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Literaturwissenschaften in der Krise


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des Faches einen Zuwachs erleben. In diesem Sinne entwirft Kimmich ein Programm für solche Fächer bzw. Studiengebiete, die auf die Arbeit des Urteilens und die Erläuterung des Urteils fokussiert sind. In dieser Grauzone des impliziten Wissens, der Ambiguität, der Diffusitätskompetenz – also in Bereichen des Denkens/Handelns, die für unsere heutige Gesellschaft in Zeiten multipler Krisen höchst relevant sind – liegt der eigentliche Kernkompetenzbereich der Geisteswissenschaften. Das Urteilen zu untersuchen ist wichtig, da, so Kimmich, »Literatur- und Kulturwissenschaften gerade das kompliziert machen, was auf den ersten Blick einfach erscheint. Sie brechen das Normale auf, ändern den Kontext und machen sichtbar, was sich im ›Normalen‹ verbirgt«.

      John K. Noyes etabliert im zweiten Kapitel ein konzeptuelles Dreieck aus den Eckpfeilern Philosophie, Naturwissenschaften bzw. Technologie und Literatur(wissenschaft). Da wo sich die Philosophie im Zuge ihrer zunehmend sichtbar werdenden Irrelevanz für die Welt der Technologie gänzlich von der Realität abgewandt hat, und wo die naturwissenschaftliche Fetischisierung des Fortschritts als ihre eigene Bankrotterklärung fungiert, kommt der Literatur(wissenschaft) eine wichtige Rolle zu: und zwar die des Möglichmachens einer Rückkehr zu einer scheinbar von der Technologie überholten Vergangenheit, so dass die Literatur(wissenschaft) als ein Locus der Infragestellung des Fortschrittsglaubens hervorzutreten vermag. Literatur(wissenschaft) übernimmt so eine Wächterrolle für das Unbewusste des naturwissenschaftlich modellierten Menschen. Viele Fragen der Technologie, z.B. die ihrer Gewinne und Verluste, können nicht von ihr selbst beantwortet werden, sondern müssen aus ihrem Unbewussten, d.h. aus dem Bereich der Literatur(wissenschaft) beantwortet werden – und zwar im Dialog mit einer neu konzipierten Version der Philosophie, der (kritischen) Theorie.

      I-Tsun Wan stellt im dritten Kapitel aktuelle Krisennarrative in den historischen Zusammenhang der krisenhaften Welt um 1800. Seine beispielhafte Lektüre zeitgenössischer literarischer (Kleist) und philosophischer (Schlegel) Positionen zielt dabei auf die Beschreibung einer transzendentalen Geschichtsschreibung, die schließlich eine Überwindung der gravierenden – d.h. ausweglos erscheinenden – Krise ermöglicht. Im Spannungsfeld von Literatur und Wissenschaft, Kommerzialisierung und Religion argumentiert Wan für eine Rückbesinnung auf eine ethisch-religiöse Transzendentalität der Literatur.

      Vor dem Hintergrund ›postfaktischer‹ politischer Diskurse (Trump et al.) und solcher Kommentare, die die Schuld für die Untergrabung objektiver Wahrheitsmaßstäbe vor allem bei den linksradikalen Theoretikern der Postmoderne suchen, stellt Christoph Reinfandt in Kapitel vier eine Typologie der gegenwärtigen Wahrheitsbegriffe auf. Anhand von Niklas Luhmanns Modellierung der modernen Gesellschaft als ein sich ausdifferenzierender Zusammenhang autopoietischer, d.h. sich selbst hervorbringender und vorantreibender Kommunikationen, schlägt Reinfandt vor, dass literatur- und kulturgeschichtliche Einsichten einen möglicherweise entscheidenden Schlüssel zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Situation bieten können.

      In Kapitel fünf geht es Thomas Kater um die Ausdifferenzierung aktueller Krisenzusammenhänge für die Literaturwissenschaft, die sich – möglicherweise zu Recht – genötigt sieht ihre Relevanz in Krisenzeiten zu rechtfertigen. Kater attestiert der Literaturwissenschaft weniger ein Relevanz- denn ein Kommunikationsproblem, lägen ihre Kernkompetenzen doch gerade im schmalen operativen Bereich an der Grenze von Fakt und Fiktion, also im »Modalitätsmanagement« von Texten, das er konkret am Beispiel postfaktischer Auseinandersetzungen in den Social Media (zwischen dem AfD Landtagsabgeordneten Björn Höcke und dem ARD faktenfinder der Tagesschau) aufzeigt. Statt einer Krise attestiert Kater der Literaturwissenschaft die »Notwendigkeit zur Selbstreflexion im Hinblick auf ihre eigene Relevanz« – sind ihre Kompetenzen doch heute gefragt wie selten zuvor.

      Raphael Zähringers Kapitel sechs beginnt die Reihe der Lektüren mit einem Plädoyer für die narratologische Auseinandersetzung mit postfaktischer Politik, die, genau wie Literatur, als »fiktionale Projektionsfläche von Wirklichkeit« gelesen werden kann. Ausgehend von Monika Fluderniks Typenmodell mündlicher Erzählformen und Juri Lotmans Plot-Typologie setzt sich Zähringer mit der »Literaturhaftigkeit« postfaktischer Medientechniken auseinander und kommt zu dem Schluss, dass sich die multimedialen Strukturen postfaktischer Politik mittels literaturtheoretischer Werkzeuge nicht nur beschreiben lassen, sondern dass dies eine sonst kaum führbare Debatte über solche Narrative erst ermöglicht.

      In Kapitel sieben setzen sich Robert Leucht und Carl Niekerk anhand konkreter Redebeispiele mit den narrativen Strategien populistischer Politiker (Trump, Blocher, Wilders) auseinander – darunter die Etablierung simplifizie­render narrativer Konzepte, z.B. eines »wir«-Gefühls über die Evozierung eines »Volksbegriffs«, dem eine Gruppe von »Feinden« gegenübergestellt wird, oder die Erzeugung von Feindbildern über das Umdefinieren der »Rede des Feindes« für die eigenen Zwecke. Leucht und Niekerk entwickeln so eine Narratologie populistischer Rhetorik, die neue Fragen für die Auseinandersetzung mit der­artigen politischen Strategien aufwirft und auch die unausweichliche Frage stellt, was wir als Gesellschaft – und ganz konkret auch die Literaturwissenschaften – diesen Narrativen entgegensetzen können.

      Eine ganze Reihe aktueller literarischer Krisennarrative steht im Zentrum von Sascha Seilers Kapitel acht, das sich konkret mit der Frage nach der Darstellung und Untersuchung von Grenzüberschreitungen in der Literatur und durch die Literaturwissenschaft auseinandersetzt. Lähmende Globalisierungsangst steht, so Seiler, im Zentrum des 2017 erschienenen Romans Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens von Roman Ehrlich, ebenso wie in Simon Strauss’ ebenfalls in diesem Jahr veröffentlichtem Roman Sieben Nächte. Beide Texte können damit exemplarisch für die literarische Darstellung aktueller Ängste gelesen werden.

      In Kapitel neun setzt sich Nele Guinand anhand einer Lektüre von Friedrich von Borries Klimakapseln mit der Frage auseinander, wie das Leben im reichen Globalen Norden in Zukunft aussehen könnte, und zeigt dabei die vielfältigen ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verstrickungen von arm und reich, globalem Norden und globalem Süden, willkommenem, anerkanntem Bürger und illegalem, aus der Gesellschaft ausgestoßenem Migranten auf. Von Borries Text, so argumentiert Guinand, präsentiert ein paradoxes Zukunftssystem, dass sich gleichzeitig als literarische Intervention zu aktuellen wirtschafts- und klimapolitischen Zusammenhängen lesen lässt.

      Stefan Hofer-Krucker Valderrama eröffnet die Reihe der Anwendungen mit konkreten Überlegungen zur didaktischen Aufbereitung des genuin zur Literatur (und damit auch zur Literaturwissenschaft) gehörenden Krisenbewusst­seins im Literaturunterricht. Dabei geht es ihm sowohl um literaturwissenschaftliche Klimawandelforschung, die untrennbar mit der Rolle menschlichen Handelns im Anthropozän verknüpft ist und deren Aufgabe es sein sollte, das von der Literatur generierte ›hybride Wissen‹ gesellschaftlich verfügbar zu machen, als auch um das konkrete Anwendungsbeispiel einer in die Diskussion der aktuellen ›Flüchtlingskrise‹ eingebetteten Kafka-Lektüre im Rahmen des gymnasialen Literaturunterrichts. Das Kapitel beschreibt sowohl die didaktische Umsetzung als auch Reaktionen und Verstehensarbeit der Schüler und kommt zu dem Schluss, dass die von vielfältigen Formen von Krisenhaftigkeit geprägte Literatur(wissenschaft) es vermag, den Menschen in seiner Selbstzufriedenheit aufzurütteln und zum Nachdenken über sich selbst anzuregen.

      In Kapitel elf setzt sich Jens F. Heiderich mit den Möglichkeiten dramatischer Texte und Praktiken zur Ausprägung eines ökonomischen Bewusstseins im Deutschunterricht auseinander. Anhand des Begriffs der ›literarischen Ökonomik‹ (der Verzahnung von Literatur- und Wirtschaftswissenschaft) analysiert Heiderich verschiedene, vor allem zeitgenössische Theaterstücke im Hinblick auf ihre Darstellung der Finanzwelt, von Arbeit, Geld und Börsenhandel und stellt Überlegungen zur bisher eher zögerlichen didaktischen Auseinandersetzung und Aufbereitung solcher Diskurse für die Anwendung im Literaturunterricht an. Das Kapitel schließt mit einem Plädoyer für eine ›ökonomie-sensible‹ Lektüre- und Theaterpraxis im Unterricht, die Schüler*innen für die vielfältigen wirtschaftlichen Diskurse, in die sie in ihrem alltäglichen und zukünftigen Leben eingebunden sind und sein werden, sensibilisieren (und auch wappnen) könnte.

      In Kapitel zwölf setzen sich Julian Ingelmann und Christian Dinger kritisch mit der Frage auseinander, warum die Literaturwissenschaft scheinbar in einer Sinnkrise bezüglich