Hannah Fissenebert

Das Märchen im Drama


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König Preußens fungiert.3 Weiterhin hat Tieck im Vergleich zu Perrault wieder Figuren hinzugefügt (zum Beispiel den Hofrat Semmelziege), unpersonifizierte Figuren individualisiert und Beziehungen unter ihnen neu erfunden.

      Generell lassen sich drei Handlungsebenen unterscheiden: So wird, wie im Paratext angekündigt, das Märchen nach Perrault erzählt – Däumchen stiehlt einem riesenhaften Oger seine Siebenmeilenstiefel, als er von seinen Eltern ausgesetzt wird und verhilft schließlich dem König durch die magischen Fähigkeiten der Stiefel zum Sieg. Weiterhin dienen Motive aus der Artus-Sage zur Persiflage der Regierung Friedrich Wilhelms III., da die Stückhandlung in dessen Kriegszeit versetzt wird. Die Okkupation durch Napoleon wird angedeutet und die Unfähigkeit des Königs von Preußen, der von einem zwergenhaften Däumchen gerettet werden muss, herausgestellt.4

      Neben diesen intertextuellen, ironischen Anspielungen auf Prätexte, Gattungen und historisches Inventar finden sich drittens gesellschaftssatirische Momente. Gut nachzeichnen lässt sich diese an der Figur des Hofrats Semmelziege: Dessen eigentlich niedere Motivationen und die banalen Zänkereien mit seiner Ehefrau werden durch seinen unangemessen erscheinenden elaborierten Sprachgebrauch der Lächerlichkeit ausgesetzt. Gegenstand des Spotts in Tiecks selbstbezüglicher Literatursatire ist die Gräkomanie.5 Semmelziege, der sich in jambischen Trimetern, dem Versmaß der griechischen Tragödie ausdrückt, wird zu deren Vehikel:

      SEMMELZIEGE O Göttersöhne, Jugendfreunde, Weisheitsbrüder,

      Du, Hoher, mit dem Klang der süßen Lieder,

      Du, Großer, mit dem tiefen Spähersinn,

      Wißt und erfahrt, der Hofrat ist dahin,

      Ein Sklav, gefangen, schlimmer noch als tot,

      Bin ich dem Wüttrich dort nur Pierrot.

      ALFRED Ich verstehs nicht, explizier dich deutlicher.

      PERSIWEIN Du siehst aus wie vom Theater, und doch nahm dein Genie ehemals einen höhern Schwung.

      SEMMELZIEGE Hätt’ ich erfahren nie, was Schwung bedeutet!

      Wie schön auf sichrer ebner Erde wallen!

      Weh mir, ob diesem Streben nach der Höhe!

      ALFRED Also bist du kuriert und ein vernünftiger Mensch geworden?

      SEMMELZIEGE O Freund, dahin auf ewig sind die Tage,

      Als ich des Adlers Fittich mir gewünscht,

      Das Morgenrot zu rühren mit dem Scheitel,

      Erfüllung übervoll der Jugendtriebe

      Ward mir, die Liebe fand die Gegenliebe.

      ALFRED Das halte der Henker aus. Kerl, laß dich doch in verständliches Deutsch übersetzen.6

      Tiecks Märchenstück weist viele derartige Reminiszenzen auf ästhetische Diskurse um 1800 auf. Neben der besagten Kritik am Gräzisieren folgt weitere an der etwa von Schiller im Drama praktizierten Antikenrezeption oder der von Tieck mitbegründeten Begeisterung für das Mittelalter.7 Bei Däumchen handelt es sich demnach um eine vielschichtige und satirische Vermischung der Epochen Mittelalter, Klassizismus, Aufklärung und Romantik.8 Es findet sich eine Fülle an philosophischen, naturwissenschaftlichen, poetologischen, literatursatirischen und persiflierenden Formzitaten;9 zudem gibt es ungewöhnlich viele Nebenschauplätze, und auch die Einheit von Ort, Zeit und Raum wird außer Kraft gesetzt.

      Die märchenhaften Züge werden wiederum durch den Einbruch realistischer Perspektiven betont und gleichermaßen gebrochen, wenn zum Beispiel die fachlich-handwerkliche Überprüfung der wundersamen Siebenmeilen-Stiefel mit pseudo-historischer Ursprungsklärung vorgenommen wird.10 Trotz der mannigfaltigen Bedeutungsebenen und -brüche bleibt das Märchen wie in den anderen Märchendramen als primärer Bezug immer sichtbar.

      Im Vergleich zum Gestiefelten Kater, der mit Däumchen auf Märchenebene inhaltlich und durch die Anspielungen auf den preußischen König in politsatirischer Hinsicht Parallelen aufweist, fällt die theatersatirische Dimension weniger ins Gewicht. Stattdessen ist der Ton der Bearbeitung in Bezug auf die zeitgenössischen Anspielungen generell schärfer, wie auch Scherer bemerkt:

      Das Däumchen ist drastischer in der Erfassung von Elend, Armut, Not, zeitgeschichtlich konkreter kontextualisiert und hierbei auch expliziter in der Erwähnung von Kriegsgewalt, hinsichtlich der Formverulkung […] transparenter in der Satirisierung der Figuren, weniger transparent indes mit Blick auf die allegorische Begründung, skeptischer und resignativer insgesamt im Vergleich zur einst noch geglaubten Produktivität romantischer Poesie.11

      Demnach radikalisiert Tieck in diesem späten Werk seinen früh angelegten Umgang mit Märchen – er nutzt das Märchen mit seiner charakteristischen Veranlagung zur Überzeichnung bei gleichzeitiger formaler Eindeutigkeit als artifizielle Ausdrucksform. Auf diese Weise werden künstlerische und künstliche Konventionen als solche transparent gemacht. Indem Tieck neben der Form des Märchens auch die dramatische wählt, wirkt die transformierende Verbindung von märchenhafter und theatraler Illusion implizit. Auch ohne ein parabatisches Verfahren, wie es Tieck in seinen anderen Märchendramen noch einsetzt, wird hier die Künstlichkeit der Märchenform offengelegt und im satirischen Drama als Instrument der Kritik eingesetzt.

      I.3 Resümee

      Bei Tieck lässt sich eine (durch Gozzi bereits angelegte) satirische Behandlung des Märchens beobachten, die sich nicht gegen das Märchen als Gattung, sondern vielmehr gegen die geläufigen Erwartungen an ein Märchendrama richtet. So werden im parabatischen Spiel im Spiel in Tiecks Gestiefeltem Kater konventionelle Erwartungen, die das Märchen als Gattung weckt, explizit benannt und zugleich gebrochen, wenn sich die Satire nicht den Einwänden gegen die Märcheninszenierung anschließt, sondern sich stattdessen gegen die Kritiker derselben wendet.

      Weiterhin nutzen Gozzi und Tieck, wenn auch mit unterschiedlich ausgeprägten Fertigkeiten, die Märchengattung, um zeitgenössische Debatten und Personen zu verspotten; so scheint es, als würde die generische ‚Neigung’ des Märchens hin zu Stereotypen und zur Überspitzung eine gute Plattform für derartige Satiren bieten. Beispielsweise wird in Tiecks Däumchen die märchenimmanente Überspitzung genutzt, um künstliche Gattungskonventionen und Versmaße zu spiegeln und dem Spott preiszugeben. Dies ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal des Märchens, so bedient sich etwa Tieck auch anderer Vorlagen für seine Satiren. Dennoch ergibt sich aus dem trivialen Ruf, den das Märchen mitunter hat, eine besondere Pointe, wenn gerade dieses dazu genutzt wird, scheinbar elaborierte Diskurse wie im Gestiefelten Kater oder überholte Normen wie in Rothkäppchen spöttisch vorzuführen.

      Im Zuge der Reflexion von Märchen- und Theaterkonventionen und deren immanenten Illusionsmechanismen werden bei Gozzi, vor allem aber bei Tieck, neben dem Märchen als Hauptprätext zahlreiche weitere Bezüge hergestellt. Durch diese verschiedenen Handlungsebenen und Anspielungen auf reale Umstände und Zeitgenossen wie etwa im Däumchen wird das Märchen mehrfach gebrochen und somit auch als Form unberechenbar.1 Dieser bewusste und oftmals selbstreflektierte Bruch mit den jeweiligen Erwartungshaltungen lässt die Märchendramen im Kontext ihrer Zeit aktuell und auch aus heutiger Sicht relevant werden.

      Gerade die Leerstellen im Handlungsmovens des Märchens eignen sich besonders für kritische Interpretationen, die an aktuelle Debatten und Ereignisse anknüpfen oder die sich, wie bei Gozzi, mit anderen künstlerisch-künstlichen Spielformen wie den Stereotypen der Commedia dell’arte produktiv verbinden lassen. Dabei kommt es bei beiden Autoren zu einer Aneignung der reduzierten psychologischen Darstellung im Märchen. Dies lässt sich besonders an Tiecks Blaubart deutlich ablesen, wo die lakonische Figuren- und Ereignisdarstellung des Märchens als spezifische Eigenart übernommen, revidiert und so erneut eingelöst wird. Bemerkenswert ist dabei, dass die holzschnittartigen Stereotype des Märchens teils in einer derartig widersprüchlichen Weise psychologisch gefüllt werden. Daher lässt nicht von einer einheitlichen oder realistischen Figurenzeichnung sprechen. In der dramatischen Adaptation werden die Spezifika der Märchengattung betont und weiterentwickelt.

      Zudem