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Literaturwissenschaften in der Krise


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genesen. Denn »Poesie ist«, so Novalis, »die große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transzendentale Arzt« (Novalis 1960ff: I, 535). Wenn man die Potenz und die Potenzierung durch ihren etymologischen Sinn miteinander verbindet, so liegt hierin auch der Kern des Appells von Novalis: »Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzierung« (Novalis 1960ff.: I, 545). Die Literatur ist also ein Analogon zu dem Schamanismus im weiten Sinne oder dem Urchristen. Oder die transzendentale Literatur ist vielmehr schon eine neue Religion.

      Friedrich Schlegel fasst die Religiosität der Literatur folgendermaßen zusammen: »Der dichtende Philosoph, der philosophierende Dichter ist ein Prophet. Das didaktische Gedicht sollte prophetisch sein, und hat auch Anlage, es zu werden« (Schlegel 1967: 207). Dementsprechend soll die Literaturwissenschaft die Rolle des gläubigen Apostels übernehmen, der die Idee der Literatur ausbreitet, als ob man auf den kategorischen Imperativ hörte: »Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur« (Markus 16:15). Dabei soll die Literaturwissenschaft kein naiver Gläubiger sein, weil die transzendentale Literatur auch keine naive Literatur ist, sondern sie soll den Schatz der Literatur auf tiefgründige Weise zutage fördern, so wie die Literatur die neue Mythologie »aus der tiefsten Tiefe des Geistes« (Schlegel 1967: 312) herausbildet. Also verhält sich die Literaturwissenschaft zu ihrem Gegenstand Literatur wie die Literatur zur gegebenen Geschichte.

      Die Kombination der Literatur und der Wissenschaft könnte auf Schwierigkeiten stoßen, wenn die Wissenschaft die Literatur tot schreibt oder wenn die Literatur die Wissenschaft scheinbar degradiert. Auf diesen prekären Sachverhalt geht Roland Barthes ein. Er spricht weiterhin für die Literaturwissenschaft, indem er ihr ein höheres Ziel setzt: »Schreiben allein hat die Chance, die Unaufrichtigkeit aufzuheben, die jeder Sprache, die sich ihrer nicht bewußt ist, anhaftet« (Barthes 42015: 14). Die Literaturwissenschaft soll als sekundäre transzendentale Literatur dienen, die die primäre potenzierte Welt nochmals potenziert und somit eine Dimension der tiefen Struktur hervorhebt. Und die Potenzierung bedeutet manchmal auch eine Zerstörung, wie Barthes deutlich macht:

      [D]as Schreiben will ein totaler Code mitsamt seinen eigenen Zerstörungskräften sein. Daraus folgt, daß nur das Schreiben das von der Wissenschaft aufgezwungene theologische Bild zertrümmern, den von der mißbräuchlichen »Wahrheit« der Inhalte und Argumentationen verbreiteten väterlichen Schrecken zurückweisen und der Forschung den vollständigen Raum der Sprache erschließen kann mitsamt seinen Subversionen der Logik, der Durchmischung seiner Codes, mit seinen Verlagerungen, seinen Dialogen, seinen Parodien (Barthes 42015: 15).

      Ja, es gibt Trivialliteraturwissenschaft, wie es Trivialliteratur gibt, indem diese beiden sich bloß auf die sinnlichen Phänomene oder die buchmarktlichen bzw. akademischen Phänomene richten, ohne die Struktur zu berücksichtigen, und sich somit von der Wahrheit immer weiter entfernen, wie es Tzvetan Todorov in Hinsicht auf die literarischen Praktiken formuliert: »Wer Strukturen auf der Ebene der beobachtbaren Bilder sucht, schneidet sich eben damit von aller sicheren Erkenntnis ab« (Todorov 1972: 20). Die wahre Literaturwissenschaft soll dagegen als Apostelbrief dienen, der nicht nur die Wahrheit in den Fokus rückt, sondern sich ihr jeweils auf eigene Weise annähert oder zumindest anzunähern versucht.

      Aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur Literatur kann sich die Literaturwissenschaft in der Krise auch ihre graziöse Beweglichkeit gegen die Gravitation der Krise erhalten. Deshalb ist sie ebenso in der Lage, einen höheren, makroskopischen Standpunkt zu bieten, so wie die Literatur auf einem erhabenen Standpunkt steht. Es gibt allerdings einen Unterschied: Während die Literatur sich mit der subjektiven Zweckmäßigkeit begnügt und vergnügt, muss die Literaturwissenschaft nicht nur der subjektiven, sondern auch der objektiven Zweckmäßigkeit entsprechen, weil sie, wie die apollinische Kraft bei Nietzsche, angesichts ihrer vermittelnden Rolle ein Bild, einen Begriff, eine Lehre oder eine sympathische Erregung aus der scheinbar chaotischen Literatur liefern muss:

      So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheit und entzückt uns für die Individuen; an diese fesselt es unsre Mitleidserregung, durch diese befriedigt es den nach grossen und erhabenen Formen lechzenden Schönheitssinn; es führt an uns Lebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassen des in ihnen enthaltenen Lebenskernes. Mit der ungeheuren Wucht des Bildes, des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung reisst das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit des dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes Weltbild, z.B. Tristan und Isolde, sehe und es, durch die Musik, nur noch besser und innerlicher sehen solle (Nietzsche 1999: 137).

      Die Literaturwissenschaft ist demnach eine progressive apollinische Wissenschaft, die in der chaotischen Literaturwelt eine belehrende Orientierung bietet, damit man sich auch diesseits, nämlich jenseits der Literatur, mit sich selbst als Individuum nicht nur abfinden, sondern vielmehr begnügen kann und auf das nächste dionysische Erlebnis wartet – eine Erbauung durch Ventilfunktion. So ersetzt die Literaturwissenschaft die ausweglose Dialektik im ewigen Kampf zwischen der subjektiven Zweckmäßigkeit der Phantasie und der objektiven Zweckmäßigkeit der Vernunft durch eine progressive Dialektik zwischen der Historie und der Historia resp. zwischen der Weltgeschichte und der Heilsgeschichte.

      Literatur(-Wissenschaft) und Krise

      Die Literaturwissenschaft gerät selbst in eine Krise, wenn sie es nicht vermag, mit der krisenhaften Welt umzugehen. Dies kann dann der Fall sein, wenn sie ihre Grazie der Seele (vis motrix) verliert. Das heißt, dass die Literaturwissenschaft über eigene Autonomie verfügen soll, die ihr selbst dient und ihr selbst eine antigravitative Beweglichkeit innerhalb der gravitativen Weltordnung gewährt. Anders gesagt: Sie muss frei sein – vor allem von Interessen. Sie ist ein ästhetischer Ausspruch, ein geistreicher Witz, ein »intellektuelles vermögen« (DWB, Bd. 30, Sp. 862), welches eben dem »wesen der dichtung« (Sp. 863) gleichkommt. Das ist die Voraussetzung für jene Literaturwissenschaft, die die Transzendentalität der Literatur mitbekommt. Daher entspricht sie nicht zuletzt dem Said’schen Postulat des Intellektuellen: »exile and marginal, as amateur, and as the author of a language that tries to speak the truth to power« (Said 1994: xvi).

      Wenn man die Literaturwissenschaft zur Anwendung bringt, um einerseits Geld aus ihr zu generieren und um sie andererseits durch Geld zu retten, läuft man Gefahr, sie ihrer Autonomie zu berauben. Hierfür ist ein Zitat aus Kleists berühmtem Aufsatz aufschlussreich: »Sehen Sie den jungen F… an, wenn er, als Paris, unter den drei Göttinnen steht, und der Venus den Apfel überreicht; die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen« (Kleist 92001: II, 342). Entscheidet sich die Literaturwissenschaft für ein äußeres Ziel, dann ent-zweit sie sich mit sich selbst, zerreißt sich und verliert ihren inneren Schwerpunkt. »Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon« (Matthäus 6:24). Möge Gott verhüten, dass die Literaturwissenschaft dem Geld zum Opfer fällt (sondern umgekehrt). Eine angewandte Literaturwissenschaft, die sich das Angewandt-Sein zum Ziel setzt, ist eine herumdilettierende Wissenschaft, die sich selbst zerstört. Was Kleist in Hinsicht auf die Naturwissenschaften sagt, gilt hier ebenfalls: »Ohne Wissenschaft zittern wir vor jeder Lufterscheinung, unser Leben ist jedem Raubtier ausgesetzt, eine Giftpflanze kann uns töten – und sobald wir in das Reich des Wissens treten, sobald wir unsre Kenntnisse anwenden, uns zu sichern u. zu schützen, gleich ist der erste Schritt zu dem Luxus und mit ihm zu allen Lastern der Sinnlichkeit getan« (Kleist 92001: II, 682). Unter dem Joch der ökonomischen Nutzbarkeit darf man keine transzendentale, kritische Literaturwissenschaft schreiben, die die Sinnlichkeit in Zweifel zieht, und man bedarf auch keiner. Denn es gibt schon genug utilitaristische Gesinnungen im Umgang mit Krisen, indem jede sich praktischerweise auf eine Lösung richtet. Es ist aber fast unwiderlegbar, dass diese diesseitigen Lösungen über kurz oder lang zu einer neuen Krise führen könnten.

      Was soll die Literaturwissenschaft in der Krise leisten? Die Literatur bietet eine Zuflucht, in der sich wohl nichts auflöst, doch jeder sich erlöst. Sie bietet einen Witz, eine Anekdote, ein Fastnachtsspiel