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Literaturwissenschaften in der Krise


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dem Verschwinden des Bildungsbürgertums und seiner Wertvorstellungen, seinem Bildungskanon und seinen Ausbildungspraktiken verschwanden auch die Sicherheit und Selbstverständlichkeit der zu vermittelnden Inhalte in Literatur, Kunst und Musik (vgl. Erhart 2003a: 108–125). Die damit verbundene Warnung vor dem Untergang der Bildung im Internetzeitalter ist zum Gemeinplatz geworden: Das »Ende der Gutenberg-Galaxis« (Bolz 1995) war erst nur ein schönes Bonmot – und heute haben wir dieses Ende so weit hinter uns gelassen, dass es selbst schon Geschichte geworden ist. In all dem ist nichts Positives zu erkennen; außer vielleicht der Tatsache, dass Bildung offensichtlich zu allen Zeiten wenn nicht alle, so doch viele anzugehen scheint, und dass man Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen, ja, dass man bestimmten Fächern und Disziplinen offenbar viel zutraut – oder eben auch viel zumutet.

      Die Kritikpunkte sind fast alle berechtigt – und genau dies mag einen skeptisch stimmen. Sie zielen auf die Universitäten ganz allgemein, besonders aber auf die Literatur- und Kulturwissenschaften und im Speziellen häufig auf die Germanistik. Selten wird so viel Häme über die juristischen Fakultäten, die theologischen Seminare, die Archäologie oder auch die Geschichte ausgeschüttet wie über die Literaturwissenschaften. Man fragt sich manchmal, warum. So viel Kritik, und aus so unterschiedlichen Perspektiven? So viele implizite und explizite Forderungen und Erwartungen, die, würde man versuchen, sie alle zu erfüllen, sicherlich kein konsistentes Bild ergeben würden. Vielleicht muss man sich also zunächst einmal fragen, was eigentlich solche Empörung auslöst. Wie sieht der Katalog der Wünsche aus? Woher kommt die krasse Kritik?

      Geisteswissenschaften – oder, um den irreführenden Begriff des »Geistes« zu vermeiden, besser: Humanities – sollen historisches und zeitgenössisches Wissen bewahren, es pflegen, sie sollen es erhalten, zugänglich und brauchbar machen oder sogar oft die Zugänglichkeit erhalten, indem sie etwa die Kenntnis fast vergessener Sprachen und Schriften, Zeichensysteme und Bilder konservieren und ihre Funktionen trainieren. Die einen loben dabei, dass dies ohne Ansehen von direkter Verwertbarkeit, mit langem Atem und ohne tägliche Überprüfung von aktueller Relevanz geschehen soll und kann. Tagesaktuelle Verwertbarkeit soll und darf dann gerade kein Kriterium sein. Andere reden genau hier vom Elfenbeinturm.

      Die Kritiker des Elfenbeinturms nämlich verlangen, dass zeitgenössische Debatten aufgegriffen, überalterte Themen und Thesen verworfen und dezidiert verabschiedet werden. Und nicht nur dies: Zu aktuellen Themen soll es auch noch kompetente und ethisch vertretbare Kommentare, Urteile, politisch und sozial relevante, wirksame Beiträge geben. Universitäten sollen Forschung – nicht nur in den Humanities – garantieren, die nicht von Politik und Lobbyismus beeinflusst ist (dies ist – leider zu selten betont – im Übrigen auch für die Lehre relevant!). Sie müssen mit ihren Ressourcen ökonomisch umgehen und die Ausgabenverteilung an gesellschaftlichen Bedürfnissen ausrichten. Sie sollen einerseits auf Distanz gehen zu den gesellschaftlichen Akteur*innen und Interessent*innen, andererseits nicht im Abseits stehen: Keine leichte Übung!

      Universitäten sind – wie fast alle Institutionen – träge, und genau dies ist auch ein nicht zu unterschätzender Vorteil von Institutionen. Anders als wirtschaftlich arbeitende Unternehmen, die auf ökonomische Veränderungen möglichst schnell und flexibel reagieren sollen und müssen, sollten das weder Bildungseinrichtungen noch Gerichte tun:

      Die notwendige Autonomie, eine gewisse Freiheit von Marktimperativen und die Distanz zu unternehmerischer Kultur können sich die Geisteswissenschaften nur dann verschaffen, wenn sie bereit sind für diese (notwendige) Sonderstellung auch bestimmte Reformen nicht nur in Kauf, sondern selbst in Angriff zu nehmen. Gelingt dies nicht, leiden darunter nicht nur die Geisteswissenschaften selbst, sondern das gesamte System Universität. (Kimmich und Thumfart 2003: 30)

      Die Anpassung von Universitäten an Vorbilder aus Wirtschaft und Industrie ist nicht in jeder Hinsicht unsinnig, eine Vorbildfunktion ökonomischer Strukturen für die Universität kann es aber nicht geben. Moden und Konjunkturen bestimmen nicht den Pulsschlag von Universitäten. Das mag man bedauern. Tatsächlich sammelt sich daher eine Menge Muff – auch unter den z. T. wieder eingeführten Talaren – in Bürokratien, Studienplänen, Prüfungsordnungen, Leselisten und Forschungsprojekten. Autonomie von wirtschaftlichem Effektivitätsdruck und gesellschaftlicher Relevanz führt nicht per se zu wissenschaftlichen Hochleistungen. Aber umgekehrt gilt dies eben genauso: Ständiger Effektivitätsdruck und Relevanzforderungen garantieren eben leider auch keine gute Forschung!

      Erreichen lässt sich in einer Institution nur dann etwas, wenn man grundsätzlich deren Charakter, also auch denjenigen einer oft langsamen, ja eben ›bedächtigen‹ Arbeitsweise akzeptiert, ihre Vorteile anerkennt und erst dann die daraus entstehenden Nachteile korrigiert. Universitäten sind konservativ: im Wortsinn und als Funktionsbeschreibung gemeint. Es sind besonders die Humanities, die diese konservativ-konservierende Seite vertreten. Das sieht man den Vertreter*innen der Fächer an, ihrem Habitus und ihren Tätigkeiten. Ihr Denkstil ist in vieler Hinsicht auf konservative Praktiken hin ausgelegt. Allerdings sind diese Fächer damit nur zur Hälfte beschrieben.

      Weder die Universität selbst noch die Humanities sind nur konservativ. Ganz im Gegenteil: Schließlich wird das Wissen von morgen in den Forschungslaboren, Universitätskrankenhäusern, aber auch an Schreibtischen und in Seminarräumen entwickelt. Dabei geht es nicht nur um technischen, technologischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt, sondern ganz zentral auch um das Wissen, mit dem sich eine Gesellschaft selbst beschreibt und verständigt, mit dem sie Arbeitsleben und Familie, Geschlechterverhältnisse und Kindererziehung, kulturelle Vielfalt und Innovation, Tradition und Erinnerung, Gesundheit und Religiosität neu konzipiert, verwandelt, kommuniziert und kritisiert.

      Insbesondere die Literaturwissenschaften zeichnen sich also durch die Spannung zwischen einer konservativen Seite ihrer Praktiken und Aufgaben und zugleich einer Seite innovativer, oft sehr experimentierfreudiger, meist theoretisch versierter Ansätze aus. Das passt nicht gut zusammen und erzeugt Konflikte. Obwohl die Kombination fast unmöglich erscheint, kann auf keine der beiden Seiten verzichtet werden: Betrachtet man eine Seite isoliert, wirkt es entweder dröge oder schrill.

      Rita Felski nennt in ihren viel beachteten Publikationen vier verschiedene Praktiken, die Humanities zu kombinieren haben: »curating, conveying, critizing, composing« (Felski 2016: 216). Die ersten beiden, ›curating‹ und ›conveying‹ möchte ich zusammenfassen in dem, was ich als ›konservativ‹ bezeichne. Critizing und composing werde ich ihnen gegenüberstellen und im Sinne von Kritik und – statt ›composing‹ – Urteil also auf der Seite des Experimentellen und Innovativen verorten. Die Unterteilung in die beiden Komponenten ist vielleicht meinem besonderen Fokus auf die Germanistik geschuldet, da hier die Debatten um die Einführung von kulturwissenschaftlichen Ansätzen, Themen und Methoden bzw. auf der anderen Seite um eine »Rephilologisierung« (vgl. Erhart 2003b) des Faches besonders heftig geführt wurden, also die Polarisierung von konservativ-kurativ und kritisch-innovativ kontrovers diskutiert wurde. Interessant sind die Spannungen innerhalb der Germanistik auch, weil sie als Nationalphilologie im Rahmen der deutschen Kultur- und Wissensgeschichte – mehr noch und anders als etwa die Romanistik oder die Amerikanistik/Anglistik – gewissermaßen intrinsisch eine Art Umbau oder sogar eine Form der Selbstauflösung betreibt. Warum?

      Die konservativ-konservierenden Praktiken Felskis, ›curating‹ und ›conveying‹ fallen zusammen mit dem, was man als philologische Praktiken im besten Sinne bezeichnen kann. Sie gehören zum Kernbestand der Literaturwissenschaften und ihre Berechtigung und ihr Wert sollten nicht in Zweifel gezogen werden. Allerdings: Philologen – insbesondere auf dem Gebiet der Germanistik – braucht man nicht viele und man wird in Zukunft immer weniger von ihnen brauchen. Hier ist Albrecht Koschorke zuzustimmen, der darauf hinweist, dass diese Art von Germanistik schrumpfen wird – und zu Recht (vgl. Koschorke 2015: 587–594). Die deutschsprachige Literaturgeschichte ist vergleichsweise kurz, sehr prominent und entsprechend gut erforscht. Es gibt noch viel zu forschen, aber die Menge an Dissertationen und Publikationen steht in keinem Verhältnis zum Material, das erforscht wird. Nicht selten sind es zudem Mainstream-Gebiete, die sich besonderer Beliebtheit erfreuen, Redundanzen lassen sich daher nicht vermeiden. Dazu gehören allerdings nicht nur die ›großen‹ kanonischen Autoren, sondern bedauerlicherweise auch viele theoretische