Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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      Chiara Maria Buglioni

      Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst

      Artur Kutscher und die Praxisdimension der Münchner Theaterwissenschaft

      A. Francke Verlag Tübingen

      © 2016 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

      Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

      www.francke.de[email protected]

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      E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

      ePub-ISBN 978-3-8233-0006-9

      

      Vorwort

      Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Anfängen der Theaterwissenschaft in München und der Rolle des „Theaterprofessors“ Artur Kutscher in der Entwicklung der Disziplin. Als ich zum ersten Mal auf den Namen Artur Kutscher stieß, war es aus reinem Zufall: Für meine Masterarbeit beschäftigte ich mich mit den Ingolstädter Stücken Marieluise Fleißers und erfuhr dabei, die Dichterin hatte 1920 theaterwissenschaftliche Veranstaltungen bei Kutscher belegt. Kurz davor hatte auch Ödön von Horváth an der Münchner Universität Seminare und Vorlesungen des Theaterprofessors besucht; selbst Bertolt Brecht war ein Kutscher-Schüler gewesen. Das war für mich wie eine Erleuchtung: Die kanonisierten Hauptvertreter des kritischen Volksstücks, ja die wichtigsten DramatikerInnen der Zeit gehörten am Anfang ihrer Karriere zur Kutscher-Hörerschaft. Die Figur des Theaterprofessors erregte mein besonderes Interesse und ich fing damit an, Informationen über Kutschers theaterwissenschaftliche Bemühungen zu sammeln. Es stellte sich allerdings sofort heraus, dass so gut wie keine wissenschaftliche Literatur zu Artur Kutscher existierte und dass sein Nachlass noch fast unerforscht war. Aus den Berichten und Erinnerungen von Kutschers Studenten und Freunden gewann man den Eindruck, der Theaterprofessor sei nicht nur eine Legende in der Münchner Kulturwelt, sondern auch einer der Bahnbrecher der deutschen Theaterwissenschaft gewesen. In den Einführungen in die Wissenschaft des Theaters konnte man indessen nur ein paar Zeilen über Artur Kutscher lesen, entweder im Widerspiel mit der Berliner Schule Max Herrmanns oder in Einklang mit Carl Niessens Theorie, das Theater habe im Mimus seinen Ursprung. Das schien mir ein paradoxer Tatbestand zu sein. In München fand ich dann eine städtische Artur-Kutscher-Realschule, einen von Lothar Dietz geschaffenen Artur-Kutscher-Brunnen am gleichnamigen Platz im Herzen Schwabings und sogar eine Bronzebüste des Theaterprofessors im Büro des Direktors des Instituts für Theaterwissenschaft an der LMU. Wenn aber der Name Artur Kutscher gelegentlich vor den Studenten der Münchner Universität erwähnt wurde, merkte ich, dass der „Außerordentliche“ – wie die Kutscher-Schüler ihren Lehrer nannten – heute kaum bekannt ist. Solche offensichtlichen Widersprüche führten mich zur intensiven Beschäftigung sowohl mit der frühen Theaterwissenschaft als auch mit dem heutigen Stand der Disziplin. Ein wesentliches Bindeglied zwischen den Anfängen der Theaterwissenschaft in München und den Fragen, die in den letzten Jahrzehnten ins Zentrum der Debatte über die akademische Kunstforschung gerückt sind, identifizierte ich in der Praxisdimension. Die Theaterforschung geht für Kutscher immer mit der Generierung und Pflege eines nicht nur theoretischen sondern auch praktischen Wissens einher, und die Praxis selbst galt als Forschung. Alle Leistungen der Münchner Theaterwissenschaft lassen sich in den ersten Entwicklungsstufen auf einen Nenner bringen: die Verflechtung zwischen Theorie bzw. Historiographie und Praxis, die Vermittlung zwischen Kunst(forschung) und Leben. Gerade diese Dimension wurde von den anderen Begründern der Disziplin zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum berücksichtigt, sodass die Untersuchung sowie die Entwicklung der Praxisdimension im theaterwissenschaftlichen Bereich als charakteristisches Zeichen der Arbeitsgruppe um Artur Kutscher aufgefasst werden kann.

      Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen geht es in Teil I dieser Arbeit darum, zu zeigen, wie Artur Kutscher im Gegensatz zu seinen Kollegen eine wissenschaftliche praxisbasierte Forschung durchführte; darüber hinaus werden Bedeutung und Benutzung des ‚Praxis‘-Begriffs in der Theaterwissenschaft von den Anfängen bis heute erörtert. Die starre kategoriale Unterscheidung zwischen intellektuellem Wissen und praktischem Verstand wurde erkenntnistheoretisch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgegeben – insbesondere dank des Beitrags von Gilbert Ryle, Michael Polanyi und Pierre Bourdieu – und die Praxis wurde sowohl von der Diskursanalyse als auch von der Interdiskursanalyse in den Vordergrund gerückt. Im ersten Teil wird auch das methodologische Instrumentarium der Untersuchung dargestellt: Als Ansatzpunkt wird die Theorie der situierten Kognition angewandt, die dem Vorbild von Jean Lave und Etienne Wenger folgt und die den individuellen sowie gesellschaftlichen Lernprozess als eine kontextbezogene Transformation des Wissens versteht, welche persönliche Veränderungen mit der Entwicklung von Sozialstrukturen kombiniert. In Laves und Wengers Auffassung hängt das situierte Lernen von der auf verschiedene Weisen legitimierten Teilhabe an Communities of Practice ab.1 Diese Teilnahme ist daher ein konstituierender Bestandteil für den Lerninhalt und für die Identitätskonstruktion im Verhältnis zu den Lerngemeinschaften. Um festzustellen, in welchem Ausmaß Artur Kutscher die Theaterwissenschaft als einen situierten Kontext des Lernens verstand, werden erstens die Grundkonzepte ‚Praxis‘ und ‚Gemeinschaft‘ untersucht; zweitens wird der Begriff ‚soziale Landschaft‘ und die Art und Weise, wie globale Partizipation und lokale Teilhabe aufeinander wirken, zum Gegenstand der Analyse gemacht. Am Ende dieses Teils richtet sich der Blick auf die Entwicklungsstufen einer CoP und auf die Verkoppelung zwischen Lehrtätigkeit und Performativität beim Theaterwissenschaftler Kutscher, denn beim Lernen handelt es sich um den Vollzug bestimmter Aufgaben, Formalitäten und Riten, also um den Zugang zu einer Performance.

      Teil II führt in die wichtigsten kulturellen Debatten, Reformversuche der Kunst und Künstlerkreise ein, die in der Prinzregentenzeit die Schwabinger Bohème prägten und welche zur sog. „Theatralisierung der Kultur“ maßgeblich beitrugen. Kutschers kulturelles Engagement bis 1909 bzw. seine Teilnahme an unterschiedlichen Gruppierungen sowie am Meinungsaustausch über das lebendige Theater war die Vorbedingung für die Förderung und Koordination einer praxisorientierten Theaterwissenschaft.

      In Teil III geht es um die Darstellung der ersten Entwicklungsphase der von Kutscher geleiteten theaterwissenschaftlichen Arbeitsgruppe. Um die Konturen der neuen Disziplin zu verschärfen, entwarf Kutscher zunächst eine grundlegende Theorie, die den Untersuchungsgegenstand ‚Theater‘ beschrieb und den Modus Operandi der Theaterforschung vorschlug. Zum einen erarbeitete er die Konzepte ‚Kritik‘ und ‚Stilkunde‘ und stellte sich die Frage nach der Objektivität der Untersuchung, zum anderen rechtfertigte er die Anwesenheit eines spezifischen theaterwissenschaftlichen Forschungsbereiches. Der Kutscher-Kreis führte dann die Praxis seiner CoP weiter und versuchte hierzu, eine Balance zwischen Expertise und Erfahrung zu finden. Durch Universitätsvorlesungen und Seminare, Übungen in praktischer Kritik, Autorenabende, Führungen, Studienfahrten, Lehraufführungen und persönliche Kontakte mit Theaterleuten beabsichtigte die Arbeitsgruppe Kutschers, die gemeinschaftsbildenden Aktivitäten zu erweitern, und sie befasste sich auch mit der Festlegung unterschiedlicher Partizipationsstufen. In wenigen Jahren konfigurierte sich der theaterwissenschaftliche Kurs an der LMU als ein gut strukturiertes Lernsystem mit festen Grenzen und produktiven Beziehungen zu anderen Gruppierungen.

      Teil IV stellt die Reifephase der Münchner Theaterwissenschaft um Artur Kutscher vor. Ungefähr ab 1919 beschäftigte sich der Kutscher-Kreis mit dem Ursprung des Theaters, was insbesondere angesichts der Steigerung des kulturellen Engagements der Gemeinschaftsmitglieder und der Verstärkung des gemeinsamen Zieles Relevanz bekam. Als Referenzmodell der CoP wurde die Mimustheorie Hermann Reichs verwendet, wobei die Theaterwissenschaft ihren Wissensbereich über die Grenzen der traditionellen Theatergeschichte