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Literaturwissenschaften in der Krise


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zeigt sich hier, war zumindest im westlichen Kulturkreis schon immer Verhandlungssache. Die Kriterien für ihre Akzeptanz haben sich im Laufe der Jahrhunderte langsam aber unaufhaltsam von ›absolut‹ Richtung ›hypothetisch‹ bewegt. Selbst im Rahmen der auf Aristoteles zurückgehenden und von Thomas von Aquin wiederaufgenommenen Korrespondenztheorien der Wahrheit wurde zunehmend nicht nur die abbildende, sondern auch die sprachlich-symbolische Darstellungsfunktion anerkannt. Dies geschah zunächst noch abgefedert in Annahmen der Strukturgleichheit von (sprachlicher) Darstellung und Welt, dann aber mit zunehmender Akzentverschiebung hin zu Kohärenztheorien der Wahrheit, deren Angemessenheit sich in der Widerspruchsfreiheit auf der Ebene der (sprachlichen) Repräsentation insgesamt erweist und dann letztlich nur noch im Handeln an der Wirklichkeit selbst bewähren kann. Erfolgreiche Bewährung wiederum muss auch mitgeteilt werden, und so verschiebt sich der Akzent erneut, hin zu Konsens- und Diskurstheorien einer Wahrheit, die sich intersubjektiv in kommunikativen Verhandlungsprozessen bewähren muss. Diese allerdings, dies sei betont, werden stets dadurch destabilisiert, dass der modernen Wissenschaft mit ihrer auf die Produktion neuen Wissens und die Falsifikation etablierten Wissens ausgerichteten Praxis immer auch eine Dissenstheorie der Wahrheit eingeschrieben ist.

      Die volle Komplexität dieses am Ende eines langen Evolutionsprozesses stehenden Zustands ist erst in jüngeren Jahren erfasst worden. Sie wird häufig unter dem bei Luhmann genannten Stichwort des Konstruktivismus verhandelt, der ganz unterschiedliche Formen annehmen kann. Im rückblickend von Richard Rorty (1967) für den Anfang des 20. Jahrhunderts angesetzten Linguistic Turn der Philosophie geht es im Kern darum, dass (und wie) die Sprache das Denken formt, und diese Grundfrage ist seither auch in anderen Disziplinen intensiv weiterverfolgt worden (vgl. Boroditzki 2012). Da Sprache zudem niemals pur auftritt, sondern stets an gesellschaftliche Praktiken und verfügbare Medientechnologien gebunden ist, schließen hier im Laufe des 20. Jahrhunderts zahlreiche weitere Cultural Turns an und verheißen Neuorientierung in den Kulturwissenschaften (Bachmann-Medick 2006). Zuvor schon war auch in der Soziologie Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit in den Mittelpunkt gestellt worden (Berger und Luckmann 1966). Erkenntnistheoretisch auf den Punkt gebracht werden die mit dieser Entwicklung verbundenen Einsichten von den sogenannten ›radikalen Konstruktivisten‹ wie etwa Ernst von Glasersfeld (vgl. etwa 1996). Im Kern geht es dabei darum, »dass vom Beobachter und seinen Methoden des Beobachtens und deren Wirkung auf den beobachteten Gegenstand nicht (!) abstrahiert werden darf, wenn Aussagen über die Welt und deren Beschaffenheit gemacht werden« (Simon 2017). Da sich die Angemessenheit derartiger Aussagen wie oben erwähnt nur noch im Handeln, d.h. im Umgang mit der Wirklichkeit bewähren kann, verschiebt sich das Kriterium geglückter Erkenntnis »[v]on der Wahrheit zur Viabilität« (Köck 2011). Man kann somit, fasst Fritz B. Simon (2017) zusammen, »aus konstruktivistischer Sicht zwar nicht sagen, welche Aussagen eine ewige Wahrheit beschreiben, aber man kann durchaus sagen, was Quatsch und unwahr ist.«

      Allerdings bleibt dabei unberücksichtigt, dass es Aussagen über die Wirklichkeit gibt, deren Angemessenheit sich eben nicht (oder zumindest nicht sofort) im Handeln bewähren kann: Wie sollte sich Donald Trumps Behauptung, seine Inaugurationsfeier sei die von der Zuschauerzahl her größte der amerikanischen Geschichte gewesen, im Handeln bewähren? Zwar scheint seine Behauptung angesichts des existierenden Bildmaterials offensichtlich falsch, aber letztlich handelt es sich ja nur um Bildmaterial, das ein Ereignis nie vollständig und in allen seinen Dimensionen erfassen kann. Eine unmittelbare Handlungsoption, in der sich die auf diesem Bildmaterial beruhende gegenteilige Behauptung an der Wirklichkeit bewähren kann, steht ja leider ebenfalls nicht zur Verfügung. Simon (2017) verweist nun darauf, dass

      aus konstruktivistischer Sicht die Möglichkeit der Objektvierung darin [besteht], dass unterschiedliche Beobachter sich über die Fokussierung der Aufmerksamkeit (= Selektion der Phänomene), die Selektion der Beobachtungsmethode, die Kriterien der Bewertung (z.B. Messmethoden) und die Selektion der Erklärungsansätze (= Theoriearchitektur) für die beobachteten Phänomene einigen

      – aber während dies innerhalb eines normativ-prozedural gerahmten Kommunikationszusammenhangs wie der modernen Wissenschaft gelingen mag, fehlt im durch Digitalisierung zunehmend beschleunigten und dezentrierten öffentlichen Diskurs unserer Zeit doch genau dieser Rahmen. Auch andere regulative Rahmungen institutioneller oder kultureller Art sind nach Jahrhunderten der Ausdifferenzierung in Modernisierungsprozessen erodiert. Zu denken wäre hier einerseits insbesondere an die Gatekeeping-Funktionen der Welt des Buchdrucks und andererseits an die normative Dimension von Gefühlsstrukturen (vgl. Williams 1977), wie sie sich etwa in Koordinaten von Moral, Scham und Anstand manifestieren.

      Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass es sich bei dem Angriff auf die ›pubertären linken Konstruktivisten‹ der ›Postmoderne‹, wie er am pointiertesten in dem bei konservativ-rechten Stimmen populären Manifest des Neuen Realismus des italienischen Philosophen Maurizio Ferrari (2014) vorgetragen wird, um ein »strategische[s] misreading« handelt, das »eine Umkehrung von Vorher und Nachher, eine Vertauschung von Ursache und Wirkung« vornimmt und so die ›Postmoderne‹ als linken »Pappkamerad« aufbaut (Sasse und Zanetti 2017). In der Tat gibt es gute Gründe dafür, die Rede von der ›Postmoderne‹ angesichts des Fortbestehens vieler seit dem 18. Jahrhundert etablierter Strukturen eher als typisch modern(istisch)e Semantik zu betrachten, der es um Distinktionsgewinn durch die Behauptung von Innovation und Originalität geht. Akademisch präziser hätte man wohl besser von ›Spätmoderne‹ sprechen sollen, deren Kennzeichen wiederum in Anlehnung an die englischsprachige Diskussion als ›postmodernistisch‹ oder, wie von Hans Robert Jauss (1983) weitgehend ungehört vorgeschlagen, als ›postistisch‹ zu bezeichnen wären. Erst in jüngster Zeit mehren sich demgegenüber die Anzeichen dafür, und hier ist der spezifische Charakter des jüngsten Aufstiegs der Populisten in der Tat signifikant, dass sich die seit dem 18. Jahrhundert etablierten Strukturen der modernen Gesellschaft und die damit verbundenen Koordinaten der modernen Kultur endgültig in etwas transformieren, das dann tatsächlich als ›Postmoderne‹ bezeichnet werden könnte (vgl. dazu Beck 2016).

      Literaturgeschichte als Kulturgeschichte

      Was kann nun die Literaturwissenschaft zur weiteren Klärung und Plausibilisierung der bisher skizzierten Sicht der Dinge beitragen? Der entscheidende Schritt hierzu ist ein kulturwissenschaftliches Verständnis von Literaturgeschichte, das insbesondere mediengeschichtlichen Aspekten besondere Aufmerksamkeit widmet. Die moderne Literatur, so zeigt sich aus diesem Blickwinkel, konnte ihre tragende Funktion bei der Herausbildung eines modernen bürgerlichen Subjekts mit universalen Ansprüchen nur mit Hilfe der sich seit Mitte des 15. Jahrhunderts zur Verfügung stehenden neuen Medientechnologie des Buchdrucks erfüllen. Im 18. Jahrhundert war die moderne Gesellschaft dann vor dem Hintergrund sich ausbreitender Schreib- und Lesefähigkeit in der Bevölkerung derart mit Druckerzeugnissen gesättigt, dass es Sinn macht, die modernen Leitdiskurse Aufklärung und Romantik als ›events in the history of mediation‹ aufzufassen (Siskin und Warner 2010; Siskin 2016). Der Buchdruck ermöglicht dabei erstmals in großer Zahl Kommunikationsprozesse, in denen durch die abstrakte Präsenz von Wörtern auf dem Papier ohne die kontrollierende Anwesenheit eines Senders dem Autor die Autorität über die Bedeutung entzogen wird. Diese liegt nunmehr scheinbar im Text selbst, geht aber de facto auf den Leser über, wie etwa Thomas Docherty (1987) in seinen Überlegungen zu ›moderner Autorität‹ eindringlich herausarbeitet. Sowohl die Aufklärung als auch die Romantik können vor diesem Hintergrund als Diskursformationen zur Kompensation dieses kommunikativen Kontrollverlusts gelesen werden: Aufklärerische Kommunikation hält am Ideal der Transparenz des Mediums fest, um den Ursprung und Maßstab der Bedeutung eines Textes weiterhin in der Referenz verorten zu können. Romantische Kommunikation hingegen erkennt die konstitutiven Mittlerinstanzen der subjektiven Erfahrung und der Medialität (des Schreibens, des Buchdrucks) an und verortet die Bedeutung somit im Subjekt und/oder im Text. Während Erstere sich beispielsweise im sich ausdifferenzierenden modernen Wissenschaftssystem um eine weitgehende Ausblendung des Faktors Subjektivität bemüht, um zu gültigen Aussagen über die Welt zu kommen, findet Letztere ihren kulturellen Ort im modernen Literatursystem, in dem sich insbesondere die Lyrik in und nach der Romantik durch ein hohes Maß an Selbstreferentialität auszeichnet, die sich vom ›Sprecher‹-Subjekt zum ›Schreiber‹-Subjekt