Hannah Fissenebert

Das Märchen im Drama


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Unterhaltungswert, der sich aus dem Abgleich von Tiecks Bearbeitung mit konventionellen Erwartungen an die Dramatisierung eines Märchens wie Le Petit Chaperon rouge ergibt, entsteht demnach vor allem, wenn dem Rezipienten das Märchen sowie die anzitierten Theaterformen bekannt sind, so Petzoldt einsichtig: „Eine Irritation des Lesers, der sich in seinen Erwartungen an den Text getäuscht sieht, so daß diese in Form metatextueller Reflexion selbst thematisiert werden, ist besonders wirkungsvoll und provokativ, setzt aber wie bei allen intertextuellen Referenzen die Kenntnis des Architexts wie auch des Prätextes und seine Profilierung durch einen ‚Codewechsel’ voraus.“5

      Anders als im Gestiefelten Kater, wo im Fokus der Adaptation das Spiel im Spiel steht, und im Blaubart, wo die Ritterromantik für komische Brüche sorgt, ist Rothkäppchen weitgehend auf den Märchenstoff und die ironische Auseinandersetzung mit dem Trauerspiel ausgerichtet. Neben Formen der Albernheit trägt das Märchenstück jedoch auch durchaus ernsthafte Elemente in sich. So lassen sich kritisch-satirische Anspielungen auf die Französische Revolution ablesen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll.6 Von Interesse ist vielmehr, wie vor allem die Figurenzeichnung von Rotkäppchen und dem Wolf weniger satirisch als tragisch ausfällt.

      Dazu sollen die beiden Hauptfiguren exemplarisch näher vorgestellt werden, um in einem zweiten Schritt nachzuvollziehen, wie sich der freundlich gesinnte Spott ihnen gegenüber von Tiecks üblicher Kritik an gesellschaftlichen und künstlerischen Diskursen absetzt. Gerade in Rothkäppchen zeigt sich, so die Vermutung, dass sich Tieck nicht über das Märchen und sein Personal mokiert, sondern dass er mit dessen Hilfe zeitgenössische Konventionen hinterfragt. Rotkäppchen wird zunächst in der zweiten Szene als schlagfertige Siebenjährige7 eingeführt, die zwar altklug und kokett-sinnlich daherkommt, aber auch intelligent und von großer Unbefangenheit ist.8

      Sie entzieht sich beispielsweise geschickt der körperlichen Übergriffigkeit des Jägers, ignoriert aber auch die Warnungen vor dem Wolf, dem sie am Ende zum Opfer fällt. Rotkäppchen sieht sich schon vorher mehrfach dem Vorwurf des Hochmuts ausgesetzt. So zum Beispiel durch einen Kuckuck im Wald, dessen onomatopoetischer Name in der vierten Szene sprachlich aufgegriffen wird, indem er ihr hinterherruft: „Kuck, kuck, kuck um dich mehr!“9 und „Kuck, kuck den Hochmut!“10. Obgleich sie die tödliche Gefahr im Wald nicht erkennt, erscheint Tiecks Rotkäppchen in Bezug auf ihr Umfeld als ausgesprochen scharfsinnig. Spöttelnd kommentiert sie das Verhalten ihrer Mitmenschen und bringt deren Unzulänglichkeiten und Bösartigkeiten auf den Punkt:

      ROTKÄPPCHEN […]

      Er hätte keine andre Braut getroffen,

      Sie durfte auf keinen andern Bräutigam hoffen,

      Drum halten sie viel voneinander mit Recht,

      Und meinen nun jetzt sie wären nicht schlecht.11

      ROTKÄPPCHEN […]

      Der Vater war nicht gut aufgelegt,

      Ich lief schnell fort, weil er manchmal schlägt, […]12

      Tragisch wird Rotkäppchens Schicksal bei Tieck dadurch, dass hier ein junges Mädchen charakterisiert wird, das klug, eigenwillig und selbstbewusst ist. Nicht weil es dumm oder naiv, sondern weil es aufgeweckt ist, entzieht es sich den Zurechtweisungen der anderen und kommt daraufhin zu Tode. Hier setzt sich die Märchenadaptation von der Vorlage wirkungsvoll ab: Während das Märchen an sich nicht tragisch ist, gewinnt Tiecks Adaptation tragische Züge; dennoch bleibt Tiecks Adaptation dem Märchen insofern treu, als dass sie keine vollständig individuellen Charaktere zeigt. Die Figuren bleiben fragmentarisch und entwickeln sich nicht weiter.13

      Die kritischen Anspielungen auf fragwürdige Erziehungsmethoden lassen sich anhand der Darstellung des Wolfes noch genauer verfolgen. Dessen Schicksal ist bei Tieck mindestens ebenso tragisch wie das von Rotkäppchen, denn im Unterschied zu ihr hat sich der Wolf zunächst die größte Mühe gegeben, sich dem Menschen zu unterwerfen.14 Nachdem ihm dennoch nur mit Misstrauen und Aggression begegnet und seine Liebste, die Wölfin Elisa, brutal vertrieben wurde, muss der Wolf einsehen, dass ihm trotz aller Bemühungen und Qualen kein sozialer Aufstieg möglich ist. Er geht zum Gegenangriff über:

      WOLF […]

      Seitdem ist aber auch mein Plan,

      Unheil zu stiften, so viel ich nur kann;

      Seitdem tut mir nichts gut,

      Als nur der Anblick von Blut.

      Ich will alles Glück ruinieren,

      Dem Bräutigam seine Braut massakrieren,

      Die Kinder von den Eltern trennen,

      […]15

      Trotz dieser eher tragischen Töne sorgt Tieck dafür, dass die „verulkende Kontrafaktur“16 auch hier nicht zu seriös wird: Der Wolf spricht pathetisch im lächerlich anmutenden Versmaß, während Rotkäppchen saloppe und ‚falsch’ klingende Paarreime zugewiesen sind. Spätestens wenn das Mädchen die berühmtesten Sätze des Märchens mit dem Wolf tauscht, gehen Tragödie und Komödie eine Symbiose miteinander ein:

      ROTKÄPPCHEN Es wollten zu Hause die beiden Alten,

      Daß ich die Nacht bei dir bleiben sollte.

      WOLF Das war es, was ich selber wollte. […]

      ROTKÄPPCHEN […] Ei Herr Je! Was hast du für ’nen großen Mund!

      WOLF Desto besser er dich fressen kunnt!17

      So sind selbst die tragisch konnotierten Figuren nicht vor freundlichem Spott gefeit, auch wenn sich die Kritik vor allem gegen die aufgeklärten Erziehungstraktate richtet. Manfred Frank konstatiert folgerichtig, „dass Tieck vor allem der flach optimistischen, spießig verständigen Aufklärungs-Pädagogik, die die Angst für etwas a priori Irrationales hält und die wilde Natur verharmlost, einen lachenden Denkzettel zu verpassen gedenkt, der freilich auch über das Ideal des edlen, etwas sanskulottisch in der Wolle gefärbten Wilden (im Wolf inkarniert) das Lachen nicht zurückhalten kann“18.

      Oder wie Tieck es eine Figur im Phantasus über Rothkäppchen resümieren lässt: „Es schien mir, daß die Parodie der Tragödie hier mit der Tragödie selbst zusammen fallen könne.“19 Die tragikomischen Züge des Wolfes und Rotkäppchens sind sich auch insofern ähnlich, als dass beide gerade durch ihre Verweigerung dem Schicksal unterliegen, dem sie entfliehen wollten: Rotkäppchen wird Opfer einer gewalttätigen und ungerechten Strafe, der Wolf am Ende des Stückes von einem Menschen vernichtet. Tieck schafft eine allegorische Kritik der Dialektik der Aufklärung, indem er sie als Tragödie inszeniert. Diese Tragödie unterläuft er zugleich mit einer generischen Subversion durch komödiantisch-lächerliche Darstellungen; in seiner launigen Märchenbearbeitung dramatisiert er auf diese Weise ein postrevolutionäres Einhergehen von scheinbarer ‚Liberalität’ und ängstlicher Intoleranz.20

      Wie im Falle des Gestiefelten Katers und des Blaubarts wird mitnichten eine Märchensatire im Sinne einer kritischen Märchenbetrachtung betrieben, vielmehr richtet sich der Spott mithilfe der Märchengattung gegen zeitgenössische Erziehungsdiskurse, systemreferentiell gegen eine poetisierte Legendendramatik sowie explizit gegen die Regelpoesie der Tragödie.21 Bei Tiecks Rothkäppchen handelt es sich um eine im poetologischen Sinn selbstreferentielle und darüber hinaus um eine vielfältige intertextuelle Adaptation, die ihre Sympathie für die märchenhafte Vorlage durchweg aufrecht erhält.

      Ludwig Tieck: Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen (1811)

      Tiecks letztes Märchendrama basiert auf einem sehr ähnlichen Bearbeitungsverfahren wie die vorherigen; daher gehe ich hier nur überblickartig darauf ein, wie sich Gemeinsamkeiten und Abweichungen äußern. So geht Däumchen anders als in den anderen drei Adaptationen auf verschiedene literarische Vorlagen zurück.1 Ähnlich aber wie in Rothkäppchen deutet sich schon im Titel eine Persiflage auf eine religiös motivierte Poetik der Legendendramatik an.2 Die Parodie in Form eines dreiaktigen Märchendramas