Es reichen notorisches Schuleschwänzen, schwere Beschädigung von Schul- und Schülereigentum, so von Schulbänken, Unterrichtsmaterial oder Fahrrädern, und Kleindiebstahl.
Von der funktional unklar definierten Osttür geht eine diffuse Versuchung aus. Doch die einzige Gelegenheit, da dieser gleichsam zum Orakelmund des Schulhauses avancierte (weil die vom Lehrkörper Verdammten einschlürfende) Osteingang sperrangelweit offensteht, ist der Kinderfesttag im Juli in der Schlechtwettervariante, wenn nach dem Gefecht gegen die Freischärler die Kadetten in dem von Säulen getragenen Atrium demobilisiert werden. Die schwitzenden, triefnassen Kindersoldaten und die im Diskant geschrienen Befehle der Kinderoffiziere brechen ein und entheiligen kurzfristig den dämmernden Raum des Atriums. Dann nistet sich die beinah gegenstandslose Versuchung für ein weiteres Jahr im unscheinbaren Ostloch des Schulpalasts ein.
→Klavier und Saurier: Frank Bertschinger →Schulzimmer des Vaters →Turnplatz
Schulschock
Die Katastrophe, der Bruch, die Erkenntnis, dass ich sogar von der Mutter verschachert werde – unter Vorwänden, deren Refrain lautet: Es wird dir guttun, es geschieht zu deinem Besten.
Ich finde mich neben der Mutter in einem Schulzimmer; den Wänden entlang Stühle, darauf Kinder und Mütter. Jemand ruft die Knirpse bei Vor- und Nachnamen. Knaben und Mädchen treten vor und werden in eine der Zimmerecken gewiesen. Selbst dann noch hoffe ich, mein Name fehle auf der Liste, ja, ich bin beinahe sicher, dass zuletzt ich und die Mutter als einzige an der Wand sitzen werden und die Lehrerin uns mit der Bemerkung entlassen wird: Entschuldigen Sie, ein Irrtum; Ihr Bub muss nicht zur Schule.
Aber ich, um den herum das Bärlein, Murmeln, Holz und Blechtiere, ein Elefant, ein Haus und ein Garten schützend versammelt sind, der weiss, wo Afrika ein Horn und einen Stirnbuckel hat, der auf einer Burg residiert und vor dem Einschlafen unter der Bettdecke eine Fabrik surren lässt, ich bin wie alle, stehe bereits in einer Ecke unter einem Haufen Kinder und blicke mit zusammengepressten Lippen durch einen Tränenschleier zur Mutter hin.
Nach ungefähr einer Stunde ist der Spuk vorüber, und wir werden entlassen bis morgen, da wir allein anzutreten haben. Mir bleibt noch ein halber Tag Freiheit, dann geht das Licht aus. An diesem Nachmittag und Abend läuft die Sanduhr der Freiheit aus und mir schneidet zum ersten Mal die Verzweiflung durchs Gemüt, die man Galgenfrist nennt, obwohl es nur um die Einschulung geht. Es dauert Wochen, bis ich nicht mehr auf dem ganzen Schulweg weine und mir vor der Schulzimmertür die letzten Tränen abwische.
→Diminutivverlust →Erinnerungsschwur →Gerechtigkeit
Löwentraum
Zehnuhrpause; ich sitze auf einer Sandsteinstufe zwischen den Säulen des Treppenaufgangs in den Nordflügel. Im Ehrenhof spielen meine Kameraden und andre Primarschüler Fangis. Da springt aus dem schweren Schatten der Kastanien an der Ringstrasse ein Löwe ins Sonnenlicht und galoppiert die Schulhausauffahrt hoch. Er kümmert sich nicht um die Kinder, die ihn gar nicht zu sehen scheinen. In Sätzen nähert er sich der Freitreppe, auf der ich allein sitze. Vor Entsetzen fast lahm, erklimme ich im Zeitlupentempo die niedrigen Stufen, drücke die Klinke und versuche, die Tür zu öffnen – tonnenschwer, kaum zu bewegen. Der Kraft der Todesangst gelingt es, sie einen Spalt weit aufzustemmen. Den roten Rachen des Löwen im Nacken, schlüpfe ich in Sicherheit.
Zofinger Tagblatt, 28. Februar 1945
Schwere Neutralitätsverletzungen durch Amerikaner. Sechs Bomber gelandet, zwei abgeschossen (einer bei Olten-Trimbach, der zweite bei Adligenswil); Absturz eines Bombers im Engadin.
Am Dienstag den 27. Februar wurde die Schweiz zwischen 9.48 und 16.40 Uhr (…) von Gruppen fremder Flugzeuge, teils amerikanischer, teils nicht festgestellter Nationalitäten überflogen. (…) Ein Augenzeuge aus dem Wiggertal berichtet: Zahlreiche Leser des «Tagblatt» waren am Dienstagnachmittag Zeugen eines gigantischen Luftkampfes direkt über unserem Luftraum. Mit mächtigem Motorengedröhn nahte ein viermotoriger Bomber, den vier Schweizer Jagdflieger, die bloss wie winzige weisse Punkte sich ausnahmen neben der Riesenmaschine, verfolgten. Bald hörte man ihr Maschinengewehrfeuer, (…) und auf einmal stiess eine mächtige Flamme aus der fremden Maschine, der eine Rauchfahne folgte. Immer wieder kreiste der Riesenvogel über Born und Aare, immer tiefer sank er, und jeden Augenblick musste man erwarten, dass er krachend abstürze. (…) Beobachter in Safenwil. (…) Schon durch die ersten Schüsse wurde die rechte Flügelhälfte des Bombers schwer mitgenommen und begann Rauch hinter sich herzuziehen. Ungefähr über dem Engelberg zog der Bomber einen Kreis und begann in engen Spiralen und mit gewaltigem Geheul abzusinken, immer noch verfolgt von unsern Jägern. (…) Bomberabsturz am Hauenstein. (…) Piloten fand man keine; sie müssen im Fallschirm abgesprungen sein und die Maschine der automatischen Steuerung überlassen haben.
Lesen
Meine Lieblingslektüre als Analphabet war eine Prachtausgabe in dunkelrotem Pressleinen von Goethes «Reineke Fuchs» mit den Radierungen von Kaulbach. Der Maler hatte den Tieren ihre Torheiten und Leidenschaften und Reineke seine hinterhältige Bosheit so ausdrucksstark in die Ohren, Schnauzen, Augen, Körperhaltungen, ja in den Sitz der Klamotten eingeschrieben, dass ich mir mühelos meinen eigenen Vers drauf machte.
Ich sass am Klappult im Studierzimmer des Vaters, und die Reden und Gegenreden tönten mir laut durch den Kopf: beschränkte Aufgeblasenheit von König Löwe, schmeichelnde Eitelkeit von Frau Königin, Gebrüll des täppischen Bären in der Baumfalle, Bettelgreinen des Löwenprinzen mit Krönchen auf dem Nachttopf, eingebildetes Werweissen des nichtsnutzigen Ärztekonsiliums Eule, Eber und Fuchs am Krankenlager des Königs, heuchlerische Kopfstimme des Büssers Reineke – und bei erster Gelegenheit fauchender Angriff, kaltblütiger Mord. Mein Text sass so sicher, dass ich ihn mir, sobald ich das grossformatige Buch wieder hervorzog, recht der Reihe nach vorsagen konnte. Ich hielt es wie das Schulmeisterlein Maria Wutz zu Auenthal, das sich die Kosten für den Leipziger Messekatalog vom Mund abspart, um die Werke mit ansprechenden Titeln, so Schillers «Räuber» und Kants «Kritik der reinen Vernunft», dann selbst zu verfassen.
Etliche Jahre später habe ich bei der ersten Lektüre von Goethes Dichtung eine herbe Enttäuschung erlebt: Ich wusste nichts von seiner Geschichte, er kein Wort von der meinigen.
Die Eltern waren der Meinung, ich müsse in der Schule lesen lernen, und haben es mir trotz meiner Bitten nicht beigebracht. Es mich selbst zu lehren, fehlte mir die Kombinationsgabe; hab ich mit sechs doch immerhin meinen Vornamen schreiben können.
Schuleintritt, und bald kann ich lesen. Zum Geburtstag hat mir jemand «Globi im Wunderland» geschenkt – nicht zur Freude der Eltern, die meinen Geschmack bereits bedroht sehen. Ich nehme das Buch vor, links die gereimten Strophen, rechts die Zeichnungen. Erst bringe ich einige Seiten im Tag hinter mich, bald schon die Hälfte, da ich das Buch dank der banalen Eleganz der Reime bald auswendig weiss; Erinnerung und Phantasie ergänzen komplizierte Wörter, denn meine Ungeduld will sich nicht aufhalten lassen. Eines Tages lese ich «Globi» in einem Zuge durch, melde den Rekord der Mutter und lege das Buch weg, um es nie mehr in die Hand zu nehmen.
Die nächsten Lektüren sind Grimms Märchen und Gustav Schwabs «Sagen des klassischen Altertums». Die Bände sind in Fraktur gesetzt; erfragen muss ich einzig die verschlungene G-Initiale im Märchenbuch.