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Literaturwissenschaften in der Krise


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hervorruft. Die immer wieder hart geführten Kämpfe um die Relevanz und das Fortbestehen der Literatur (und die institutionellen Strukturen, die sie unterhält) sind in sich selbst Ausdruck eines formalen Auswegs; einer Flucht vor dem, was wechselweise das verwaltete Leben, die Systematisierung des Lebens, die Instrumentalisierung des Lebens, etc. genannt worden ist. Dass die Formen einer solchen Flucht vielleicht mit einem fortwährenden Wettrennen um nicht börsenfähige Innovationen einhergehen, ist nicht überraschend; genauso wenig ist es überraschend, dass dies ein Rennen ist, dessen Sieger nur rundenweise bestimmt werden können – denn der Wettbewerb selbst kann nicht gewonnen werden.

      Aus diesem Blickwinkel gesehen, verbindet die offizielle Institution der Literatur und ihre institutionalisierte Analyse eine interessante Beziehung. Während Beobachtung, Interpretation und Kommentar methodologische Grundpfeiler einer Vielzahl an Disziplinen sind (sowohl in den Geisteswissenschaften wie auch in den Naturwissenschaften), ist die sture Verweigerung, Erkenntnis als finanzfähig zu erweisen, genau das, was die ›eigentliche Literaturwissenschaft‹ bestens beschreibt. Ich sage ›eigentliche Literaturwissenschaft‹, weil es durchaus auch einige institutionelle Formen der Literaturanalyse gibt, die so hart wie möglich darum kämpfen, ihren eigenen Wert auf eben der Skala der Naturwissenschaftler zu messen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Förderwürdigkeit der ›Digital Humanities‹. Die ›eigentliche Literaturwissenschaft‹ ist, sollte sie mit den Naturwissenschaften verglichen werden, eine Art Grundlagenforschung. Sie schlägt Modelle und Methoden vor, deren Ergebnisse ungewiss, unvorhersagbar und in den meisten Fällen finanziell wertlos sind. Die institutionalisierten Modelle und Mechanismen, die der Literaturanalyse geldwirtschaftlichen oder (eher) finanziellen Wert zuweisen, werden immer ausgeklügelter – und die Lebensdauer dieser Disziplin ist immer mehr abhängig von der Ausgeklügeltheit dieser Modelle und Mechanismen. Es mag sein, dass die Anzahl an Studierenden gering ist und es gemessen daran verhältnismäßig viele Dozenten gibt. Wenn es aber irgendetwas an dieser Struktur, an dem Status oder dem Betrieb literaturwissenschaftlicher Institute gibt, was die Wahrnehmung der gesamten Institution in den Augen ihrer Geldgeber oder bezahlender Studierender verbessert, wird das natürlich den finanziellen Wert des Literaturunterrichts fundamental verändern. Wenn auf eine ähnliche Weise Verlage und Verwalter den Wert von zuvor nicht marktfähigen theoretischen und thematischen Trends sehen, verändert sich die interne Konfiguration literarischer Spezialisierung (siehe zum Beispiel das Wachstum der Postcolonial Studies); auch wenn im Vergleich zu den Naturwissenschaften – und ungeachtet der zunehmenden Verschmelzung nationaler literaturwissenschaftlicher Seminare zu literaturwissenschaftlichen Seminaren, Fakultäten für Europastudien und dergleichen mehr – die fachliche Struktur von literaturwissenschaftlichen Fakultäten bemerkenswert schwer zu ändern ist. Es lohnt sich jedoch, über die in einem solchen Prozess entstehende Dynamik der Differenzierung nachzudenken. Wie sollte Literatur im Vergleich zu anderen ›Diskursen der Wahrheit‹ platziert werden, die scheinbar mit mehr Berechtigung in Hochschulen eingebettet sind, da die Wahrheiten, mit denen sie sich beschäftigen, offenbar eine offensichtlichere, effektivere und profitablere Beziehung zur Welt als ganzer haben?

      Um uns einer Antwort auf diese Frage zu nähern, müssen wir schauen, was mit der Wahrheit über die vergangenen Jahrhunderte geschehen ist. Es gab eine Zeit – und so lang ist das noch gar nicht her – zu der es schien als wäre der Streit über die Wahrheit gewonnen: als europäische Akademiker sie den Händen der Kirche entrissen – und das obwohl ihre Philosophie noch nicht die Kontrolle über die Theologie erlangt hatte. Während dieses Kampfes dachte man einige Zeit, dass die Frage ›Was ist menschlich?‹ gleichermaßen von der Philosophie und von der Theologie beantwortet werden könne. Diese Zeit ist vorbei; die Kirche verlor die erste Runde des Kampfes und die Philosophie verlor die zweite Runde. Doch für die Philosophie, so erinnert uns Adorno zu Beginn der Negativen Dialektik (1966), erwies sich der Verlust der Wahrheit als großer Gewinn, da er ihr das Überleben sicherte. Adorno vertritt die Ansicht, dass die Philosophie noch immer von großer Bedeutung ist; gerade weil sie ihren großen Versprechungen nicht nachkommen konnte, die Gesamtheit des Lebens zu begreifen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Verteidigung die Philosophie wieder zurück zu der konstitutiven Rolle führt, die Adorno (und Kant vor ihm) gehofft hatten, ihr darin zusprechen zu können, dass sie die Welt zu einem besseren Ort macht. Stattdessen scheint die Philosophie in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, als wäre sie ›fake news‹. Jeder kann Philosophie betreiben, wenn er einen Verlag zum Publizieren findet. Und in der akademischen Welt wurde der feste Griff, mit dem sie die Wahrheit zu umklammern schien von der Technologie gelöst: von der Berechenbarkeit und Modellierbarkeit einer Welt, die nach den Modellen und Berechnungen der jeweiligen Wissenschaft überhaupt erst zustande kommen kann. Infolgedessen wendet sich die Philosophie auf sich selbst; wie ein schmollendes Kind erzählt sie sich selbst Geschichten über die Spielzeuge, mit denen sie nicht spielen darf. Was ist also der Sinn von Philosophie, die wieder und wieder die Geschichte ihres Versagens erzählt, die Gesamtheit des Lebens zu erfassen? Und was hat das mit Literatur zu tun? Diese Frage kann am besten mit zwei Behauptungen angegangen werden:

      1 Es ist richtig zu sagen, dass die Welt, in der wir leben, durch die Technik, die in den letzten paar Jahrhunderten entwickelt wurde, geprägt ist. Aber es ist genauso richtig zu sagen, dass dieser Strukturierungsprozess erst durch die Geschichten über die Natur und den Menschen ermöglicht wird, die wir uns kollektiv und individuell, bewusst und unbewusst, erzählen. Literatur ist der Diskurs dessen, was man vielleicht das historische oder das politische Unbewusste des wissenschaftlich modellierten Menschen nennen könnte: die Geschichten, die versuchen den Menschen als Ganzes zu verstehen und die all die Handlungen, Erscheinungen und Gedanken erforschen, bei denen der Mensch an seine Grenzen stößt.

      2 In den unterschiedlichen Disziplinen leben wir mit unterschiedlichen Vergangenheiten. Aus der Perspektive der Philosophie ist die Vergangenheit nicht auf die gleiche Weise Vergangenheit, wie sie es für die Geschichte der Naturwissenschaft oder der Technologie ist. Technologie macht vergangene Träume wahr. Sie tut dies dadurch, dass sie vergangene Einsichten in sich aufnimmt, um dadurch zu verbessern was zweckmäßig ist und um zu verwerfen, was nicht länger nützlich ist. Literatur funktioniert anders – sie hinterfragt die Idee von Fortschritt als unverkennbares Kennzeichen menschlicher Geschichte. Sie tut dies dadurch, dass sie eine im Fortschrittsdenken der Technologie nicht mehr relevante Vergangenheit neu belebt. Sie tut dies durch Strategien der Darstellung, die historische Zeit negieren, zum Beispiel dadurch, dass die Zukunft beschrieben wird, als wäre sie schon da, oder die Vergangenheit, als wäre sie noch nicht vergangen; dadurch, dass sie Stimmen hervorruft, die weder vergangen noch zukünftig sind, sondern einer ständigen Gegenwart innewohnen. Die so außer Kraft gesetzte wissenschaftliche Zeit ist ein kritisches Momentum – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne des Wortes. Es nähert sich den Naturwissenschaften mit einer gewissen Abneigung – aber es zieht den diskursiv angelegten wissenschaftlichen Wahrheitsbehauptungen gleichzeitig die Maske vom Gesicht und zeigt durch die in der Literatur aufgerufenen alternativen Realitäten, dass wissenschaftliche Zeit nicht die einzige Form von Zeitlichkeit ist.

      Wenn Literatur das Unbewusste des wissenschaftlich modellierten Menschen ist, dann ist es möglich, über die Verwirklichung und Verdrängung ihrer Träume durch die Wissenschaft und die Technologie zu sprechen. Seit Ikarus hat der Mensch davon geträumt zu fliegen. Wir sind mittlerweile seit ungefähr 100 Jahren in der Lage das zu tun – und wir werden immer besser darin. Vögel können uns nicht mehr das Wasser reichen. Wir können uns selbst darin beglückwünschen und behaupten, dass wir einen beinahe vorzeitlichen Traum wahrgemacht haben. Aber damit nicht genug – inwiefern beeinflusst die Realisierung dieses Traums andere Träume? Fliegen wäre unmöglich ohne revolutionäre Erfindungen und Weiterentwicklungen von Materialien wie beispielsweise Metall und Plastik. Welche sozialen, politischen und ideellen Umstände haben diese Revolutionen ermöglicht? Was haben wir gewonnen und verloren, wenn wir die technologischen Fortschrittsträume mit den Momenten vergleichen, in denen dieser Fortschritt tatsächlich Wirklichkeit wird? Und wie befördert die Verwirklichung dieser Träume die Produktion anderer Träume, die wiederrum realisiert werden wollen? Telekommunikation ist ein weiteres Beispiel – was bedeutet die Verwirklichung des Sechzigerjahre-Traums, mit einem Abbild des Gesichts einer anderen Person auf der entgegengesetzten Seite des Globus sprechen zu können? Zwei Dinge werden offenbar, wenn wir versuchen diese Fragen zu beantworten: