Hannah Fissenebert

Das Märchen im Drama


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und Menschlichen entgegengesetzt wird. Die divergente Inszenierung des Märchens als Form lässt sich besonders anschaulich an den selbstreferentiellen Bezügen nachvollziehen, wie ich zeigen werde.

      Um weitere Tendenzen des Märchendramas zu erfassen, bedarf es ebenso eines Blickes auf die gesellschaftskulturelle Bedeutung des Märchens. Ein Bruch mit der Erwartungshaltung gegenüber dem Märchen spielt oft mit dessen Status als ‚Volkskultur’. Märchen gelten spätestens seit der Romantik als Ausdruck eines Wunsches nach gesellschaftlicher Ordnung und kollektiver Identitätsstiftung – ein Spannungsfeld, das dem Märchendrama als Reibungsfläche dienen kann. So scheinen Darstellungen, die von Subversion und Ambivalenz bestimmt sind, bewährte Strategien des Märchendramas zu sein, um mit dieser Codierung des Märchens umzugehen. Zu beobachten ist dabei häufig eine Destruktion des Versuchs, narrative Sinnstiftung anhand des Märchens zu betreiben. Auf diese Facetten des Märchendramas gehe ich im fünften Kapitel ein.

      Abschließend werde ich die Erkenntnisse aus der Auseinandersetzung mit den deutschsprachigen Märchendramen in einer vergleichenden Analyse der französischen Märchenadaptation Ondine gegenüberstellen, um nicht zuletzt einen Ausblick auf mögliche Studien im internationalen Theaterraum zu eröffnen. Durch die Verhandlung der deutsch-französischen Beziehung um 1938 ist Giraudoux mit seiner politisierten Ondine-Bearbeitung von besonderem Interesse für diese Arbeit und zugleich geeignet, um die zuvor herausgearbeiteten Ergebnisse zu überprüfen.

      Ziel der vorliegenden Studie ist es, das Märchendrama als künstlerisch eigenständiges und bislang marginalisiertes Genre an seinen Schnittstellen zum Drama als Medium und zum Märchen als Gattung zu betrachten. Diese Absichten verbinden sich in dem grundlegenden Anliegen, durch die Analyse der Märchenstücke vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart vielschichtige Einblicke in deren generische Eigenarten zu geben. Hierzu werden vor allem die satirischen, intertextuellen und selbstreferentiellen Anspielungen befragt. So kann die vorliegende Untersuchung erstens einer fruchtbaren Reflexion der problematisierten Normalitätsvorstellungen im Märchendrama dienen. Zweitens wird die Dramatisierung der Schematisierungen und Stereotype des Märchens im Theatertext als Verhältnis von Gesellschaft und Individuum produktiv ausgewertet. Im Konnex der Märchen- und Dramenillusionen führt die Analyse drittens immer wieder zu der grundsätzlichen Frage nach der generativen Kraft der Imagination zurück. Im Genre des Märchendramas treten all diese Facetten für jedes ‚Lebensalter’ deutlich zutage – und es wäre, mit Nietzsche gesprochen, in der Tat ‚kurzsichtig’, ohne Märchen und Spiel durch’s Leben gehen zu wollen.

      I. Charakteristika von Märchendramen am Beispiel der Werke von Gozzi und Tieck

      Elfriede Jelineks Schneewittchen, die versucht, ihrer märchenhaften Rolle auf den Grund zu gehen, Dea Lohers Blaubart, der zur Projektionsfläche weiblicher Fantasien wird, Martin Mosebachs sinnlich-altkluge Rotkäppchen, die sich jeglicher Sozialisierung entziehen möchte1 – all diesen Dramenfiguren ist gemeinsam, dass ihre Geschichte mit dem hohen Wiedererkennungswert der populären Vorlage und den Effekten einer differenten Interpretation spielt. Bemerkenswert viele Märchendramen im Erwachsenentheater fußen auf einem Märchenverständnis, das keine unreflektierte Lesart der bekannten Vorlagen zulässt. Die Dramen bewegen sich dabei zwischen „Widerstand und Wiederholung, zwischen Subversion und Konvention“, wie es treffend zu Jelineks Prinzessinnendramen formuliert worden ist.2 Fraglich ist, ob diese Bearbeitungsstrategie als repräsentativ für deutschsprachige Märchendramen aus über 200 Jahren gelten darf.

      Bei der Betrachtung des vorliegenden Korpus von Märchendramen für Erwachsene fällt zunächst eine Neigung hin zur satirischen Bearbeitung auf, die ich einführend an Märchenstücken von Carlo Gozzi und Ludwig Tieck vorstellen möchte. Der satirische Zugriff ist jeweils inhaltlich und formal verschieden, aber oftmals eng verknüpft mit einem intertextuellen Charakter.3 Dies gründet zu großen Teilen auf dem Umstand, dass sowohl der intertextuelle Ansatz als auch die satirische Ausdrucksform tendenziell eine distanzierte Sichtweise auf ihren Bezugspunkt generieren.4 Selbstverständlich liegt per se ein intertextueller Zugriff zugrunde, wenn sich ein Drama auf eine Märchenvorlage bezieht.

      Darüber hinaus werden in Märchendramen auffällig oft Anspielungen auf andere Prätexte5 und Kontexte eingeführt, sodass durchaus von einer ausgeprägt intertextuellen Komponente gesprochen werden kann: „Märchendramen verknüpfen drei referentielle Ebenen, ausgehend von den Bezügen zu den vor ihnen liegenden Texten und Diskursen einerseits, zum anderen ihre Ausrichtung auf die eigene Rezeption, und schließlich die Selbstthematisierung als Literatur aus Literatur, als Metatext“6, so schreibt Ruth Petzoldt treffend.

      Zu unterscheiden ist demnach zwischen Intertextualität als Dialog bestimmter Texte und als Referenz auf ein System bzw. auf Texttypen und Gattungen.7 Zudem ist eine Neigung hin zur Selbstreflexivität auszumachen, die sich in überdurchschnittlich vielen Märchentexten auffinden lässt. Inwiefern sich Formen der Selbstreflexion aus der betont intertextuellen Bearbeitung und einer satirisch-distanzierten Perspektive ergeben, werde ich in den folgenden Kapiteln erarbeiten. Dabei untersuche ich einerseits, ob und wie die Verfremdung der Märchenvorlagen produktive Brüche der Erwartungen, die das Märchen als Form weckt, zu provozieren vermag. Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass auch durch das Märchen selbst eine gattungsbedingte Distanzierung zur Handlung auszumachen ist, denn es gilt die märchentypische Vereinbarung mit den Adressaten, dass dieses nicht wahr ist. Die Rezipienten haben folglich eine größere Distanz zum Geschehen, wenn das Märchen, zum Beispiel durch die stilisierten Eingangs- und Schlussformeln, als solches markiert wird.8

      Um die oben genannten generischen Charakteristika der Märchenadaptationen im Rahmen einer poetologischen Einordnung zu erfassen, werde ich eine aspektorientierte Sichtung der vorliegenden Märchendramen vornehmen. Möchte man sich an einer Poetologie des Märchendramas versuchen, bietet sich zunächst ein Blick auf die Anfänge europäischer Märchendramatik an, um mögliche Tendenzen der Bearbeitung im deutschsprachigen Märchendrama besser kontextualisieren zu können. Diese wurden bisher unzulänglich erforscht.

      Margarete Kober schlägt den Bogen in Das deutsche Märchendrama (1925) vor allem zu William Shakespeare, um in seinen Stücken einen entscheidenden Impuls für deutschsprachige Märchenadaptationen zu vermuten. Insbesondere dessen Theaterstücke Ein Sommernachtstraum (1595/96) und Der Sturm (1611) weisen märchenhafte Elemente auf, jedoch hat Shakespeare nicht primär bekannte Märchen adaptatiert, sondern vielmehr eigens verfasste märchenhafte Elemente verwendet oder diese nur sporadisch von anderen übernommen.9 Seine Werke werden daher in dieser Arbeit, in der direkte Adaptationen fokussiert werden sollen, vernachlässigt. So stehen Märchendramen, bei denen trotz aller Reinterpretation die märchenhafte Struktur und Vorlage noch erhalten bleiben, im Vordergrund.

      Einführend möchte ich daher hier die Märchendramen der Autoren Gozzi und Tieck untersuchen, in deren Werken das Märchen entscheidenden Einfluss auf die Figurenkonzeption und Handlungsdramaturgie ausübt. Durch die Analyse dieser frühen Bearbeitungen versuche ich herauszuarbeiten, ob die Eigenarten der Märchengattung produktiv auf das Drama übertragen werden können. Daran schließt sich die Frage an, ob es zu einer Weiterentwicklung der Gattungsspezifika durch die Adaptationsverfahren kommt.

      Signifikant sind die Fiabe teatrali (1761-65) des italienischen Dramatikers Gozzi, in denen die Masken der Commedia dell’arte10 offensiv mit Märchenvorlagen verbunden werden, sodass die intertextuellen Bezüge deutlich hervortreten.11 Auf diese werde ich zu Beginn näher eingehen, um anschließend einen Blick auf Tiecks Märchenadaptationen zu werfen, die sich (wenn auch mit starken Einschränkungen) auf Gozzis Dramen beziehen. Tiecks Märchenbearbeitungen sind insofern von Relevanz, als dass sie die Tradition des modernen Märchendramas in Deutschland begründen. Tieck, so soll gezeigt werden, entwickelt gerade den Aspekt der intertextuell-satirischen Märchenbearbeitung weiter und schafft vielfältige selbstreferentielle Anspielungen, die spätere Märchendramen beeinflusst haben.

      Im Folgenden werde ich der Vermutung, dass es eine derartig spezifische Tradition des Märchendramas geben könnte, anhand der frühen Bearbeitungen Tiecks und Gozzis nachgehen. Dies wird auch dienlich sein, um die Bearbeitungen späterer intertextueller Märchenadaptationen, die wiederum Tiecks Dramen und deren selbstreferentiellen und satirischen Anlagen