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Literaturwissenschaften in der Krise


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rehabilitieren kann. Dementsprechend ist die Literaturwissenschaft ein Peter Pan, The Boy Who Wouldn’t Grow Up, der den Leser vom Alltag zum literarischen Neverland und zugleich durch Abenteuer zu sich selbst führt: »Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen« (Matthäus 18:3). Aus der irdischen Perspektive seien wir Außenseiter, Sonderling, Zyniker oder weltfremde Spinner – seien es im ursprüng­lichen Sinne oder auch nicht – und auf das Peter-Pan-Syndrom könne auch hingewiesen sein. Aber gerade die Literaturwissenschaft, die so exzentrisch ist, dient der Welt als Instanz der Reflexion – vor allem für denjenigen, der seiner zentralistischen Überzeugung zuliebe keine Gefahr der Dissoziation verträgt und deshalb keinen Gegenstand zur Reflexion hat. So formuliert Bernhard Waldenfels in Hinsicht auf das platonische Höhlengleichnis: »Die Wende kommt nicht dadurch zustande, daß Sehende den Schauplatz wechseln, so daß sie Höheres, Geistiges zu sehen bekommen; sie besteht vielmehr darin, daß der Schauplatz selbst sich wandelt und Sehende sehend werden« (Waldenfels 2017: 85). Die Literaturwissenschaft kann auf den Wandel des Schauplatzes auswirken, indem sie dem Sehenden die Literatur als Schauspiel vermittelt, einen Gegenstand, sein verlorenes Ebenbild, obwohl das Ebenbild keineswegs auf naive Weise darzustellen ist. »Darum rede ich zu ihnen durch Gleichnisse. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; denn sie verstehen es nicht« (Matthäus 13:13). Der Satz wurde uns gegeben und wir geben ihn weiter. Literaturwissenschaftler*innen sollen sich als Adressaten des Briefes von Novalis an Julius verstehen: »Wenn irgend jemand zum Apostel in unserer Zeit sich schickt, und geboren ist, so bist du es. Du wirst der Paulus der neuen Religion seyn, die überall anbricht – einer der Erstlinge des neuen Zeitalters – des Religiösen« (Novalis 1960ff: III, 493).

      Gegen die globalen Krisenzeiten vermag die Literaturwissenschaft wohl nicht unmittelbar zu wirken. Den globalen Krisenzeiten gegenüber kann sie allerdings einen universalen konstanten Standpunkt bieten, indem sie Phänomene durchleuchtet und bis zu deren Struktur gelangt. Die Idee, die nur mittelbar – z.B. durch Gleichnisse – zu erkennen ist, bringt sie mithilfe ihres transzendentalen ›Schau-Spiels‹ zur intellektuellen Anschauung und lässt ihren Leser bzw. Zuschauer selbst zur Erkenntnis kommen. Aus dieser literarischen Offenbarung kann ein ***-Mittel gegen die Krisen entstehen, das womöglich Anwendung findet. Was aber das *** ist, geht die Literaturwissenschaft bereits nichts mehr an. Dies klingt resignativ. Es ist allerdings eine progressiv-resignative Verfahrensweise. Denn jedes Sternchen ist wiederum ein Phänomen. Und trotzdem schimmert die Idee im Finstern unverändert, solange wir schreiben.

      Literatur

      Barthes, Roland (42015). Das Rauschen der Sprache. Übers. Dieter Hornig. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961.

      Fehling, Maria (Hrsg.) (1925). Briefe an Cotta. Das Zeitalter Goethes und Napoleons 1794–1815. Stuttgart, Berlin: Cotta.

      Fischer, Bernhard (2014). Johann Friedrich Cotta. Verleger – Entrepreneur – Politiker. Göttingen: Wallenstein.

      Kleist, Heinrich von (92001). Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Helmut Sembdner. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

      Kuhn, Dorothea (Hrsg.) (1977). Goethe und Cotta. Briefwechsel 1797–1832. 3 Bde. Stuttgart: Klett-Cotta.

      Nietzsche, Friedrich (1999). Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen. Kritische Studienausgabe, Bd. 1. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

      Novalis (1960ff.). Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Richard Samuel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

      Plumpe, Gerhard (1996). ›Einleitung‹, in: Gerhard Plumpe (Hrsg.). Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 6). München u. Wien: Carl Hanser.

      Said, Edward W. (1996). Representations of the Intellectual. New York: Vintage Books.

      Schlegel, Friedrich (1979). Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 22 Bde. Hrsg. v. Ernst Behler. Paderborn, München u. Wien: Ferdinand Schöningh.

      Todorov, Tzvetan (1972). Einführung in die fantastische Literatur. Übers. v. Karin Kersten, Senta Metz u. Caroline Neubaur. München: Ullstein.

      Waldenfels, Bernhard (2017). Platon. Zwischen Logos und Pathos. Berlin: Suhrkamp.

      4 Literaturgeschichte und Konstruktivismus

      Die Wahrheiten der Postmoderne

      Christoph Reinfandt

      Wer ist schuld am weltweiten Aufstieg der Rechtspopulisten und dem mit ihm offenkundig werdenden ›postfaktischen Zeitalter‹? Etwas differenzierter sollte man wahrscheinlich fragen, was denn die vermutlich durchaus vielfältigen Ursachen für diese Entwicklung sind, doch im massenmedialen Betrieb des Feuilletons und des Kulturjournalismus gibt es bereits pointierte Antworten: Die Schuldigen sind allesamt auf der linken Seite des politischen Spektrums zu verorten. »Die Hippies sind schuld«, konstatiert etwa die Überschrift von Thomas Assheuers (2017) letztlich doch abgewogeneren Überlegungen im Anschluss an den amerikanischen Kulturwissenschaftler Fred Turner (2006 und 2016). Assheuer bezieht immerhin noch Rahmenbedingungen wie etwa die fortschreitende Digitalisierung mit ein und verweist auf verkomplizierende Faktoren wie die Spaltung der Linken. Wesentlich einfacher macht es sich hier der Züricher Philosoph Michael Hampe (2016). Hampe erklärt, »pubertäre Theoretiker« der »kulturwissenschaftlichen Linken« (»KWL«) hätten mit ihrem dekonstruktiven Insistieren auf der medialen, diskursiven und damit letztlich sozialen und politischen Konstruiertheit aller Dinge den Aufstieg der »lügenden grobianischen Rechten« (»LGR«) herbeigeführt. In der Beliebigkeit der Postmoderne sei nunmehr die Gültigkeit objektiver Fakten derart unterminiert, dass die Populisten freie Bahn hätten.

      Obwohl der Befund eines gegenwärtig geschwächten Evidenz- und Referenzprinzips für Aussagen über die Wirklichkeit natürlich nicht von der Hand zu weisen ist, greift diese Schuldzuweisung doch zu kurz und ist damit ebenso populistisch wie der kritisierte postfaktische Diskurs. Zum einen sollte man die Wirkmächtigkeit geistes- und kulturwissenschaftlicher Seminare und Publikationen nicht überschätzen, wie etwa Bernhard Pörksen in seiner Replik (2017) hervorhebt. Zum anderen haben sich die pauschal als ›pubertär‹ verunglimpften Theoretiker ihre durchaus komplexen Theorien nicht aus einer Laune heraus ausgedacht, sondern, das sollte man ihnen zugestehen, in Fortsetzung einer langen und durchaus ehrwürdigen Tradition skeptischen und kritischen Nachdenkens und in Reaktion auf eine sich ausdifferenzierende, immer komplexer werdende moderne Wirklichkeit. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese Tradition und ihre jüngeren Erscheinungsformen in eine Perspektive ihrer medialen und technologischen Bedingtheit einzurücken, so dass klar wird, dass schlichte Schuldzuweisungen à la Hampe nicht zielführend sein können. Dabei wird es auch darum gehen, deutlich zu machen, was denn die Literaturwissenschaften zur Klärung dieses Sachverhalts beitragen können.

      Wahrheit und Wahrheiten

      Der des linken Pubertierens völlig unverdächtige Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann wies schon 1990 darauf hin, dass die »Umstellung des Wissenschaftssystems von einem ontologischen auf ein konstruktivistisches […] Selbstverständnis, wie sie in den zweihundert Jahren seit Kant zu beobachten ist, […] in sehr tiefgreifender Weise das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft [berührt]« (627). Und auch die weiter ausgreifenden, die westliche Tradition seit der Antike einbeziehenden Überlegungen des ebenfalls der postmodernen Schaumschlägerei unverdächtigen Physikers, theoretischen Biologen und Naturphilosophen Bernd-Olaf Küppers machen deutlich, dass es mit der Wahrheit nicht so einfach ist: Schließlich hat doch »die Diskussion um das Wahrheitsproblem […] im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neue Varianten des Wahrheitsbegriffs hervorgebracht […]: [d]ie ontologische, die logische, die empirische,