Hannah Fissenebert

Das Märchen im Drama


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beschäftigt. Daher stellt die Untersuchung des französischen Stückes den Abschluss und zugleich einen Ausblick auf weiterführende Überlegungen zu Märchendramen jenseits dieser Arbeit dar.

       Das Märchen als dramatische Adaptation

      Das Märchen tritt nicht allein als literarische Gattung auf, es wird in den unterschiedlichsten Medien wie Film, Tanz, Musik, bildenden Künsten und Werbung aufgegriffen und transformiert.1 Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht das Märchen als dramatisiertes Werk. Der Fokus der folgenden Auseinandersetzung richtet sich dabei allein auf die dramatische, das heißt textliche Bearbeitung des Märchens für das Theater und schließt bewusst keine Inszenierungsanalyse mit ein. Die literarische Gattung des Dramas ist primär für die Theaterbühne konzipiert und somit auf eine kollektive, plurimediale Rezeption hin angelegt.2 Hierbei unterscheide ich nicht maßgeblich zwischen Dramen und Lesedramen, wie sie etwa Robert Walser verfasst hat, da unter ihnen als medienspezifisch unterschiedenen Gattungsvarianten keine Differenzen festzumachen und diese dramengeschichtlich nicht haltbar sind.3

      Wenn das Märchen als Text eine dramatische Fassung erhält, folgt formal das Erstellen von Dialogen, seltener auch das von Monologfassungen. Als Resultat des Gattungswechsels kommt es im Allgemeinen zu einer Unterteilung von Haupt- und Nebentext, da neben der Figurenrede Szenenanweisungen eingeführt werden. Der Nebentext gibt Informationen zum Beispiel in Form von Titel, dramatis personae, Markierung von Akten, Szenen und Regieanweisungen preis.4

      Von einem klaren Medienwechsel lässt sich hier noch nicht sprechen, handelt es sich doch um eine binnenliterarische Adaptation. Laut dem Literaturwissenschaftler Holger Korthals sind Drama und Erzählung einander ähnliche „‚Proto-Gattungen’ der literarischen Geschehensdarstellung“5, die strukturell eng verwandt sind. Dies muss jedoch eingeschränkt werden, da Dramen anders als etwa epische Texte primär auf ihre Inszenierung angelegt werden und im Moment ihrer Realisation das Medium wechseln. Auch wenn im Rahmen dieser Untersuchung keine Inszenierungsanalysen vorgenommen werden, ist die intendierte Bühnenrealisierung stets mitzudenken.

      Grundsätzlich sieht sich eine Autorin bzw. ein Autor mit dramaturgischen Herausforderungen konfrontiert, wenn die vergleichsweise kurze Märchenform in ein abendfüllendes Drama übersetzt wird. Neben dieser temporalen Anpassung muss zudem mit dem Wegfall des Märchenerzählers umgegangen werden – etwa indem die Figuren selbst diese Funktion übernehmen. Durch die Konzentration der Analyse auf Märchendramen stellt sich generell die Frage nach der Eignung des Märchens für eine Adaptation im Drama.6

      Margarete Kober, die sich ausführlich mit Märchenadaptationen vor 1925 beschäftigt, steht einer Dramatisierung von Märchen grundsätzlich kritisch gegenüber, da in diesen ein besonders „schlichter Erzählton und ein klarer, schlanker Aufbau der Begebenheiten“7 vorliege. Eine gelungene Adaptation des Märchens im Drama erscheint für sie problematisch, da es diese Spezifika verlieren müsse, um übertragen werden zu können:

      An Stelle des ruhigen Flusses der Erzählung tritt ein An- und Abschwellen, an Stelle eines reinen Geschehens dramatische Spannung und Zuspitzung; hier muß der Dichter verweilen, dort überspringen, statt anzudeuten, muß er plastisch gestalten, statt Typen Individuen schaffen, statt einfacher Umrisse genaue Charakterisierung, Einzelschilderung, innere und äußere Motivierung geben. Der Mannigfaltigkeit des Geschehens muß Sättigung festen Untergrund verleihen, die Stimmung muß mit reicheren Mitteln erzeugt und mehr ausgeschöpft werden. Das deutsche Volksmärchen überlässt alles der mitschaffenden Phantasie des Zuhörers, das Märchendrama muß der horchenden und schauenden alles geben.8

      Kober setzt hier ein überaus eingeschränktes Verständnis voraus. Während ‚das Drama’ eine strenge Form mit einer inneren und anschaulichen Wahrheit fordere, handle es sich bei dem ‚deutschen’ Märchen um eine naive, „schlichte, treuherzige Erzählung“9, die ernst genommen werden müsse und nicht ironisch verstanden werden könne. Das Märchen ist ihrer Ansicht nach noch nie in seiner „Reinheit und Vollkommenheit“10 im Drama erschienen, da sich beide in ihrer Form zu sehr unterschieden.

      Während Kober voraussetzt, dass mit der Dramenadaptation des Märchens zwangsläufig eine Individualisierung und Psychologisierung der Figuren einhergehen müsse, nehme ich an, dass sich das Märchen gerade aufgrund seiner Schematisierung für eine Adaptation im Drama eignet. Im Korpus der relevanten Märchendramen lässt sich die Tendenz ausmachen, dass vor allem die Typisierung der Märchen übernommen und durch die Dramatisierung noch betont wird. Zumeist kommt es vermutlich nicht trotz der narrativ differenten Verfahren von Märchen und Drama, sondern vor allem wegen einer sich gegenseitig potenzierenden Wirkung zu einer Adaptation.

       Zu dieser Arbeit. Eine Übersicht

      Aus den Überlegungen zum Genre des Märchendramas für Erwachsene ergibt sich folgende Aufteilung der Arbeit: Im ersten Kapitel über die Tendenzen und Charakteristika von Märchendramen werde ich mich mit den Ursprüngen des europäischen Märchendramas auseinandersetzen. Anhand der märchenhaften Fiabe teatrali von Carlo Gozzi lässt sich die Verwandtschaft von Commedia dell’arte und Märchen nachweisen. Beiden ist nicht nur die Nähe zu archetypischen Themen und ähnlich reduzierten Erzählstrukturen, sondern auch eine Neigung zum ‚Volkstümlichen’ und zu drastischen Darstellungen gemein. Auffälligerweise gerät das Märchen in Verbindung mit Elementen der Commedia dell’arte oft zur Satire und stiftet eine Tradition, welche sich bis in die Gegenwart fortsetzt: Auch Märchendramen wie Der Kater oder Wie man das Spiel spielt (1964) von Tankred Dorst oder Das blaue Licht / Dienen (2017) von Rebekka Kricheldorf zeigen ausgeprägte satirische Züge. Zudem lässt sich eine traditionsgeschichtliche Beeinflussung der Märchensatiren Ludwig Tiecks durch Gozzis Märchendramen nachweisen; auf Tiecks Märchenadaptationen werde ich daher ausführlich im Anschluss eingehen. Besonders an Tiecks Stücken, die den Anfang deutschsprachiger Märchendramatik markieren, lassen sich generische Eigenarten des gesamten Korpus herausarbeiten.

      Im zweiten Kapitel werde ich die Disposition zur Satire im deutschsprachigen Märchendrama vorstellen. Mehr als zwei Drittel der Stücke aus diesem Korpus weisen satirische Züge auf. Aufbauend auf den Erkenntnissen aus dem ersten Kapitel über die Spezifika der Märchendramatik werde ich in viele der Theatertexte einführen. Durch die Frage, was der Gegenstand der jeweiligen Satire ist, lassen sich bereits in vielen Fällen wesentliche Züge der Dramen erfassen.

      Bemerkenswert ist, dass sich Ironie, Kritik und Spott nicht gegen die Märchenvorlage selbst, sondern vor allem gegen ästhetische und politische Strömungen richten. Daher werde ich untersuchen, inwiefern sich das Märchen in besonderer Weise als satirisches Medium anbietet. Dabei steht im Vordergrund der Auseinandersetzung, was genau die Nähe zum Satirischen im Märchendrama über seine generischen Eigenarten aussagt. So ist eine zentrale Frage, ob gerade dem Spiel mit etablierten Klischees die Möglichkeit innewohnt, diese mithilfe des Märchens – unter anderem mit dessen scheinbar starren Geschlechterrollen – als Projektionsflächen darzustellen.

      Der distanzierte Gestus, der durch den ironisch-satirischen Zugriff bereits in vielen Märchendramen gegeben ist, wird oftmals durch ein offensiv intertextuelles Verfahren verstärkt. Daher werde ich im dritten Kapitel die intertextuellen Strategien der Märchendramen analysieren. Während jedes Märchendrama, das sich auf ein bekanntes Märchen bezieht, offensichtlich intertextuelle Bezüge aufweist, liegt bei drei Märchenstücken ein besonderer Fall vor. Sowohl Tankred Dorsts Der Kater oder Wie man das Spiel spielt (1964) als auch Martin Mosebachs Rotkäppchen und der Wolf (1988) beziehen sich auf bereits bestehende Märchendramen von Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater (1797/1812) und Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens1 (1800/12). Elfriede Jelinek wiederum adaptatiert mit ihren Prinzessinnendramen (2000) die Märchenstücke von Robert Walser. Neben der Analyse der intertextuellen Bezüge zu den Märchenvorlagen im Allgemeinen werden diese Dramen gesondert vorgestellt.

      Anknüpfend an die Beobachtung, dass Märchendramen oftmals intertextuelle Elemente aufweisen, werde ich im vierten Kapitel auf ein weiteres Distanzierungsverfahren im Märchendrama eingehen. Oft wird das Märchen im Drama als Synonym theatraler Künstlichkeit eingesetzt. Die Märchenillusion dient dabei als Spiegelung der Theaterillusion und kann auf