zweite Teil vermittelt juristisches Grundlagenwissen über das Zivil- und das Strafverfahren.
Zur juristischen Kompetenz der Übersetzer und Dolmetscher
Das vorliegende Studienbuch hat sich nicht zum Ziel gesetzt, Juristen auszubilden. Vielmehr soll dem Leser ein Überblick über die Verfahren vor den Gerichten gegeben werden, um ihn hierdurch in die Lage zu versetzen, Sachzusammenhänge zu erkennen und sich im prozessualen Verfahren zu orientieren.
Weder wird eine Paragraphenkenntnis erwartet noch gar das Auswendiglernen einzelner Vorschriften angestrebt. Hierfür gibt es Gesetzessammlungen, aus denen bei Bedarf Gesetzesstexte abgerufen werden können. Inwieweit man eine Textausgabe der einzelnen Verfahrensvorschriften zur Hand hat, mag jedem selbst überlassen bleiben. Von Nachteil ist dies sicher nicht, insbesondere wenn man sich z.B. in einer Hauptverhandlung schnell orientieren möchte. Mittlerweile bietet auch das Internet vielfältige Möglichkeiten, zuverlässig auf die aktuellste Version eines Gesetzestextes zurückzugreifen.
Erlernt werden soll vielmehr Wissen, das für den Dolmetscher unentbehrlich ist, sowohl für die Vorbereitung eines Verfahrens als auch für dessen Begleitung: Die Kenntnis über den Gang eines Gerichtsprozesses, dessen Beteiligte und deren Rechte und Pflichten ermöglicht dem Dolmetscher, sich zu orientieren und sein Handeln vorausschauend zu planen. Das Wissen um Begrifflichkeiten und Fachtermini in einzelnen Verfahrensabschnitten erleichtert die Arbeit und gibt zudem Sicherheit vor unerwarteten Wendungen des Verfahrens.
Teil I Translationswissenschaftliche Grundlagen
1 Einleitung
1.1 Menschenrechte und Eignungsfeststellung der Gerichtsdolmetscher
Die Nürnberger Prozesse setzten die Maßstäbe1 für den modernen Dolmetscherberuf, insbesondere für das Dolmetschen an internationalen Gerichten und Gerichtshöfen. Diese Maßstäbe betrafen insbesondere die Eignungsfeststellung der Dolmetscher, die Vollständigkeit der Verdolmetschung sowie die Qualitätskontrolle.2 Viele Jahrzehnte später richten sich die internationalen Gerichtsbarkeiten weiterhin nach diesen drei Grundsätzen, während sich erst jetzt langsam ein Konsens über die Notwendigkeit der Qualifikation der juristischen Dolmetscher und Übersetzer bei Gerichten und Behörden abzeichnet, und zwar sowohl bei vielen der deutschen Bedarfsträger und Standesvertretungen als auch bei den relevanten Instanzen der Europäischen Union. Im Rahmen des vom Kommissar für Mehrsprachigkeit, Leonard Orban, im Jahre 2008 einberufenen „Reflection Forum“3 erarbeiteten Experten aus unterschiedlichen Disziplinen (Anwälte, Polizeibeamte, Dozenten der Translationswissenschaft, Vertreter des Berufsstandes) Empfehlungen, in denen ein entsprechendes Profil definiert und Lehrinhalte empfohlen werden.
1.2 Einsatzfelder der juristischen Dolmetscher und Übersetzer
Im Bewusstsein, dass es sich beim juristischen Dolmetschen und Übersetzen um eine verantwortungsvolle Aufgabe handelt, setzt sich der Gedanke durch, dass es bei Gericht und Behörde sowohl um die Rechtssicherheit als auch um Menschenrechte geht. Daher werden für einige Bereiche nur noch allgemein bestellte und beeidigte bzw. vereidigte Dolmetscher und Übersetzer eingesetzt. Diese werden sowohl von den Behörden (Polizei, Arbeitsämtern, Sozialbehörden, Standesämtern, Ausländerbehörden usw.), von den Gerichten und auch von der Staatsanwaltschaft, von Notaren als auch von Anwälten und Rechtsabteilungen größerer Unternehmen in Anspruch genommen.
1.3 Rechtsquellen
Grundrechte und Grundfreiheiten, die die Ausübung der Translationstätigkeit unmittelbar bestimmen, werden jeweils in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 19481 und in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 19502 eindeutig ausgesprochen.
Als juristische Folge der Unterzeichnung und Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention wurden diese Bestimmungen in das deutsche Recht integriert.3
Wie im Vorwort zu diesem Teil ausgeführt, wurden darüber hinaus neue EU-Richtlinien, insbesondere die Richtlinie 2010/64/EU, verabschiedet, die zu einer konkreteren Darstellung der Anforderungen an Dolmetscher und Übersetzer führen.
1.3.1 Grundgesetz
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland1 heißt es daher entsprechend:
Artikel 3
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(..)
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
1.3.2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)
§ 184 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) bestimmt, dass die deutsche Sprache Gerichtssprache der Bundesrepublik Deutschland ist. Im Einklang mit den Bestimmungen der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), Artikel 5, Absatz 2, und Artikel 6, Absatz 1 und 3 sieht § 185 GVG vor, dass ein Dolmetscher herangezogen werden muss, falls einer der Beteiligten der Gerichtssprache nicht mächtig ist.
Nach Umsetzung der Richtlinie 2010/64/EU wurde das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2. Juli 2013 verabschiedet und ist nun im §187 GVG verankert.1
1.4 Öffentliche Bestellung und Beeidigung bzw. Vereidigung
Je nach Bundesland kennt man die öffentliche Bestellung und allgemeine Beeidigung (Bayern, Hamburg) oder eine allgemeine Beeidigung ohne öffentliche Bestellung (Berlin, Niedersachsen und andere) und/oder Ermächtigung von Übersetzern (zum Beispiel Hessen).
Das Hamburger Gesetz über die öffentliche Bestellung und allgemeine Vereidigung von Dolmetschern und Übersetzern sowie die Verordnung über die Bestellung allgemein vereidigter Dolmetscher und Übersetzer vom September 1986 wurden 2005, 2007 bzw. 2015 novelliert1. In Deutschland besteht gemäß § 189 GVG neben der Möglichkeit der so genannten Ad-hoc-Vereidigung von Sprachkundigen, die der Richter kraft seiner Unabhängigkeit nach seinem Ermessen auswählt, der von dem öffentlich bestellten Dolmetscher allgemein geleistete Eid, auf den dieser sich vor jeder Gerichtsverhandlung beruft.
1.5 Berufsstand und Berufsethos
Anders als bei den internationalen Gerichtsbarkeiten, bei denen Konferenzdolmetscher tätig sind, die dem etablierten berufsethischen Kodex der Association Internationale des Interprètes de Conférence (AIIC)1 und den jeweiligen internen Ordnungen unterworfen sind, sind die Konturen des Berufsstands der Übersetzer und Dolmetscher für die innerstaatlichen Gerichtsbarkeiten noch nicht so klar. Daher bestehen fast gleichlautende Berufs- und Ehrenordnungen2 nebeneinander, die teils dem AIIC-Kodex, teils der Charte du Traducteur der Fédération Internationale des Traducteurs (FIT) entstammen und meistens keine konsequente Trennung zwischen Berufsethos und Guten Praktiken definieren. Anlässlich der Gründung des europäischen Verbandes der juristischen Dolmetscher und Übersetzer (EULITA) im Jahr 2011 wurde eine Berufs- und Ehrenordnung verabschiedet,3 die eine Synthese berufsethischer Grundsätze ihrer Mitgliedsorganisationen unter Berücksichtigung der entscheidenden juristischer Quellen für die Arbeit vor Gericht und im juristischen Feld darstellt.
Neben den allgemein proklamierten Verpflichtungen zur Kollegialität und zu fairen Praktiken den Auftraggebern gegenüber ergeben sich aus den oben angeführten Rechtsquellen unumgängliche Pflichten für den juristischen Dolmetscher und Übersetzer, die seine Dolmetschstrategie entscheidend prägen, um zur Gleichstellung aller Menschen vor dem Gesetz und zur Beachtung der Menschenwürde beizutragen. Dazu gehören:
1.5.1 Vollständigkeit und Treue der Übersetzung