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Literaturwissenschaften in der Krise


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jeweils in den einen oder den anderen Kontext. Diesen Verfahren liegen meist implizite Entscheidungen und – meist wenig bewusste – Urteile zugrunde. Sie basieren auf Vergleichen und Ähnlichkeitsbeziehungen und sind in den allermeisten Fällen weder messbar noch falsifizierbar oder beweisbar. Sie sind nicht transparent und schon gar nicht objektiv. Wir befinden uns auf einem Terrain, das vage, diffus, komplex und unübersichtlich ist.

      Es ist das Feld, in dem Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen zuhause sind; gewissermaßen der Urwald, in dem sie sich auskennen, hier können sie ihre Diagnosen stellen, ihre Expertise formulieren und ihre Techniken der Erkenntnis zur Anwendung bringen. Es ist das Feld der symbolischen Kommunikation, die vom Einkaufszettel bis zu Zettel’s Traum reicht. Die größte Menge an Weltwissen findet sich ja gerade nicht dort, wo Exaktheit und Klarheit herrschen, sondern dort, wo im Ambivalenten formuliert werden muss, wo Aussagen Urteile implizieren und damit Handlungen generieren (können). Man könnte so etwas die Ambiguitätstoleranz der Literaturwissenschaften nennen. Ich würde gerne weitergehen und es die Diffusitätskompetenz nennen, also die Fähigkeit, gerade nicht ›schwarz und weiß‹ zu denken, ›hüh oder hott‹ zu sagen, ›entweder oder‹ zu handeln, sondern ›sowohl als auch‹, und im Graubereich zu urteilen, abzuwägen, auszutarieren, fein abzustimmen, auszubalancieren.

      Es handelt sich um die Fähigkeit, begründet zu urteilen. Die meisten – politischen, privaten oder beruflichen – Entscheidungen beruhen nicht auf objektivem Zahlenmaterial, sondern auf einem komplexen Ineinander von Erfahrung und Information. Differenziert und begründet urteilen zu können, ist eine Kunst. Oder anders: Es ist eher eine Praxis als eine Theorie, die sich durch Einübung und Lektüre erlernen lässt. Diese Praxis, die durchaus auch zur ›Kritik‹ gehört, ist eine der größten Stärken der Literaturwissenschaften. Sie zu so genannten ›exakten‹ Wissenschaften machen zu wollen – was immer das letztlich sein soll –, führt dagegen unweigerlich zu Banalitäten, redundanten Aussagen und zur Selbstabschaffung.

      Literatur- und Kulturwissenschaften machen das kompliziert, was auf den ersten Blick einfach erscheint. Sie brechen das Normale auf, ändern den Kontext und machen sichtbar, was sich im ›Normalen‹ verbirgt: Manchmal eine Fratze, manchmal ein Schatz. Dem Normalen die Stirn zu bieten, heißt aber nicht notwendig immer, auf den Putz zu hauen und mit dem großen Thesenbesen einen Kehraus zu veranstalten. Manchmal sitzt man eben monate-, ja jahrelang am Schreibtisch, im Archiv oder in der Bibliothek, bis man die Stellschraube gefunden hat, die am Ende eine wacklig gewordene Konstruktion zum Einsturz bringt. Manchmal findet man diese Schraube nie.

      Die ›Erfindungen‹ von Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen werden oft gar nicht mit ihnen in Verbindung gebracht. Es sind meist keine spektakulären, aber entscheidende Veränderungen von sprachlichen Gewohnheiten, langsam sich entwickelnde Verschiebungen von normativen Vorstellungen, die nicht nur angestoßen, sondern auch formuliert und vorangetrieben werden. Es sind Konzepte von Vergangenheit und Zukunft, von fremd und eigen, die hier entworfen werden. Sie werden nicht als Innovationen verkauft, sondern finden Resonanzen, verbreiten sich und werden zum Common Sense (vgl. Rosa 2016). Wer das unterschätzt, ist schwer vom Wert des Nachdenkens zu überzeugen.

      Literatur

      Bolz, Norbert (1995). Am Ende der Gutenberg-Galaxis. München: Fink.

      Bruni Aretino, Leonardo (1984). ›Dialogi ad Petrum Paulum Istrum‹, in: Stephan Otto (Hrsg.). Renaissance und frühe Neuzeit. Stuttgart: Reclam, 91–95.

      Diner, Dan (2003). ›Cultural Engeneering – Oder die Zukunft der Geisteswissenschaften‹, in: Dorothee Kimmich und Alexander Thumfart (Hrsg.). Universität ohne Zukunft? Beiträge zu einer aktuellen Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 70–79.

      Doerry, Martin (2017). ›Wer war Goethe? Keine Ahnung, irgendso’n Toter.‹ in Der Spiegel 6/2017, 105–109.

      Emma (2017). http://www.emma.de/artikel/gender-studies-sargnaegel-des-feminismus-334569 (31.10.17).

      Enders, Jürgen und Uwe Schimank (2001). ›Faule Professoren und vergreiste Nachwuchswissenschaftler? Einschätzung und Wirklichkeit‹, in: Erhard Stölting und Uwe Schimank (Hrsg.). Krise der Universitäten. Heidelberg u.a.: Springer, 159–178.

      Erhart, Walter (2003a). ›Die Managerin und der Mönch. Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten‹, in: Dorothee Kimmich und Alexander Thumfart (Hrsg.). Universität ohne Zukunft?. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 108–125.

      Erhart, Walter (Hrsg.) (2003b). Grenzen der Germanistik? Rephilologisierung oder Erweiterung?. Berlin: Springer.

      Felski, Rita (2016). ›Introduction.‹ New Literary History, 47.2 und 3, 215–229.

      Felski, Rita (2017). The Limits of Critique. Chicago, London: University of Chicago Press.

      Friedman, Susan Stanford (2017). ›Both/And: Critique and Discovery in the Humanities.‹ PMLA 132.2, 344–351.

      Handelsblatt (2013). http://www.handelsblatt.com/my/technik/forschung-innovation/gender-studies-feministinnen-erforschen-sich-selbst-seite-2/2863394–2.html?ticket=ST-3198456-qViAUH7FQnuWDdThcXBH-ap1 (31.10.2017).

      Kimmich, Dorothee und Alexander Thumfart (2003). ›Einleitung‹, in: Dorothee Kimmich und Alexander Thumfart (Hrsg.). Universität ohne Zukunft? Beiträge zu einer aktuellen Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Koschorke, Albrecht (2015). ›Die Germanistik auf dem Weg zum kleinen Fach.‹ DVjs 89.4, 587–594.

      2 Literatur, Wahrheit, Menschsein

      John K. Noyes (übersetzt von Lukas Müsel)

      Die Literatur ist ein Laboratorium, das die Idee eines gemeinsamen Menschseins entwickeln und in Beziehung zu Vielfalt und Differenz setzen soll. In beiden Fällen handelt es sich um nicht ganz klar umrissene, veränderbare Konzepte. ›Menschsein‹ ist eine Abstraktion, die auf unterschiedlichste Art und Weise erreicht werden kann (meistens dadurch, dass jegliche Vielfalt negiert wird); Vielfalt selbst ist eine scheinbar unendliche Spezifizierung bestimmter Erscheinungen. Die Dialektik von Gleichheit und Unterschiedlichkeit, die das literarische Labor antreibt, wohnt der literarischen Form strukturell inne. Die lyrische Stimme ist gänzlich erfüllt vom Reiz des Klanges, der beständig zwischen einem Bereich innerhalb der Bildlichkeit und einem Ort jenseits ihrer Grenzen hin und her pendelt. Die dramatische Aufführung funktioniert über ein Momentum der Identifikation, durch das spezifische Gesten und Äußerungen der Schauspieler erst Bedeutung erlangen. Der Roman, in seiner klassischen Form, lebt von den Spannungen zwischen verschiedenen universalen narrativen Strukturen (wie beispielsweise dem allwissenden Erzähler) und den Stimmen oder berichteten Gedanken der individuellen Figuren. All diese narratologischen und poetischen Mittel erlauben es uns, von einer ästhetischen Erscheinung zu sprechen, die sich durch die fundamentale Unsicherheit eines gemeinsamen Menschseins in der Moderne auszeichnet. Vielleicht entstand und besteht Literatur aufgrund genau dieser Ungewissheit.

      Im Westen sind ›gemeinsame Menschlichkeit‹ und ›Vielfalt‹ Konzepte, die sich – wie auch immer sie verstanden werden mögen – durch die langzeitige Parallelentwicklung von säkularem Weltbürgertum und christlicher Mythologie entwickelten. Das heutige Problem von Menschlichkeit und Vielfalt entstand aus einer kürzeren (aber dennoch jahrhundertelangen) Geschichte, die zunächst von Europa und später von den Vereinigten Staaten dominiert wurde – eine Geschichte der Säkularisierung, der Technologie und der Expansion des Kapitals. Literatur wie wir sie heute verstehen – mit all ihren Wachstumsschüben, Verzögerungen; mit ihrer Selbstbezüglichkeit, ihren Kontextualisierungen und historischen Schwachpunkten – entwickelte sich parallel zu dieser langen Geschichte. Da das Konzept eines gemeinsamen Menschseins zunehmend in den Einflussbereich der Weltwirtschaft und der Finanzialisierung des