Hannah Fissenebert

Das Märchen im Drama


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häufig nicht nur märchenimmanenter Mechanismen, sondern legt diese zugleich frei. Die spielerische Entlarvung der Erzählstrukturen lässt die bereits gegebene überspitzte Darstellung in eine Rekapitulation übergehen, sodass statt der eigentlichen Märchenhandlung die Märchenform zum Thema wird. Dessen geordnete Weltdarstellung kann durch die Reflexion der erzählerischen Illusionsmechanismen eine eigenständige Bedeutungsebene hinzugewinnen. Genau in diesem Sinne werden die formalen Möglichkeiten selbstreferentieller Theatertexte provoziert. Indem Illusionsmechanismen als solche kenntlich gemacht werden, verliert die Handlung zugunsten einer fokussierten Reflexion der Form an Gewicht. Dabei entsteht ein Vexierspiel mit den interagierenden Bedeutungsebenen. Im Vordergrund steht nicht mehr die Handlung des Märchens, sondern das Verwirrspiel mit der Wirklichkeit konstituierenden Kraft des Erzählens.1 Hier kommt es zu einem spielerischen Umgang mit märchenhaften Strukturen, wie es auch in Nietzsches Zitat anklingt.

      Häufig wird in Märchendramen für Erwachsene ein inszeniertes Spiel im Spiel eingesetzt. Dabei werden Analogien zwischen der märchenhaften Handlung bzw. ihren übernatürlichen Elementen und dem Theaterspiel als Illusionskunst gezogen. Das Drama wird dann als Ausdruck und Form des Märchens gewählt, sodass die Verwandtschaft beider zur Disposition steht. Trotz der oder gerade durch die Entzauberung der Illusionsstrategien, die unsere Wahrnehmung lenken, bleiben diese als eigentümliche Ebene meist intakt. Wie es scheint, bieten sich Märchendramen in besonderer Weise dazu an, die in der Reflexion angelegte Selbstbezüglichkeit und das konfliktreiche Spiel divergenter Erzählebenen zu inszenieren.

      3.) Befragung des identitätsstiftenden Potentials des Märchens

      Das Märchen ist der Inbegriff einer vermeintlichen Eindeutigkeit von individueller und kollektiver Identität, klaren Rollenbildern und einer geordneten, überschaubaren Welt. Es enthält daher vielfältige Möglichkeiten, seine Konstruktionen aufzubrechen. Die Erwartungshaltungen, die an das Märchen aufgrund seiner kulturellen Position herangetragen werden, können in einer spielerischen Reflexion zum Auslöser subversiver Märchenadaptationen werden. So trägt das Märchendrama zu einem gesellschaftlichen Diskurs bei, indem es die stereotypen Märchenkonstruktionen bemerkenswert oft als Ausdruck wiederkehrender (Wunsch-)Vorstellungen zeigt.

      In der skizzierten Relevanz des Märchens für Fragen gesellschaftlicher Identität liegt zugleich die Gefahr, funktionalisiert zu werden. Eben diese ambivalente Inanspruchnahme bleibt so problematisch wie reizvoll. Denn gerade dadurch vermag das Drama, die gleichsam stereotype Vereinnahmung des Märchenstoffes zu entlarven. So zeichnet sich in vielen Märchenstücken für Erwachsene nun genau eine derartige Gegenbesetzung ab: Beispielsweise werden die charakteristischen Züge etablierter Geschlechterrollen separiert und neu ins Verhältnis gesetzt, um einerseits an der formalen Anordnung des Märchens festzuhalten, aber andererseits seiner vermeintlichen Intention unerwartete Facetten hinzuzufügen. Aus der Bestätigung von Klischees wird nun eine kritische Kommentierung, die jenseits bloßer Distanzierung oder Affirmation liegt. Die märchenhafte Disambiguierung spielt hier gerade ihrer eigenen Dekonstruktion in die Hände.

      Grundsätzlich wird im Märchendrama auf ein kulturelles Erbe zurückgegriffen, dessen Einfluss sich bis in die Gegenwart in der anhaltenden Faszination für Märchen und Märchenbearbeitungen dokumentiert.1 Gerade in der letzten Dekade kam es zu einer auffälligen Hinwendung der Künste zum Märchen – besonders in Kinofilmen und Serien.2 Sechs der fünfundzwanzig Märchentexte, die hier besprochen werden, sind nach 2000 entstanden; dies mag teils auch darauf zurückzuführen sein, dass 2012 das zweihundertjährige Jubiläum der Kinder- und Hausmärchen von 1812 stattfand. Auch in der Dramatik zeigt sich wieder ein verstärktes Interesse an Märchenstoffen, was die Relevanz, die Märchen auch für aktuelle Diskurse annehmen können, verdeutlicht. Mit dieser Studie möchte ich das Potential des Märchens im Drama untersuchen und durch die Analyse der deutschsprachigen Werke eine sich daran anschließende wissenschaftliche Diskussion fördern.

       Vorgehen und Hypothese

      In dieser Arbeit werden erstmals deutschsprachige Märchendramen für Erwachsene sowohl chronologisch betrachtet als auch systematisch analysiert. Hierzu überprüfe ich, inwiefern sich Märchenadaptationen in typologisierende Unterkategorien einteilen lassen, um die vorherrschenden Tendenzen der Märchenbearbeitung einzuordnen. So können auch direkte Bezüge der Märchenstücke untereinander, die bisher weitgehend unbeachtet geblieben sind, erkannt werden. Im Vordergrund der Studie stehen stets die Texte aus dem vorzustellenden Korpus an Märchenstücken; dies dient der Konzentration auf den Gegenstand. Eine selektive Beschäftigung mit weiterführender Sekundärliteratur soll in dieser Arbeit dennoch dabei helfen, die spezifischen Merkmale und den Umfang des Genres zu klären und diese an den historisch weitverzweigten Werken zu exemplifizieren.

      Über das Erstellen einer derartigen Übersicht hinaus wird vor allem von Interesse sein, welche dramatischen Möglichkeiten der Gattung Märchen innewohnen. Wissenschaftlich sind die generischen Spezifika der Märchendramen für Erwachsene bislang kaum analysiert worden. Genau auf diese Leerstelle möchte ich mit meiner Studie reagieren. Durch diese Auseinandersetzung kann ein bemerkenswertes Desiderat innerhalb der jüngeren Literatur- und Theaterwissenschaften geschlossen werden. Dabei stellt sich die Frage nach dem Potential des Märchendramas für Erwachsene als künstlerisch eigenständige Form im Blick auf einen gesellschaftlich relevanten Diskurs.

      Anhand der konkreten Märchendramen werde ich überprüfen, inwiefern sich die überspitzte, eindimensionale Darstellung im Märchen für eine dramatische Übersetzung eignet bzw. sich nicht geradezu für eine kritische Auseinandersetzung im Drama anbietet. Dabei scheint es, als könnte die dramatische Adaptation des Märchens dessen gezielt reduzierten Erzählstil aufzeigen, theatral vergrößern und so zu einer differenzierten Wahrnehmung der Gattung führen. In diesem Sinn ist von einer produktiven Wechselwirkung von Märchen und Drama auszugehen.

      Um die markanten Schnittstellen zwischen Drama und Märchen zu verorten, werde ich bisherige Ergebnisse der Dramenanalyse mit denen der Märchenforschung verknüpfen. Hierzu untersuche ich die dem Märchen eigene Schematisierung der narrativen Anordnung sowie dessen Typisierung von Sprache und Figurenführung.1 Märchendramen, so die zu verifizierende Annahme, stellen eine Transformation der Eigenarten des Märchens im Theatertext dar. Die grundlegende Hypothese lautet dabei, dass sich Märchen durch ihre gattungsbedingte Architektonik samt gezielter Vereinfachung in ganz besonderer Weise für eine fruchtbare Rezeption im Drama eignen. Ich werde unterschiedliche, sich jedoch ergänzende Ansätze verfolgen, um diese These zu stützen.

      Welche Dynamiken bei einer offensiven Verbindung von märchenspezifischen und dramatischen Erzählweisen evoziert werden, möchte ich mit folgenden Schwerpunkten der Analyse darlegen: Durch die Steigerung des märchenhaft Überzeichneten kommt es in vielen Stücken zu einer satirischen Ausrichtung. Ein wesentliches Merkmal vieler Märchendramen ist der satirisch-ironische Zugriff, der sich nicht gegen die Märchenvorlage richtet, sondern gerade mit ihr entwickelt wird. Um die Stücke erstmalig vorzustellen, bietet sich eine Analyse ihrer satirischen Dimension an; in der Untersuchung ihrer humorvollen Kritik lässt sich der Skopus der Stücke wesentlich entfalten.

      Neben der satirischen Dimension werde ich vor allem die intertextuelle und selbstreferentielle Ausrichtung der Märchendramen betrachten. So lassen sich die Werke der Dramatikerinnen und Dramatiker zu ihrem Umgang mit dem grundsätzlich intertextuellen Charakter der Märchenadaptationen befragen. Anhand der vorliegenden Märchendramen für Erwachsene lege ich dar, welche Strategien gewählt werden, um die geregelte Märchenabstraktion und deren Wirkungsmechanismen freizulegen. So gehe ich davon aus, dass der intertextuelle Zugriff auf die Märchen zu einer Reflexion der Märchenform und deren Transformation im Drama führen kann. Daher untersuche ich anschließend den selbstreferentiellen Charakter vieler Märchendramen, der sich durch die Befragung der Märchen- und Theaterform zeigt.

      Auffälligerweise kommt es in dem Korpus jedoch nicht zu einer Auseinandersetzung mit den Wechselwirkungen von Mündlichem und Schriftlichem. Ebenso gehen die deutschsprachigen Autorinnen und Autoren nach dem Erfolg der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm kaum auf die Bedeutung der Märchen als Nationalliteratur ein. Stattdessen behandeln sie in ihren Märchendramen vorrangig kollektive und individuelle