Helga Kotthoff

Genderlinguistik


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situativen NeutralisierungNeutralisierung der Geschlechterdifferenz. Er rekurriert dabei auch auf Goffman (1977), der unterschiedliche Inszenierungsgrade von Gender seinerzeit schon im Blick hatte. Hirschauer (1994, 676) verweist auch auf die relative Signifikanz der Geschlechterunterscheidung im Vergleich zu anderen Klassifikationen wie Alter, Ethnizität oder Schicht. Dass bei allen Identitätsklassifikationen mit Kreuzungen und Kopplungen gerechnet werden muss, bestätigt die Interaktionsforschung schon seit langer Zeit (Günthner/Kotthoff 1991). Es gilt immer im Kontext zu rekonstruieren, welche Mitgliedschaftskategorien in welcher Kopplung zum Tragen kamen.

      Wir stimmen dem Befund zu, dass es Kontexte gibt, in denen Geschlecht kaum eine Rolle spielt, in den Hintergrund des Handelns tritt. Wir stimmen auch zu, dass dieses Absehen NeutralisierungsarbeitNeutralisierung verlangen kann, die als undoing gender fassbar wäre (etwa bei institutionellen Entgenderisierungsverfahren wie Bemühungen um gleiche Repräsentanz von Männern und Frauen in bestimmten Berufsgruppen). Dies setzt allerdings voraus, dass für den Phänomenbereich historisch eine Geschichte von großer Genderrelevanz aufgefallen ist. Nur vor einem solchen Hintergrund ist dann die Rückstufung so auffällig, dass das Konzept des „undoing“ greifen würde.

      Wenn man für die soziale Konstruktion von Gender eine Relevanzabstufung zwischen den Polen des ‚doing‘ und ‚undoing‘ versucht (Kotthoff 2002a, 2012a), begegnet man PraktikenKommunikative Aktivität und stilistischen Realisierungen derselben, die sozusagen hinter dem Rücken der Beteiligten mehr oder weniger Geschlechterrelevanz ergeben. Sie treten nur bei eklatanter Abweichung vom Erwartbaren ins Bewusstsein. Beim Sprechen sind es z.B. StimmeStimme und Prosodie, welche sowohl mit dem Körper verbunden sind als auch kulturell auf bestimmte Genderdifferenzen eingespielt werden, die normalerweise im Hintergrund der Interaktion bleiben (Kap. 3). In einigen Bereichen der Sportbekleidung ist die Genderisierung so heruntergefahren, dass beispielsweise bei Turn- oder Bergschuhen vieler Marken nur Größenunterschiede zählen. Da sonst im Schuhgeschäft eklatante Differenzierungen am Werk sind, die den Frauenschuh mit anderem Leder, Riemchen oder Absätzen bis hin zum Stiletto ausstatten und verzieren und den Männerschuh funktional und flach gestalten, kann im Sportschuhbereich beispielsweise von „undoing“ gesprochen werden.

      Gender tritt in einer Abstufung von Relevanz und SalienzSalienz auf. In die unauffällige Alltagsbekleidung ist Gender beispielsweise dahingehend eingeschrieben, dass Männer in der westlichen Welt keine Röcke und Kleider tragen, Frauen erstens mehr Schmuck und zweitens einen besonderen Schmuck tragen, derzeit auch betont enge Hosen, um nur ein paar Besonderheiten zu nennen, die über die Jahrzehnte nur leicht variieren (hier ein Satz aus einer Werbung: „Ladies, show your legs mit Skinny Jeans! Skinny Jeans betonen deine Beine und bringen deine Kurven toll zur Geltung […]“)1. In den letzten drei bis vier Jahren hat sich an Schulen und Hochschulen im deutschen Sprachraum der hautenge, sehr körperbetonte Hosentyp („leggings“) als der am meisten verbreitete Typ durchgesetzt. Damit setzen junge Frauen ihren Körper mit seiner Kontur relevant. Diese genderdifferenten Hosen gehören unbedingt zu den Phänomenen, die Gender als bemerkbare Identitätskomponente kommunizieren und auch körperliches Geschlecht, weil die Hosen beispielsweise Schenkel und Hinterteil betonen. Greift der Mann zu einer solchen Strumpfhose oder zur Perlenkette, würde dies zunächst als „crossing“ bemerkt (mehr dazu in Kap. 12). In der Soziolinguistik wird das „Hineinwandern“ in fremde sprachliche Territorien als crossing bezeichnet (Androutsopoulos 2001). Wenn deutsche Jugendliche plötzlich ethnolektal reden, greifen sie einen Stil auf, der zunächst unter den GastarbeiterInnen zu Hause war und deutschen Jugendlichen streng genommen nicht gehört. Ähnlich würden sich Männer mit einer sogenannten „Skinny Jeans“ oder Perlenkette um den Hals verhalten2. Wenn dies von anderen Männern aufgegriffen würde, könnten wir entweder von undoing gender rund um die Semiotik der Leggins oder Perlenkette sprechen. Undoing will mit seiner spezifischen Veränderung einer Zuordnung bemerkt werden. Oder wir rekonstruieren die bemerkbare StilisierungStilisierung (Selbst- und Fremd-S.) von Inter- oder TransgenderTransgender.

      Im flüchtigen Alltagshandeln ergibt sich die NeutralisierungNeutralisierung von Geschlecht aber auch unbemerkt, hintergründig, wenig „bemerkbar“ (wie EthnomethodologInnen sagen würden).

      2.2.10 Indexing genderindexing gender

      Das Konzept der IndexikalisierungIndexikalisierung/Indizierung von kulturellem Geschlecht fasst die graduelle Relevantsetzung der Phänomene besser, weil es von vorn herein auf ein Erkennen von Typisierungsgraden und -merkmalen innerhalb von Handlungsgemeinschaften setzt, deren Wissen man aus der Forschungsperspektive rekonstruieren kann (etwa so, wie Eckert 2000 es durchgeführt hat, siehe dazu Kap. 12 zur Soziolinguistik). Wenn etwa ein Mann einen Bart trägt, indiziert er durchaus Gender, bringt es aber nicht als zentrales Merkmal in den Vordergrund der Interaktion.

      Ein anderer Kritikpunkt am Modell des doing gender betrifft die subjektivistische Orientierung. Tut nur das Individuum Gender, nicht etwa Institutionen?

      Alle Institutionalisierungen (wie Herren- und Damenparfüms etc.) und die Massenmedien leisten die permanente Erinnerung der Welt an die von ihnen inszenierten binären Idealbilder von Mann und Fra, wozu auch die Omnipräsenz des erotisierten Blicks auf die Frau gehört. Massenmediale, aber auch andere institutionelle Einflüsse (Kirchen, Militär, Wirtschaft …) liegen jenseits des personalen Handelns der meisten Menschen. Sie verweisen auf die Geschichtlichkeit der normativen Konzeption, die West/Fenstermaker (2002, 540f.) im Blick haben, wenn sie schreiben,

      […] that the doing of gender, race and class consists of the management of conduct in relation to normative conceptions of appropriate attitudes and activities for particular sex category, race category and class category members.

      Wenn West und Fenstermaker „doing“ hier „in relation to normative conceptions“ setzen, kommen sie dem durchaus nahe, was wir mit Ochs (1992) als „indexing“ fassen. Sie vernachlässigen aber, dass Gender oder Klasse bereits in Institutionen so eingeschrieben sein kann, dass das Individuum nur wenig tun muss. In vielen institutionellen Bereichen finden sich z.B. in den dort vertretenen Berufen und Machtbereichen Indikationen von Gender.Es sei hier nur kurz angemerkt, dass auch doing class ein sehr problematisches Konzept ist. Gesellschaftliche Klassenverhältnisse sind primär ökonomisch basiert. Wie Ökonomie und Kommunikation zusammengehen, lässt sich im Rahmen dieses Buches nicht klären.

      Wenn man für die soziale Konstruktion von Gender eine Relevanzabstufung zwischen den Polen des „doing“ und „undoing“ versucht (Kotthoff 2002a; Günthner/Franz 2012), muss man Praktiken und stilistische Realisierungen derselben verorten, die hinter dem Rücken der Beteiligten und nur „nebenbei“ auch noch Geschlechterrelevanz ergeben. Sie sind als Einzelphänomene nicht salient und treten nur bei eklatanter Abweichung vom Erwartbaren ins Bewusstsein. Erst die Forschungsperspektive kann in den Verhaltens- und Handlungsweisen von Menschen Bezüge zu Gender aufdecken.

      Ochs nahm den Befund, dass es für viele sprachliche und kommunikative Verfahren wenig Exklusivität der Genderanzeige gibt (viele Namen sind exklusive Kennzeichnungsverfahren, auch beispielsweise morphologische Markierungen am Verb in slawischen und einigen anderen Sprachen, Kap. 6 und 8), zum Anlass, über nichtexklusive Verfahren der Geschlechtsanzeige nachzudenken. Die Verfahren verlangen die Interpretation der Beteiligten, welche innerhalb von Handlungsgemeinschaften gelingt. Aktivitäten und stilistische Realisierungen von Aktivitäten verweisen auf historisch entstandene soziale Typen, welche so tradiert oder variiert werden können.

      Indexikalität1 ist eine Beziehung des Verweisens (Charles Sanders Peirce nach Pape 1993). Das Pronomen ich verweist direkt auf den Sprecher/die Sprecherin, referiert auf ihn/sie (Indexikalität 1. Ordnung). Silverstein (1976) diskutiert auch nichtreferenzielle Indexikalität, wie sie z.B. durch bestimmte Intonationskonturen kommuniziert werden kann (Indexikalität 2. Ordnung). Die Intonationskontur geht z.B. eine assoziative Verbindung mit einem Gefühlsausdruck ein (Tonsprung nach oben kann auf Begeisterung hindeuten). Erst je nach Verbindung mit anderen Phänomenen (wie dem verwendeten Vokabular und der ablaufenden Handlung) konkretisiert sich aber die Beziehung als typisch für ein Gefühl oder jemanden, dem ein solcher Gefühlsausdruck zugeschrieben