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Literaturwissenschaften in der Krise


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wären oft angebracht. Schließlich ist nicht jeder, der schnell lesen kann, ein guter Philologe. Dazu bedarf es spezifischer und seltener Begabungen, eines hohen sprachlichen Feingefühls, einer langen Ausbildung und komplexer Kompetenzen.

      Die Lage auf der anderen Seite der Literaturwissenschaften, also auf der kritisch-innovativen, ist womöglich noch schwieriger zu beschreiben, denn sie zeichnet sich durch ein hohes Maß an Veränderungen aus, die sowohl den Bereich der zu erforschenden Gegenstände – also eigentlich Texte und Bücher – als auch Methoden und Theorien und so letztlich immer das Selbstverständnis des Faches betreffen. Die Germanistik hat sich – und das gilt in etwas anderer Weise auch für andere Nationalphilologien – mit der Geschichte der jeweiligen Nationalstaaten im Rahmen einer Globalgeschichte der letzten 200 Jahre vollkommen gewandelt. Und dies ist selbstverständlich nur zu begrüßen: Als Selbstversicherung einer nationalen, bürgerlichen Identität ist das Fach obsolet geworden, ja, es wäre eine politische Provokation.

      Die entscheidenden Impulse kamen dabei aus verschiedenen Literaturwissenschaften und aus den neu entstehenden Kulturwissenschaften, die zusammen seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Herausforderungen einer sich selbst suspekt werdenden Moderne begegneten und sie auf kreative und einflussreiche Weise aufarbeiteten. Das Fach Germanistik bzw. die Literaturwissenschaften haben sich durch diese Einflüsse fundamental verändert: Manche Gebiete, die zuvor als kleine Unterabteilungen fungierten – wie die Medienwissenschaften –, haben eine spektakuläre Konjunktur erlebt und sind zu eigenen Fächern, ja Fachbereichen geworden. An anderen Stellen haben sich Querverbindungen und Vernetzungen gebildet – etwa in allen Bereichen des ›Transkulturellen‹, des ›Postkolonialen‹ –, die dafür sorgen, dass die Grenzen des Faches diffus – noch diffuser – wurden. Im Grunde sind Fächergrenzen immer diffus, das zu ignorieren, lässt ideologische Interessen vermuten.

      Man könnte hier verschiedene Beispiele für die Art und Weise der Wirkung und Bedeutsamkeit kulturwissenschaftlicher Forschung anführen; ich wähle die lange und hochinteressante Debatte über ›Erinnerung‹ und Gedächtnis, die heute in vielen Sparten geläufig ist. Sie angestoßen zu haben, ist u.a. ein Verdienst von Aleida und Jan Assmann, die dafür 2017 berechtigterweise einen der höchst dotierten Wissenschaftspreise, den Balzan-Preis, erhielten. Wenn heute Begriff und Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹ viel geläufiger sind als der Name der beiden ›Erfinder‹, so ist das eine ähnliche Leistung wie diejenige, das ›Unbewusste‹ entdeckt oder erfunden zu haben. Die Problematisierung von ›Erinnerung‹, die Konzeption des kulturellen Gedächtnisses und deren Theorie verhalfen gerade zur kritischen Revision nationalistischer Selbstkonstruktion, und diese Kritik diente nicht nur der Dekonstruktion nationaler Mythen, sondern eben auch der Dekomposition von Disziplinen, die ursprünglich solche nationalen Selbstfindungsfunktionen erfüllten. Solche Themenfelder weiterhin zu identifizieren und zu bearbeiten, ist heute dringender denn je. Ohne kulturwissenschaftliche Expertise wird man dem verheerenden Trend zum Vergessen nicht beikommen.

      Die Geisteswissenschaften können nicht mit den gleichen Kriterien der Relevanz, der Effektivität und der Produktivität evaluiert werden wie technische oder naturwissenschaftliche Fächer. Wie wollte man den Wert der Assmannschen Forschungsleistung evaluieren, die sich über Jahrzehnte entfaltet und sich über die verschiedensten Gebiete politischer Entscheidungen, disziplinärer Forschung, internationaler Beachtung und kultureller Wirksamkeit, ja sprachlicher Veränderung und Innovation erstreckt? Ein Einfluss, der weit größer sein dürfte als derjenige, den einzelne Wissenschaftler*innen, wie die vom Spiegel apostrophierten, je gehabt haben dürften. Vermissen wir die ›großen‹ alten Männer wirklich? Können wir an ihnen den Einfluss eines Faches bemessen? Es dürfte doch vielleicht den ebenfalls viel geschmähten Gender Studies zu verdanken sein, dass wir darüber heute differenzierter urteilen können.

      Im Grunde können wir festhalten, dass gerade die Literaturwissenschaften diejenigen Stimmen hervorbringen, die im richtigen Moment darauf hinweisen, dass sie sich – in bestimmter Hinsicht – überlebt haben. (Das gilt übrigens auch für den Verfasser des kritischen Spiegel-Artikels, der – natürlich – u.a. Germanistik studiert hat.) Aber was – bitteschön – will man denn sonst? Das genau ist doch die viel beschworene kritische Haltung, die man sich von Akademiker*innen wünscht.

      Oft geht es um sehr komplexe und ernsthafte Auseinandersetzungen mit hoch komplizierten Entwicklungen. Wir werden z.B. zweifellos in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vollkommen neue Konzepte von Weltgeschichte und Weltliteratur brauchen. Leider wird uns Goethe – auch wenn er den Begriff populär gemacht hat – nicht viel weiterhelfen können. Allein die Daten- und Textmengen werden sich nur mit Hilfe von Digitalisierungsmethoden verwalten lassen, denn Weltliteratur ist eben nicht die Kombination von Schiller, Montaigne, Shakespeare und Cervantes, sondern umfasst Mythen und Lieder, Romane und Geschichten, Anekdoten und Märchen der ganzen Welt und aller Sprachen. Im Moment kann sich – trotz gegenteiliger Behauptungen – niemand vorstellen, wie eine Literaturwissenschaft aussehen soll, die mit solchen Mengen umgehen kann, und in der Zwischenzeit behelfen wir uns mit meist eurozentrischen Hilfskonstruktionen, die methodisch unseriös sind, da sie ungerechtfertigterweise – oft leider nur implizit – Repräsentativität postulieren. Eine ganze Reihe anderer Entwicklungen – etwa im Bereich der Digital Humanities oder der Neuroästhetik – könnte hier ebenfalls und mit gleichem Recht genannt werden.

      Es mag für manche ›irrelevant‹ klingen, sich mit der Frage nach Weltliteratur zu beschäftigen, angesichts von Dieselskandal und Flüchtlingskatastrophen. Tatsächlich werden die Auswirkungen eines Umbaus literaturwissenschaftlicher Fächer und Konzepte erst in vielen Jahren wirklich zu spüren sein. Es handelt sich dabei um Entwürfe für einen Umgang von Ethnien, Nationen und Kulturen in postkolonialen Kontexten, für die es sich lohnt, lange Zeit zu investieren. Dieser Umbau von Disziplinen und Fächern wird nicht nur universitäre Forschung, sondern eben auch Lehrpläne und Kulturprogramme, die Politik und den alltäglichen Umgang miteinander prägen. Dies allerdings nur, wenn man diejenigen, die in diesen Bereichen arbeiten, auch anerkennt; und dies bedeutet: sie für ihre Arbeit entlohnt und ihnen zuhört. Hier mit Umsicht vorzugehen, wird gut sein. Man wird dabei auf alte Wissensbestände zurückzugreifen haben: Und da werden die Kritischen und die Kurator*innen im Bereich der Humanities kooperieren müssen.

      Wohlfeil ist es auch, über ›Gender-Studies‹ zu spotten (vgl. Handelsblatt 2013; Emma 2017): Wer aber hätte es noch in den 80er Jahren für möglich gehalten, dass sich in unseren Gesellschaften homosexuelle und transsexuelle Lebensentwürfe innerhalb von drei Jahrzehnten durchsetzen lassen? Begriffe, Konzepte, ethische Forderungen und normative Umbesetzungen wurden in der Politik konkret, aber sie wurden erst einmal in der Theorie vorgedacht und debattiert. Wo hätten sie denn entwickelt werden sollen, wenn nicht an den Universitäten? Heute, wo das alles selbstverständlicher geworden ist, lässt sich gut spotten. Die ersten Seminare zu Gender Studies anzubieten, war eine Leistung – und sie hat sich gelohnt. Allerdings lässt sie sich eben schlecht messen. Dazu muss man schon etwas genauer hinsehen, etwas mehr Ahnung von Kulturgeschichte haben und einen etwas längeren Atem mitbringen … Alles so genannte ›soft skills‹, die man sich etwa in einem historischen oder kulturwissenschaftlichen Studium aneignen kann.

      Kaum ein Artikel zur Lage der Literatur- und Kulturwissenschaften kommt ohne einen Verweis auf die besondere Bedeutung von ›Kritik‹ oder ohne das Lob des kritischen Geistes aus, den man in diesen Fächern erlernen oder erwerben kann. Felski weist darauf hin, dass viele »critique« als eine Art »guiding ethos« der Humanities verstehen (Felski 2016: 216). Das ist sicherlich nicht falsch, bleibt aber oft unkonkret. Was soll man sich genau unter dieser Kritik oder dem kritischen Geist vorstellen? Ist Kritik nicht oft auch zu wenig (vgl. Felski 2017: 344–51)? Statt nur auf die kritische Komponente der Humanities möchte ich daher hier auf einen anderen Aspekt hinweisen, der sicherlich Teil von kritischen Reflexionen ist, aber nicht darin aufgeht: Die Fähigkeit, zu urteilen.

      Urteilen ist eine komplexe Praxis und beginnt bereits mit der Auswahl von Adjektiven, wenn man einen Sachverhalt beschreibt, mit dem Einsatz bestimmter Metaphern, wenn man eine Handlung, einen Gegenstand oder auch eine Person nachzeichnet. Jeder kennt das aus Bewerbungsgesprächen: Die erfolgreiche Frau ist ›ehrgeizig‹, der Mann ›durchsetzungsfähig‹. Der ›kleine