Christiane Driesen

Gerichtsdolmetschen


Скачать книгу

grundsätzlich an. Im Falle mehrerer Adressaten werden diese abwechselnd und möglichst regelmäßig angeschaut. Ausschließlich eine einzige Person anzustarren ist dieser möglicherweise peinlich. Die Anderen fühlen sich ausgeschlossen und könnten negativ reagieren. Die gedolmetschte Mitteilung soll wie die Originalmitteilung vorgetragen werden. Das ist nur möglich, wenn der Dolmetscher den Translationsvorgang vor dem Sprechen abgeschlossen hat. Sobald der Sinn (Bedeutung) verarbeitet worden ist, ergeben sich die passenden „Worthülsen“ (Bezeichnung) beim Ansprechen der Adressaten wie von selbst.

      Den Blickkontakt zu halten ist auch höchst wichtig, um aufkommende Angriffe in Form von kritischen Bemerkungen rechtzeitig abzuwehren. Perplexität, Zweifel und Aggressivität zeigen sich auf den Gesichtern, und der Dolmetscher kann sich besser darauf einstellen, wenn er das Publikum nicht aus den Augen verliert.

      2.3.1.5 Sprechrhythmus und Pausen

      Der Sprechrhythmus wird vom Abstand zum Adressaten bestimmt. Je weiter ein Sprecher vom Publikum entfernt ist, desto langsamer und artikulierter sollte er sprechen. Die korrekte Atemtechnik reguliert die effiziente Projektion der Stimme. Schnell und dynamisch zu sprechen ist günstig, damit dem Redner zusammengehörende Begriffe (Kollokationen) spontaner einfallen. Bei einem schleppenden Rhythmus können dagegen Gedächtnislücken auftreten, und nachdem man aus dem Rhythmus geraten ist, ist es hoffnungslos, krampfhaft nach dem treffenden Wort zu suchen: Die Situation verschlimmert sich meistens. Das Publikum empfindet Unbehagen und bald auch Misstrauen.

      Genauso wichtig wie der Sprechrhythmus sind angemessene Pausen. In der mündlichen Kommunikation muss der Adressat die Mitteilung sofort verarbeiten, um sie zu verstehen; dazu sind Pausen unentbehrlich. Der Mut zur Pause seitens des Redners oder Dolmetschers vermittelt den Eindruck der Sicherheit und Souveränität.

      2.3.2 Visualisierendes Gedächtnis

      Für eine gelungene mündliche Kommunikation ist ein zuverlässiges Gedächtnis unverzichtbar. Konsekutivdolmetschen erfordert ein gutes Gedächtnis. Zwei Gedächtnisfunktionen sind beim Dolmetschen besonders wichtig: einerseits das Im-Blick-Behalten der Gliederung der Aussage und andererseits das Visualisieren der Aussage. Der Dolmetscher sollte das visuelle Gedächtnis besonders trainieren: Das Visualisieren ist besonders hilfreich, wenn dem Dolmetscher der gesuchte Begriff „auf der Zunge liegt“,1 aber nicht sofort einfällt.

      2.3.3 Souveränität durch Dolmetschetikette

      2.3.3.1 Zu verwendende Personalpronomen

      Der Dolmetscher spricht für die jeweils gedolmetschten Parteien in der ersten Person Singular, d.h. in der Ich-Form. Von sich spricht er daher in der dritten Person Singular, um jede Verwechslung auszuschließen. So merkwürdig es auch klingen mag, die Parteien sehen die Notwendigkeit dieser Konvention ein und gewöhnen sich meist sehr schnell daran.

      2.3.3.2 Rückfragen

      In jedem Kommunikationsvorgang ergeben sich Unklarheiten. Beim Dolmetschen gibt es drei Hauptursachen dafür:

       Die schlechte Akustik: Der Dolmetscher hat z.B. eine Zahl oder einen Eigennamen nicht gehört.

       Die scheinbare Unlogik einer Aussage: „Der Zeuge ist mein Bruder, gehört aber nicht zu meiner engen Verwandtschaft“ (Aussage eines Senegalesen).

       Die Informationslücke des Dolmetschers: Ein Sachverständiger erwähnt einzelne Teile eines Kühlaggregats im Detail, obwohl die Geschäftsstelle es versäumt hat, dem Dolmetscher das Gutachten rechtzeitig zur Vorbereitung zu schicken.

      In diesen Fällen ist eine zuverlässige Verdolmetschung kaum möglich. Daher muss der Dolmetscher souverän genug sein, um bei Unklarheiten so nachzufragen, dass seine Kompetenz nicht in Frage gestellt werden kann. Aus ethischen Gründen (Transparenz zur Gleichbehandlung der Parteien) müssen aber alle Gesprächspartner über die Notwendigkeit der Nachfrage informiert werden. Der Dolmetscher sagt daher: „Entschuldigen Sie bitte, der Dolmetscher hat eine Frage.“ oder „… muss hier nachfragen“. Die Frage muss knapp und möglichst geschlossen sein, damit der Gefragte nicht zum Ausschweifen ermuntert wird. Nach Beantwortung der Frage bedankt sich der Dolmetscher höflich und setzt die Verdolmetschung fort.

      2.3.3.3 Reaktion auf berechtigte und unberechtigte Kritik

      So bedauerlich es auch sein mag, Dolmetscher müssen als Dienstleister ihre Reaktion auf berechtigte und unberechtigte Kritik sorgfältig abwägen.

      Eine Kritik ist berechtigt, wenn sie inhaltlich richtig ist, wenn sie sachlich formuliert wird und von demjenigen ausgesprochen wird, der dazu berechtigt ist. Eine berechtigte Kritik ist mit einer angemessenen, nach Umfang des angerichteten Schadens dosierten Entschuldigung zu beantworten. Der Kritiker wird dem Dolmetscher eher verzeihen, wenn seine berechtigte Kritik ernst genommen wurde. Ausreden und die Schuld auf andere zu schieben sind unbedingt zu vermeiden. Sie verursachen nur Ärger.

      Ein einfaches Beispiel: Der Dolmetscher kommt mit einer halben Stunde Verspätung zum Termin. Der vorsitzende Richter weist ihn sachlich darauf hin: „Ihre Verspätung wird leider diese Verhandlung und alle Morgentermine verzögern“. Der Dolmetscher bittet mit einer sachlichen Erklärung (keine Ausrede) um Entschuldigung: „Es tut mir sehr leid, ich musste aber wegen eines plötzlich erkrankten Familienmitglieds auf den Arzt warten. Es war ein Notfall.“

      Eine Kritik ist dagegen unberechtigt, wenn sie unfair und inhaltlich unbegründet und/oder beleidigend formuliert ist:

      „Ich hatte es nicht so verstanden“, sagte ein Politiker, „es lag wohl an der Verdolmetschung“. 1

      Leider haben Dolmetscher – als Dienstleister – kaum eine Möglichkeit, solch unfaire Kritik abzuwehren. Sie müssen das Gesicht wahren und können sich lediglich damit trösten, dass intelligente Gesprächsteilnehmer den unfairen Angriff auch als solchen wahrnehmen.

      Eine Kritik ist auch unberechtigt, wenn sie inhaltlich falsch ist und/oder von einem Unbefugten ausgesprochen wird. Zum Beispiel erlaubte sich ein Verteidiger mit nur geringen Französischkenntnissen, einen Dolmetscher abrupt zu unterbrechen und die korrekte Übersetzung des Begriffs „voler“ mit dem deutschen „stehlen“ in Frage zu stellen. Er bestand auf der Verwendung des Begriffs „entwenden“, was im Französischen aber „dérober“ entsprechen würde. Vielleicht wollte dieser Verteidiger den Dolmetscher destabilisieren, um sich selbst aufzuwerten oder um seine Frustration über das Gericht abzureagieren. Vielleicht hoffte er aber auch, dadurch einen strategischen Vorteil für seine Verteidigung zu erkämpfen. Der Dolmetscher sollte in diesem Fall also zu sachfremden Zwecken instrumentalisiert werden, was er auf keinen Fall zulassen darf. Der Dolmetscher muss die unberechtigte Kritik abwehren, um vom Gericht weiterhin vollständig als Fachmann in Sachen Sprache und Kultur akzeptiert zu werden. Er darf dem Gericht gegenüber nicht an Glaubwürdigkeit verlieren.

      2.3.3.4 Mögliche Kritikabwehrstrategie für den Dolmetscher

      Der Kritiker war nicht befugt, den Dolmetscher mit seiner Kritik direkt zu unterbrechen. Er hätte sich zuerst an den Vorsitzenden wenden müssen. Um alle Kommunikationspartner geschickt auf diese Regelverletzung durch den Kritiker aufmerksam zu machen, sollte der Dolmetscher den vorsitzenden Richter demonstrativ darum bitten, zu diesem Vorwurf Stellung nehmen zu dürfen. Aus demselben Grund sollte der Dolmetscher seine Antwort auch nicht an den Kritiker richten, sondern an das Gericht: „Der Dolmetscher lehnt diesen Verbesserungsvorschlag als unrichtig ab und könnte es entsprechend belegen, falls das Gericht dieses wünschen würde.“

      2.3.4 Redegewandtheit

      Zweifellos ist diese Fertigkeit für die mündliche Kommunikation unentbehrlich. Dolmetscher müssen sehr schnell reagieren und ständig auf alternative Übersetzungslösungen kommen. Falls diese Virtuosität nicht angeboren ist, muss sie trainiert werden.

      2.3.5