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Literaturwissenschaften in der Krise


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nicht fragen können, wenn wir wissen wollen, ob die Erfindungen, die sie hervorgebracht haben, die Vergangenheit verbessert haben. Die Gewinne und die Verluste können nicht einfach nur in der Technologie aufgewogen werden. In der konzeptuellen Sprache der Technologie – und ich wage zu behaupten, dass das ein Axiom der Technologie ist – gibt es eine Art darwinistischer Ausgrenzung ineffektiver Veränderungen, so dass Veränderung immer positiv ist. Sobald ein Traum wahr geworden ist, kann damit abgeschlossen werden. Die Literatur dagegen wälzt sich weiterhin jede Nacht schlaflos im Bett; wollüstig in ihren feuchten Träumen oder gequält in ihren Alpträumen.

      Zweitens können die Gewinne und Verluste nicht auf der Skala einer gemeinsamen Menschheit abgemessen werden, da die wissenschaftliche oder technologische Idee eines solchen universalen Menschseins davon abhängt, die Differenzen, die durch Wissenschaft oder Technologie herbeigeführt wurden, zu verwischen. Die Menschheit, die von wissenschaftlichem oder technologischem Fortschritt profitiert, ist nicht die gleiche, die von der Literatur abstrahiert werden kann. Die literarische Menschheit negiert die individuelle Stimme, die individuelle Geste, während die wissenschaftliche Menschheit die Geographie der Produktion negiert. Die Menschheit sieht für den Besitzer eines IPhones 7 bedeutend anders aus als für die Person, die in der Demokratischen Republik Kongo unter der strengen Kontrolle bewaffneter Aufseher mit nackten Händen Coltan abbaut.

      Genau dieser Kampf zwischen dem wissenschaftlich geformten Menschen und dem literarischen Menschen trifft den Kern der europäischen Aufklärung. Intellektuelle Aufklärer hatten den Traum, dass alle Menschen Wohlstand und Fortschritt in einem gerechten Weltsystem teilen, in dem alle Individuen ihr gesamtes Potential frei entfalten können. Die Literatur unterstützte die Überzeugung einer solchen Gleichheit indem sie die gemeinsame Menschheit als das Fundament aller menschlichen Vielfalt zeigte. Sie meinte das wirklich ernst! Während wir die technologischen Träume der Vergangenheit überaus erfolgreich verwirklichen konnten, haben wir abgrundtief darin versagt, diesen Traum von Gleichheit zu realisieren. Warum? Es war nicht unvermeidlich, dass wir das eine schaffen und das andere nicht. Dafür gibt es, so glaube ich, drei Gründe:

      1 Die Aufklärung knüpfte die Frage nach Menschlichkeit unabdingbar an die Säkularisierung der Wahrheit. Das ermöglichte der Philosophie, ihre holistischen Perspektive auf die Menschheit zu verwerfen. Die Säkularisierung der Wahrheit bedeutete, dass der Mensch zunehmend weniger durch die Augen Gottes gesehen wurde und stattdessen mehr und mehr durch Modelle, die eine solche göttliche Einsicht ersetzten. Der Blick Gottes wurde nicht nur getrübt, sondern seine Augen zerfielen in tausende kleiner Augen, wie die Facettenaugen der Insekten, aber ohne das Nervensystem, das es ihnen ermöglicht hätte, ein einheitliches Bild zu kreieren oder einen Reiz zu senden, der einheitliche Handlungen hervorruft.

      2 Die Modernisierungen in den sozialen, politischen und ökonomischen Bereichen bewirkten einen solch rapiden Umbruch, dass Fragen der Gleichheit von der Unfähigkeit politischer Systeme, Änderungen in anderen Bereichen zu koordinieren, unterminiert wurden.

      3 Die entstehende Weltwirtschaft zwang Philosophen dazu, jegliche Fragen bezüglich Menschheit in den Kontext kultureller Differenz zu setzen und Austauschpraktiken jeglicher Form zu homogenisieren. Die Homogenisierung des Handels verbreitete Theorien darüber, wie der Handelsverkehr kulturelle Ungleichheiten ausgleichen und damit den Menschen als das Wesen hervorbringen könnte, dessen Wünsche und Bedürfnisse überall gleich sind.

      Wenn wissenschaftliche Wahrheitsdiskurse beständig in der teleologischen Produktion von den Wahrheiten gefangen sind, die sie selbst formen, und die Philosophie immer einen Schritt hinter dem zurück ist, was die Wissenschaft kreiert hat, was ist dann mit der Literatur? Bei jedem Schritt schaute die Literatur überrascht, fasziniert und bestürzt zu, wie der Versuch den Menschen zu verstehen nach und nach in den Händen zerrann. Eine Geschichte der Literatur, die diesen Prozess verfolgt und die kontinuierliche Destabilisierung des Menschen als das, was aus ihm geworden ist, festhält, muss erst noch geschrieben werden

      Literatur hebt den teleologischen Pakt wissenschaftlicher Wissensdiskurse mit der Technologie auf, indem sie mit der Philosophie kommuniziert. Wenn Philosophie mit der Literatur spricht, nennt man das Theorie; den Metadiskurs über literarische Texte. Es gibt einen Grund dafür warum dieser Dialog in Deutschland Literaturwissenschaft genannt wird. Gleich der Wissenschaft legt sie ein Wahrheitsgelübde ab – aber ungleich der Wissenschaft ergeht sich dieses Gelübde nicht in technologischen Veränderungen der Welt. Stattdessen hält sie die Wahrheit auf Distanz; destabilisiert sie durch die inhärenten Spannungen zwischen der Allgemeingültigkeit ihrer einen menschlichen Stimme und der Partikularität ihrer vielen menschlichen Stimmen. Man kann sich Literatur nicht ohne diese Destabilisierung der Wahrheit vorstellen.

      Bei Literatur und Literaturwissenschaft aktiviert die Frage nach einer gemeinsamen Menschlichkeit und menschlicher Vielfalt einen wechselseitigen Dialog zwischen Philosophie und Ästhetik (die Lehre der Ausdrucksform). Die philosophische Frage ›was ist menschlich?‹ kann nicht adäquat beantwortet werden – nicht nur, weil die Antwort bereits de facto in den technologischen Veränderungen des Menschen und der Welt vorliegt, sondern auch weil es sowohl eine allgemeingültige wie auch eine partikulare Antwort gibt, die sich (zumindest teilweise) gegenseitig ausschließen. Eine solche Ausschließung befördert die ästhetische Experimentierfreude mit Ausdrucksformen des Menschen und ihrem Spiel mit den Grenzen menschlicher Erscheinung – oder mit der Partikularität menschlicher Erscheinung. Dieses Spiel mit Grenzen und Partikularitäten ist jedoch noch solange nicht gänzlich entfaltet, bis es in einen analytischen Metadiskurs mündet. Ästhetische Repräsentationen von Menschlichkeit, von Unmenschlichkeit und menschlicher Differenz und Vielfalt müssen notwendig offen bleiben, damit sie analysiert werden können um so zurück auf die Theorie, auf den Metadiskurs, auf die Philosophie zu verweisen. Und so schließt sich der Kreis.

      Sowohl Literatur und Metadiskurs wie auch Ästhetik und Philosophie sind eng verbunden mit Diskursen und Institutionen, die auf Verhandlung und Interpretation basieren. Diese Interaktion generiert und unterhält mein Forschungsfeld. Die Bezeichnung meines Jobs ist zwar ›Literaturprofessor‹, aber ich untersuche eben diese sich gegenseitig konstituierende Beziehung, in der die Literatur der Philosophie Bilder bereitstellt, um Licht und Form in die unklaren, schattigen Konzepte zu bringen, wenn die philosophische Sprache die Welt nicht länger erklären kann; und die Philosophie stellt der Kunst im Gegenzug eine analytische Sprache bereit, um ihre Bilder zu konzeptualisieren, um zu sagen, was die Kunst unfähig war zu äußern. Die Romantiker nannten das Poiesis. Wir mühen uns seit einiger Zeit ab, den institutionellen Raum und Rahmen zu finden, in den diese Beziehung wirklich gehört. Manchmal nennt man ihn Vergleichende Literaturwissenschaften, manchmal Literaturtheorie, Literaturwissenschaft, oder einfach nur Theorie. Bemerkenswerterweise hat dieses zentrale Forschungsfeld an Universitäten größtenteils noch immer kein Obdach gefunden.

      3 Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden Krise

      Ein Versuch

      I-Tsun Wan

      Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben.

      Heinrich von Kleist an Rühle von Lilienstern, November 1805 (Kleist 92001: II, 761)

      Krise und Literatur

      Zweifelsohne befinden wir uns in einer krisenbehafteten Welt/Epoche – wenn nicht gar mitten drin in einer Krise. Gegen diese totalitäre Wir-Aussage hätte sich früher wohl einwenden lassen, dass man sie nur aus einer ***-zentralistischen Perspektive konstatiert und die Heterogenität der Welt willkürlich-wissend ignoriert. Infolge der Globalisierung hat die Welt allerdings eine gewisse Homogenität erlangt, die diese totalitäre Aussage, wenn auch nicht ermöglicht, so doch voraussetzt. Je stärker die Welt globalisiert wird, desto weniger utopische En- bzw. Exklaven bleiben als ›Nicht-Ort‹ übrig. Folglich geht es, wenn heutzutage die Welt als in einer Krise befindlich beschrieben wird, um eine totalitäre Krisensituation, sei es eine Militär-, eine Klima-, eine Infektionskrise oder eine Krise durch einen Computervirus usw. Im etymologischen Sinne bedeutet die Krise eine »entscheidung in einem zustande, in dem altes und neues, krankheit