Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


Скачать книгу

Das Konzept Praxis hat sich in der Geschichte der Theaterwissenschaft allmählich herausgebildet und ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand das praktische Wissen nun auch neben und manchmal vor der theoretischen Erkenntnis in Kunstfragen Beachtung. Deshalb ist es zunächst notwendig, Kutschers Auffassung von Praxis darzulegen und dann die Entwicklung des Konzepts und der ihm verbundenen Problematiken zu beschreiben. Am Ende werden in der früheren Münchner Theaterwissenschaft mehrere Schwerpunkte wieder zu erkennen sein, die auf ein praxisbasiertes Untersuchungsverfahren hinweisen, etwa die Reflexion über das Wesen des Theaters – sowie des Kunstwerkes –, die Frage nach der Objektivität der theaterwissenschaftlichen Forschung ebenso wie die Gedanken über Forschungsmethoden, Anwendung von Materialien, Feldforschung und direkte Partizipation der Forschenden.

      Entscheidend für die Auffassung einer Kunstforschung, die nicht nur Forschung über ein künstlerisches Objekt ist, sondern die durch und für die konkrete Kunstpraxis betrieben werden muss, ist zuallererst die Definition des spezifischen Wissensbereichs. Kutscher erklärte wiederholt, das Gebiet der neuen wissenschaftlichen Disziplin umfange nicht nur das Drama, sondern auch Tanz, Schauspielkunst, Regie, Bühne, Dekoration, Technik sowie »Praxis und Gegenwärtigkeit und Lebendigkeit« (1936: 192). Praxis ist in dieser Hinsicht eine Komponente des facettenreichen Forschungsgegenstands, der sich als Aufführung schlechthin bestimmen lässt. Kutscher identifizierte nämlich die Aufführung mit dem Zusammenwirken eines textlichen und eines darstellerischen Elements, die dem Publikum und den Darstellern »genügend Erlebensmöglichkeiten« biete (1936: 10). Als solche entspreche die Aufführung einem Kunstwerk – und zwar einem organischen Lebewesen, Stil und Ausdruck menschlicher Existenz – und die theatralische Kunst einem Kulturfaktor. Kutschers Begriff von Aufführung und Theaterkunst hat in Wilhelm Diltheys Ästhetik seinen Ursprung, deswegen unterschied der Theaterprofessor im Theater zwei Bestandteile: das Universal, d.h. die menschliche Natur, und das Lebensgefühl der Gegenwart. Mit diesem Unterschied erklärte Kutscher die Tatsache, dass das Theater immer einen Prozess innerer Wandlung durchmacht, der sein Wesen nicht verändert, doch zeitgeschichtliche sowie gesellschaftliche Bedingtheiten registriert. In dem aufgeführten Kunstwerk suchte die von Kutscher geförderte Theaterwissenschaft dann sowohl die Gegenwärtigkeit als auch den ewigen Geist; gleichfalls verfolgte sie in der Forschung bzw. im Lernprozess die direkte Erfahrung und die kritische Reflexion über jene Erfahrung. Praxis wurde somit auch als Element des Untersuchungsverfahrens betrachtet. Es sei erst die dynamische, wechselseitige Beziehung zwischen Praxis und wissenschaftlicher Forschung, die zu einem komplexen System von Wissenserwerb und -vermittlung führe: Der Theaterforscher brauche einerseits einen umfassenden theoretischen Apparat, der ihm eine gewisse Vertrautheit mit den Grundelementen des Theaters, inklusive der Technik, gewährt. Andererseits werde eine aktive Teilnahme an der gemeinsamen Praxis benötigt, um die aktuellen Fragen nach den besonderen Bedingungen, den Möglichkeiten und den Grenzen des Theaters überhaupt stellen zu können und zu behandeln. Die Beteiligung an der praktischen Ausführung wird hierdurch zum Korrelat der Analyse und Interpretation der Ausführungen selbst. Diesbezüglich gab Kutscher einen erschöpfenden Überblick über die Stratifizierung der theaterwissenschaftlichen Forschung: Er skizzierte einen Verlauf, in dem sich Historiografie, Stilkunde und Praxis gegenseitig ergänzen. Die Theatergeschichte mache das Wandelbare und das Transitorische klar, obwohl die Quellen nicht immer sicher oder prüfbar sind; die Stilkunde zeige das Bleibende auf, das an den Menschen gebunden ist, und die Praxis veranschauliche die Beziehung zu den Realitäten des Theaters. Während die Theatergeschichte also eine fast objektive Basis für die Kunstbetrachtung garantiere, basiere die Stilkunde immer auf einem subjektiven Urteil. Artur Kutschers Anerkennung und Würdigung der Subjektivität innerhalb der theaterwissenschaftlichen Untersuchung ist in der Frühphase der Disziplin eigentlich außergewöhnlich. Das bedeutet aber nicht, dass Kutscher dem individuellen Charakter jeglicher Kunstbetrachtung und -bewertung freien Raum ließ. Er versuchte hingegen diese Neigung des Zuschauers und des Forschers einzudämmen: Er beschäftigte sich erstens damit, der ästhetischen Erfahrung eine begriffliche Terminologie und eine Grundsystematik zu geben, sodass die Stilkunde als eine Wissenschaft wirken konnte. Zweitens konzentrierte er sich auf die Praxis, weil kreative Prozesse und subjektive Urteile erst zu neuem Wissen werden könnten, wenn sie von einer (sozialen) Praxis, d.h. von der aktiven Teilnahme an einer gemeinsamen, gesellschaftlichen Theaterproduktion und -rezeption eingerahmt würden.1 Das Korrektiv der vermeintlichen Objektivität sowie der interpretierenden Subjektivität sei also die Vermittlung von Kunst und Leben, welcher eine umfassende Kenntnis der Elemente aller Stilbildung vorangeht: Persönlichkeit und Zeit, Gattung und Material. Um jede »Fachsimpelei« zu vermeiden, bedürfe die Theaterwissenschaft einer Balance zwischen Materialität und subjektiver Bewertung, die ständig ausgehandelt werden muss (Kutscher 1960: 75). Die Theaterwissenschaft, wie alle lebendigen Wissenschaften, wandele sich kontinuierlich und spezialisiere sich dem gegenwärtigen Empfinden entsprechend. Kutscher stellte damit die Fixierung der Bühnenkunst durch Artefakte und die Bereicherung des gegenwärtigen Theaters nebeneinander. In diesem Zusammenhang gewann die Praxis gegenüber der Theorie an Bedeutung: Für Kutscher umfasste sie das Anschauen von Materialien – etwa Modelle, Diapositive und Lichtbilder – wie aber auch Theaterbesuche, Studienfahrten, Übungen in praktischer Kritik, persönliche Fühlungnahme mit Theaterleuten und eigene Aufführungen der Studierenden. Objekte und Medien halfen der theaterwissenschaftlichen Betrachtungsweise, aber nur als Prämisse einer konkreten Feldforschung. Alle Materialien konnten dem Forscher nützlich sein, ihm die abstrakte Idee einer bestimmten Form vom Theater oder einer Aufführung zu geben, aber für eine Wissenserzeugung reichten sie nicht aus. Die Verhältnisse in der Wirklichkeit waren dort zu untersuchen, wo das Theater aktiv betrieben wurde. Widersprechende Anschauungen aus den Büchern oder aus den Bildern können nämlich, so Kutschers wissenschaftliches Selbstverständnis, erst durch direkte Betrachtung und direkte Partizipation ersetzt werden. Es ist der Aktivismus, der das ältere, rein spekulative und lebensferne Wissenschaftskonzept von den Vertretern der jüngeren Wissenschaft trennt, die dem tätigen Leben und der gegenwärtigen sowie künftigen Kunst dienen soll. Die theaterwissenschaftliche Lehrtätigkeit sollte folglich Intellektuelle ausbilden, die für stilkundliche, kulturgeschichtliche und zugleich soziale Fragen die Verantwortung übernehmen. Die Praxis – oder das dynamische Merkmal des theaterwissenschaftlichen Unterfangens – entfaltet sich dann in zwei Dimensionen: in einer zeitlichen und in einer geografischen bzw. sozialen. Was die zeitlich-geschichtliche Dynamik der praxisorientierten Theaterwissenschaft betrifft, muss man Kutschers Suche nach dem Ursprung des Theaters und seine besondere Neigung zur volkstümlichen Theaterkunst betrachten. Beide hängen mit seinem Streben zusammen, einen wissenschaftlichen Mittelweg zwischen der stark wechselnden Gestaltung des lebendigen Theaters und dessen kunstspezifischen, konstanten Faktoren zu finden. Die Notwendigkeit, zu den primitiven Ausdrucksformen der Bühnenkunst vorzudringen, führte Kutscher zur Beschäftigung mit Formen wie Bauerntheater und Laientheater, in denen er die Frühstufen der mimischen Kunst sah. Was hingegen die „soziale Landschaft“ der Münchner Theaterwissenschaft angeht, knüpfen die Mitglieder des Kutscher-Kreises Weltbeziehungen, nicht nur um »geistige Brücken« zu schlagen (1960: 193), sondern auch, um lokale, sprich deutsche Erscheinungen durch die Wechselwirkung mit anderen ausländischen Kunstformen zu bereichern. Darüber hinaus ermöglicht das globale und interdisziplinäre Beziehungsgeflecht dem Theater ebenso wie der Wissenschaft vom Theater eine dichte Vernetzung, eine produktive intellektuelle Kooperation. Die Vorteile dieser Kooperation resultieren aus der prägenden Begegnung zwischen Anhänglichkeit an heimatgebundenen Traditionen, Hochschätzung der deutschen Dichtung und Anregung zur Erneuerung lokaler Kunst einerseits, und Öffnung zur Transkulturalität des globalen Phänomens Theater andererseits. Durch die Beteiligung aller Forscher an der gemeinsamen Arbeit und durch den Erfahrungs- und Wissensaustausch in der Theaterpraxis verwischen sich die Grenzen zwischen akademischer Wissenschaft und Praxis. Es gibt also keinen theatralischen Diskurs bzw. keinen Logos, der die Theaterpraxis beherrscht und vorstrukturiert, sondern eine wechselseitige Beeinflussung von Theorie und Praxis. Die Methodologie der von Kutscher angeregten Theaterwissenschaft vermittelt eine anschauliche Vorstellung der geistig-sinnfälligen Struktur jeder praktischen Ausführung2 und anerkennt das direkte, konkrete Experimentieren ebenso wie die Anwendung künstlerischer Mittel in der Forschung überhaupt als wissenschaftlich gültige Methodik.

      Darin unterscheidet sich die in München betriebene Theaterwissenschaft von anderen Entwicklungstendenzen