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Literaturwissenschaften in der Krise


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Simulation von mündlichen Erzählakten verhaftet, deren unhintergehbare Subjektivität zudem hinter den Plausibilisierungsstrategien des Erzählvorgangs verschwindet. Mit der Wende hin zum nunmehr als literarisch im emphatischen Sinne anerkannten Roman des Modernismus allerdings setzt sich auch hier eine erhöhte Selbstreferentialität durch, die sich sowohl auf die Dimension der Subjektivität (Bewusstseinsstrom, innerer Monolog) als auch auf die Vermittlungsformen des Narrativen selbst bezieht.

      Gerade der Roman stand dabei von Beginn an in enger Beziehung zur modernen Wahrheitsproblematik. Für eine Gattung, die sich der Darstellung einer fiktionalen Version der zeitgenössischen Wirklichkeit verschrieben hat, stellt sich die Frage nach dem Unterschied zwischen Lüge und Konstruktion mit besonderer Heftigkeit, bieten doch die neuartigen gedruckten Erzählungen, wie Elena Esposito herausarbeitet, eine »fiktive Realität, die nicht mit der realen Realität konkurriert, sondern eine alternative Beschreibung darstellt, die die verfügbare Komplexität weiter erhöht« (2007: 31). Die hier identifizierte, auf »Realitätsverdoppelung« (31) basierende neue kulturelle Funktion teilt der Roman mit der zur gleichen Zeit entstehenden Wahrscheinlichkeitsrechnung: Beide bieten »jene Orientierungsmöglichkeiten,« die nach allgemeinem Empfinden der damaligen Zeit »die ›reale Realität‹ nicht [mehr] zu bieten hat« (55), beide »stellen […] eine irreale, aber realistische Realität dar, gerade weil sie diese vereinfachen und auf eine Weise durchschaubar machen, die die reale Welt nie zulassen würde« (57). Esposito erblickt in Roman und Wahrscheinlichkeitsrechnung programmatische kulturelle Praktiken, die »die Modernität der Konstruktion« in einer »Gleichzeitigkeit von Kontingenz und […] Abwesenheit von Willkür« verankert (68). Der Roman bindet dabei kontingente, vom Leser im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung wahrgenommene Erzähler- und Figurenperspektiven in eine sich stringent entfaltende Weltkonstruktion derart ein, dass »eine Dynamik in Gang gesetzt wird, die keineswegs notwendig ist, die sich aber dennoch nicht willkürlich entwickelt.« (70) Die Wahrscheinlichkeitsrechnung hingegen sieht vom Visuell-Lebensweltlichen ab und transformiert stattdessen kontingente Informationen aus Gegenwart und Vergangenheit in eine abstrakt-mathematische Projektion der Zukunft, die den Eindruck erweckt, sie könne »reale Realitäten integrieren und […] in die komplexe und gegliederte Ontologie der modernen Gesellschaft umwandeln.« (70)

      Damit sind zwei verschiedene Formen der Fiktion markiert, die sich einerseits auf die Leitdiskurse Aufklärung (Wahrscheinlichkeitsrechnung) und Romantik (Roman) beziehen lassen und andererseits bis heute auf unterschiedliche Weise die Funktion der Realitätsverdoppelung erfüllen. Esposito verweist hier auf den

      paradoxe[n] Zustand einer Gesellschaft, die die Realität der Fiktion bestreitet, die aber zugleich Umfragen und Statistiken die zweifelhafte Rolle eines ›Realitätsersatzes‹ zuweist. […] Während im Bereich der fiction das Bewußtsein für die Unwirklichkeit der fiktiven Realität […] weit verbreitet ist, scheint dieses Bewußtsein in bezug auf die Wahrscheinlichkeit viel weniger stark ausgeprägt zu sein. (70–71)

      Auf der einen Seite also steht eine »eigenartige quantitative Blendung« (72), die als »funktionierende Simplifikation« bis heute Empirie und damit die exklusive Berechtigung zu Aussagen über die Wirklichkeit für sich beansprucht (73). Auf der anderen Seite steht ein erfahrungsgesättigter Weltzugang qualitativer oder hermeneutischer Art, dem aufgrund seiner subjektiven Anteile Objektivität abgesprochen wird, obwohl ihm doch im Gegensatz zur Formalisierung quantitativer Studien ein größeres Potential zur Berücksichtigung von »Wechselwirkungen, Rückbezüglichkeiten und Kontingenz« zur Verfügung steht (73). Die eingangs beschriebene Kritik am Konstruktivismus, so zeigt sich hier, beruht darauf, dass »die Vorstellung vom Sonderstatus der realen Realität nach wie vor weit verbreitet ist.« Dabei werden doch »alle theoretisch anspruchsvollen Varianten des Konstruktivismus« (71) angesichts der Komplexität der Welt nicht müde darauf hinzuweisen, dass es nötig wäre, »Kontrollformen zu denken, die auch funktionieren, wenn man nicht die Welt, sondern die Beobachter zum Bezugspunkt macht.« (73)

      In anderer Worten: Was real ist, ist die Operation der Beobachtung, nicht ihr Inhalt, der immer Re-Präsentation der Wirklichkeit bleibt und niemals zur Realität selbst in Kontakt steht. Der Roman hat diese Einsicht, nicht zufällig parallel zum Linguistic Turn der Philosophie, im Modernismus in gesteigerte Selbstreferentialität linguisitischer, narrativer und diskursiver Art umgesetzt, womit sein Akzent sich von Repräsentation auf Performativität verlagerte, ohne dass deshalb die Repräsentation völlig aufgegeben wurde, was ja angesichts der Zeichenhaftigkeit von Sprache auch nur schwer zu erreichen ist. Der Roman erfüllt zudem bis heute seine im 18. Jahrhundert angelegte Funktion einer Überführung von privater individueller Erfahrung in den Bereich der Öffentlichkeit, auch wenn er angesichts der Verlagerung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit von der Welt des Buchdrucks in eine Welt der elektronischen und digitalen Medien zunehmend marginalisiert erscheint. Er ist damit das früheste und bis zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich komplexeste Medium für den Umgang mit dem, was Fritz B. Simon ›weiche Realitäten‹ nennt, »bei denen die Beobachtung zumindest das Potential hat, den beobachteten Gegenstand zu verändern«: »Wer gesellschaftliche Verhältnisse […] in einer bestimmten Weise beschreibt, verändert sie (zumal diese Beschreibung, wenn sie kommuniziert wird, Element dessen ist, was beschrieben wird)« (Simon 2017; ›harte Realitäten‹ sind demgegenüber »Gegenstände […], die sich durch die Tatsache des Beobachtetwerdens wenig beeindrucken lassen«, wie z.B. Sonne und Sterne). Als reale Operationen sind also Konstruktionen insbesondere ›weicher Realitäten‹ »nicht nur selbst real, sondern haben auch reale Auswirkungen, sie sind […] ›performativ‹« (Sasse und Zanetti 2017). Und dasselbe gilt, womöglich in etwas geringerem Ausmaß, auch für Konstruktionen ›harter Realitäten‹, die im Kontext der Naturwissenschaften als ›Wirklichkeitserzählungen‹ kommuniziert werden (vgl. z.B. Harré 1990, Brandt 2009), so dass auch eine großangelegte Geschichte der Objektivität in ihrem letzten Kapitel letztlich eine Akzentverschiebung von der Repräsentation zur Präsentation konstatiert (Daston und Galison 2007: 385)

      Mittelbare Wahrheiten

      Mit all dem zeigt sich, dass Niklas Luhmanns Modellierung der modernen Gesellschaft als sich ausdifferenzierender Zusammenhang autopoietischer, d.h. sich selbst hervorbringender und vorantreibender Kommunikationen in Kombination mit den skizzierten literatur- und kulturgeschichtlichen Einsichten einen möglicherweise entscheidenden Schlüssel zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Situation bieten könnte. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Stichwort von der ›Realitätsverdoppelung‹ (vgl. dazu auch Luhmann 2000: 58–64), das wiederum im Zusammenhang mit dem systemtheoretischen Verständnis von ›Sinn‹ zu sehen ist:

      Sinn gibt es ausschließlich als Sinn der ihn benutzenden Operationen, also auch nur in dem Moment, in dem er durch Operationen bestimmt wird, und weder vorher noch nachher. Sinn ist demnach ein Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität, die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt. (Luhmann 1997: 44)

      Ganz im Sinne der ›Realitätsverdoppelung‹ existiert ›Sinn‹ nun aber in zwei Dimensionen: Obwohl es nicht (immer) notwendig wäre, wird der der Welt im systemtheoretischen Verständnis innewohnende operativ-prozesshafte Sinn von Menschen unablässig mit ›Welt‹ (Repräsentationen, Zeichen, Bildern, Sprache) gefüllt. Für die ›Welt‹ ergibt sich durch die in dieser Dimension gegebenen Speicherfunktion bei gleichzeitiger Simulation von Weltreferenz eine Suggestion von Bedeutung, die häufig für wahr im Sinne der Korrespondenztheorien genommen wird, obwohl sie doch bestenfalls wahr im Sinne der Kohärenz-, Konsens- oder Diskurstheorien der Wahrheit ist. Auch über Roman und Wahrscheinlichkeitsrechnung hinaus liegt somit in der modernen Kultur eine Realitätsverdoppelung vor, die es schwer macht, jenseits einer Anerkennung dieser konstitutiven Differenz zwischen Welt und ›Welt‹ von der Wahrheit zu sprechen. Aus dieser Perspektive gibt es immer mindestens zwei Wahrheiten, nämlich einerseits die operative Sinnhaftigkeit des (evolutionären) Vollzugs der Welt, wie sie sich in den fortlaufenden Systemoperationen auf organischer, psychischer und sozialer Ebene manifestiert, und andererseits den Reim, den sich Menschen in Form von Sinn (normale Sprachverwendung) und Bedeutung darauf zu machen vermögen.

      In jüngerer Zeit scheint zudem die Kluft