Hannah Fissenebert

Das Märchen im Drama


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noch zu beobachten ist, nutzt Tieck das Märchen vielmehr, um zeitgenössische Diskurse als überholt und borniert zu entlarven. Indem gerade die Zuschauerfiguren, die das Märchen als kindisch und unseriös bezeichnen, von Tieck als ignorante und stupide Charaktere dargestellt werden, wird die Kritik am Märchen negiert. Der durchaus positive Stellenwert des Märchens wird bei Tieck folglich indirekt durch die Herabsetzung der fiktiven Gegner des Märchens markiert.

      Hierzu generiert Tieck ein Schauspiel im Schauspiel, indem er eine Aufführungssituation konstruiert, in der die Figuren als Zuschauer und Schauspieler (bzw. als die von ihnen gespielten Märchenfiguren) auftreten und als solche einer fiktiven Theateraufführung des Gestiefelten Katers beiwohnen, die immer wieder unterbrochen wird.9 So kommt es zu einer Zerteilung des Geschehens in eine intra- und eine metadiegetische Ebene, wenn das Drama durch das Spiel im Spiel in zwei Ebenen unterteilt wird:10 Seine Figuren sind sowohl Märchenfiguren als auch Darsteller. Als Schauspieler bleiben sie dabei allerdings so künstlich wie die vorherigen Figuren oder um es mit Ernst Nef zu formulieren: „[Ein] Darsteller, der […] beim Aus-der-Rolle-Fallen hinter der Rolle zum Vorschein kommt, ist ein künstlicher Darsteller, die Tatsache, daß er nicht mit den wirklichen Zuschauern ins Gespräch kommen kann, zeigt, daß er selbst als ‚Darsteller’ in einem fiktiven Horizont gefangen bleibt.“11

      Zunächst aber beginnt der Gestiefelte Kater vergleichbar simpel mit einem Prolog der (fiktiven) Zuschauer, in dem die Erwartungshaltung des Publikums an das Stück bereits satirisch thematisiert wird. So diskutieren die Zuschauer vor Beginn der Vorstellung, von welcher Art das Schauspiel sein könnte:

      FISCHER Kennen Sie das Stück schon?

      MÜLLER Nicht im mindesten. – Einen wunderlichen Titel führt es: Der gestiefelte Kater. – Ich hoffe doch nimmermehr, daß man die Kinderpossen wird aufs Theater bringen.

      SCHLOSSER Ist es denn vielleicht eine Oper?

      FISCHER Nichts weniger, auf dem Komödienzettel steht: ein Kindermärchen.

      SCHLOSSER Ein Kindermärchen? Aber ums Himmels Willen, sind wir denn Kinder, daß man uns solche Stücke aufführen will? Es wird doch wohl nun und nimmermehr ein ordentlicher Kater auf die Bühne kommen?

      […]

      MÜLLER So ist wohl ein ordentliches Familiengemälde, und nur ein Spaß, gleichsam ein einladender Scherz mit dem Kater, nur eine Veranlassung, wenn ich so sagen darf, oder ein bizarrer Titel, Zuschauer anzulocken.

      […]

      SCHLOSSER […]

      Ein Revolutionsstück, so viel ich begreife, mit abscheulichen Fürsten und Ministern, und dann ein höchst mystischer Mann, der sich mit einer geheimen Gesellschaft tief, tief unten in einem Keller versammelt, wo er als Präsident etwa verlarvt geht, damit ihn der gemeine Haufe für einen Kater hält. Nun da kriegen wir auf jeden Fall tiefsinnige und religiöse Philosophie und Freimaurerei.

      […]

      FISCHER Sie haben gewiß die richtige Einsicht, denn sonst würde ja der Geschmack abscheulich vor den Kopf gestoßen. Ich muss wenigstens gestehn, daß ich nie an Hexen oder Gespenster habe glauben können, viel weniger an den gestiefelten Kater.

      […]

      MÜLLER Aber wie kann man denn solches Zeug spielen?

      LEUTNER Der Dichter meint, zur Abwechselung, –

      FISCHER Eine schöne Abwechselung! Warum nicht auch den Blaubart, und Rotkäppchen oder Däumchen? Ei! der vortrefflichen Sujets fürs Drama!12

      Hier lassen sich bereits eine explizite Markierung der Märchenvorlage und intertextuelle Anspielungen auf Tiecks andere Stücke ablesen.13 Pfisters Anmerkung, „dass eine Beziehung zwischen Texten umso intensiver intertextuell ist, je mehr der eine Text den anderen thematisiert, indem er seine Eigenart […] ‚bloßlegt’“14, trifft in Tiecks Figurenrede gleich in zweifacher Hinsicht zu: So wird im Gestiefelten Kater nicht nur das Märchen und seine vermeintliche Naivität thematisiert, sondern auch die bereits erwartete Reaktion des Rezipienten aufgegriffen und karikiert.

      Nachdem die affektierte Anspruchshaltung der Zuschauer, die sich über das ihrer Ansicht nach kindischen Märchen mokieren, als naiv, konservativ und selbstgefällig entlarvt wird, beginnt die Märchenaufführung auf der Bühne. Zunächst verläuft die Märchenhandlung parallel zu der Kommentatoren-Ebene der Zuschauer, welche auf das Ende der Szenen sowie zwei Zwischenakte beschränkt ist. Diese enthält zumeist abfällige und empörte Ausrufe über die dilettantische Märchenhandlung.15

      Schließlich aber brechen die Schauspieler aus ihren Rollen aus und kommentieren das Gebaren der Zuschauer. So diskutiert der König aus dem Märchen mit einem ausländischen Prinzen offen, dass sie unwahrscheinlicher Weise in einer Sprache miteinander reden können und mokiert sich über das Publikum;16 zudem unterbricht der Schauspieler des Hanswursts (welcher dem Possenreißer aus der Commedia dell’arte ähnlich ist) seine Darstellung und wendet sich an das Publikum, als die Aufführung immer unübersichtlicher wird und zu scheitern droht:

      HANSWURST […] jetzt aber, verstehn Sie mich, jetzt rede ich ja zu Ihnen als bloßer Schauspieler zu den Zuschauern, nicht als Hanswurst, sondern als Mensch, zu einem Publikum, das nicht in der Illusion begriffen ist, sondern sich außerhalb derselben befindet, kühl, vernünftig, bei sich, vom Wahnsinn der Kunst unberührt. Kapieren Sie mich? Können Sie mir folgen? Distinguieren Sie?17

      Es kommt demnach verstärkt zur desillusionierenden Aufdeckung der Bühnenwirklichkeit, die allerdings aus Rezipientensicht gleichermaßen fiktiv ist. Durch den inszenierten Blick hinter den Vorhang wird ein perspektivisches Spiel mit den Wirklichkeitsebenen betrieben, in dem Raum und Zeit relativiert werden.18 Dabei sorgt paradoxerweise das fingierte Publikum, welches sich ein gelungenes Illusionstheater wünscht, mit seinen Zwischenrufen dafür, dass eben dieses endgültig misslingt.19 Tiecks Märchenkomödie scheint sich über jene Zuschauer zu echauffieren, die sich zu schade für ein Märchen sind.

      Im Verlauf des Stückes zeichnet sich weiterhin ab, dass die Zuschauer nach einer ungebrochenen Märchendarbietung verlangen und darüber klagen, dass diese von Seiten der Theaterschaffenden immer unterbrochen wird.20 So beschwert sich ein Zuschauer: „Unmöglich kann ich da in eine vernünftige Illusion hineinkommen.“21 Tiecks kritische Offenlegung der Erwartungen erfolgt somit in mehreren Schritten: Zunächst lassen die Zuschauer verlauten, dass Märchen nur für Kinder geeignet seien, im Anschluss wird ihre hierzu konträre Forderung nach einer unreflektierten Märchenillusion bloßgestellt. Beide Ansichten werden somit als fraglich markiert, ohne dass Tieck im Umkehrschluss das Märchen als für Kinder ungeeignet darstellen würde.

      Das scheinbar naive Märchen eignet sich hier besonders gut als Objekt des Anstoßes, um die kindische Erwartungshaltung der Zuschauer zu demontieren. Nicht das Märchen wird von Tieck als anspruchslos oder überholt dargestellt, sondern das Theaterpublikum seiner Zeit, das sich in seiner Empörung über die Stückvorlage als rückständig erweist. Die Ironie dieses Umkehrschlusses fußt primär auf dem allgemein verbreiteten Ruf des Märchens als trivialer Unterhaltungsform und gewinnt seine satirische Schärfe eben dadurch, dass es gerade mit dieser vermeintlich naiven Vorlage gelingt, die Stupidität einer Gesellschaft vorzuführen.

      Im Verlauf seines Stückes lässt Tieck die lächerlich wirkenden Forderungen seiner Zuschauerfiguren mithilfe des Märchens ins Leere laufen. Die von den Zuschauern eingeforderte Trennung der beiden Ebenen Märchenschauspiel und Schauspielhandwerk bleibt bei ihm konsequenterweise unerfüllt. Stattdessen wird eine spielerische Buffonerie betrieben, indem die Figuren des Stückes dazu neigen, aus der Darstellung auszusteigen, sie zu reflektieren und wieder in sie zurückzukehren.22 Schließlich tritt gar der Dichter des Gestiefelten Katers selbst auf und bittet erfolglos um Verständnis für sein Stück:

      DICHTER […], lassen Sie sich aus Mitleid mein armes Stück gefallen, ein Schelm gibts besser, als ers hat; es ist auch bald zu Ende. – Ich bin so verwirrt und erschrocken, daß ich Ihnen nicht anders zu sagen weiß.

      ALLE Wir wollen nichts hören, nichts wissen.23

      Gerade