Sonnenlicht halte, bündeln sich im Brennpunkt die Strahlen zu einem Glutspund, der schmerzhaft in die Augen sticht und eigentlich die Sonne ist, die Stecknadelkopfsonne. Damit lässt sich alles Trockene entzünden, Blätter, Rindenstücke, die dürren Holzschwämme, mit denen ich mein Dampfdreirad beheize. Auf das braunschwarze oder rote Chitin der Ameisen wirkt der Brennpunkt augenblicklich und entsetzlich. Streicht er über ein Tier, krümmt es sich zusammen und versucht zu entfliehen. Doch bereits ist es am Verschmoren, knisternd in einem blauen, räss stinkenden Räuchlein. Ich richte mich auf und gehe weiter, in aller Öffentlichkeit Blumen bewundernd.
(Muss/will ein Kind den Tod kennenlernen? Ich vermute, ich habe dieses Spiel um Lust und Tod, Grausamkeit und Wehrlosigkeit in Stunden grössten Verlassenseins getrieben, die es in jeder Kindheit gibt. Auch springt darin ein Funke der Feuerstürme des Weltkriegs.)
→Freiheit des Kindes →Erste Heimlichkeit →Kind und Öffentlichkeit →Tödlein
Langweil
Was soll ich spielen? Die Mutter ist im Obergeschoss am Aufräumen. Nach Vorschlägen, die ich vor dem Spielzeugschrank bereits verworfen habe, sagt sie: Willst du nicht unser Haus zeichnen, den Garten und dich selbst mittendrin? Ich bin unschlüssig, denn was beim Zeichnen herauskommt, entspricht nicht entfernt dem, was ich sehe. Nein, ich will nicht zeichnen. – Möchtest du das Buch vom Mond oder das Alpenblumenmärchen von Kreidolf anschauen? – Ich möchte lesen lernen, Mama, die Geschichten weiss ich auswendig. – Das lernst du in der Schule immer noch früh genug. – Aber ich will jetzt lesen lernen. Ich möchte alle Bücher lesen. Warum lehrst du mich nicht lesen? – Du musst in der Schule noch was zu lernen haben. Weisst du was? Du könntest mir im Garten die Karotten ausziehen, das ist eine wunderbare Arbeit, und die grösste gehört dann dir. Einen Moment sehe ich die riesige zweibeinige Karotte vor mir, die ich im vorigen Herbst ausgezogen habe; aber sie war hohl, und schon bricht die Empörung ob solcher Zumutung durch: Ich will keine Karotten ausziehen. Die Mutter seufzt: Warum gehst du nicht zum Sandhaufen und baust dir eine Stadt mit den schönen farbigen Förmchen? – Es kommt aber kein Wasser mehr aus der Röhre; ohne Wasser istʼs langweilig, auch sindʼs keine richtigen Häuser, nur Sandkuchen. – Dann mach einen Spaziergang zum Weiher hinauf; aber versprich mir, dass du nicht auf den Steg hinausläufst. Ich überlege: Mhm, ja. – Gut; doch ohne Kappe und Windjacke lass ich dich nicht weg, es nebelt, bald ist Winter. Ich trage einen wegwartenblauen Pullover aus Noppenwolle mit drei gehäkelten weissen Kugelknöpfen. Nein, ich will keine Windjacke. Die Mutter hat ein Federbett aufgeschüttelt; nun dreht sie sich um und schaut mir wortlos in die Augen: Dann gehst du ins Esszimmer und wartest, sagt sie leise, verlässt den Raum, ohne sich nach mir umzudrehen, und betritt das Schlafzimmer, wo mein Bruder und ich hausen und er sein kleines Arbeitspult stehen hat.
Ich laufe ihr nach; auf der Schwelle, als ob ein Verbot mich zurückhielte, bleibe ich stehen und lehne mich gegen den Türrahmen. Sie stellt die Stühle mitten ins Zimmer, legt erst die Kissen auf die Sitze, dann die Daunendecken über die Lehnen. Sie zieht die Wolldecken herunter, tritt an ein Fenster, schüttelt sie aus und wirft sie über die Federbetten. Nun greift sie nach den Laken. Ich möchte reklamieren und bringe kein Wort über die Lippen. Plötzlich ist mir, das Dach sei weggeblasen, wir schwebten beide draussen im grauen Herbstwind. Der Raum verkommt zur Fläche, die Hantierungen der Mutter zerfallen in wirre Bruchstücke, ich denke das Wort «Mutter», und die zwei Silben brechen auseinander, mu, ter, bedeuten nichts mehr,