Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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der Theoriediskurs sei parallel zum Praxisbezug zu entwickeln,3 muss man jedoch Stefan Hulfeld (2007) und Corinna Kirschstein (2009) darin zustimmen, dass die neue Wissenschaft des Theaters schon in ihrer Anfangsphase einen inneren Zwiespalt zwischen theatergeschichtlicher Forschung und erfahrungsnaher Praxis durchmachen sollte. Der sogenannte „Geburtsfehler“ der Disziplin im deutschsprachigen Raum, d.h. die genannte Trennung von Historiographie und Praxis, habe seinen Grund in der Notwendigkeit, im Universitätssystem die Eigenständigkeit der Theaterwissenschaft zu legitimieren und genau deshalb die philologische Methodik anzuerkennen.4 Die Bestrebung, sich auch mit der Praxis wissenschaftlich zu beschäftigen, richte sich also nicht auf die Auseinandersetzung mit dem tatsächlich aufgeführten Theater oder mit ästhetischen Fragen der Gegenwart, sondern auf »technisch-organisatorische Faktoren des Theaterbetriebs wie Theaterrecht, -technik oder Regieübungen (auf einer Probebühne)« (Kirschstein 2009: 91). Erhellend ist hierzu der Vortrag, den Max Herrmann am 14. Januar 1917 vor den Mitgliedern der „Vereinigung künstlerischer Bühnenkunst“ hielt.5 Dem Zweck dienend, die Bedeutung der Theatergeschichte – »im weiteren Sinne dann Theaterwissenschaft« – für die Theaterpraxis zu erklären, führte der Berliner Professor zwei anschauliche Beispiele an: Das erste betraf die Übertragungsaufgabe des Regisseurs in jeder Aufführung, das zweite seine vielberühmten Forschungen über die Hans-Sachs-Bühne. Der Spielleiter sei »gewissermaßen ein Übersetzer«, der oftmals ältere Dichter »in die Bühnensprache« der Gegenwart übertragen muss. Wenn der Regisseur damit ein Kunstwerk herstellen will, müsse er sowohl die Theatersprache der Vergangenheit als auch die der Gegenwart beherrschen:

      Da kein Theater mit nur modernem Spielplan auskommen kann, sondern immer auf klassische Stücke zurückgegriffen werden muß, so wird der Spielleiter das jedesmalige innere Verhältnis des Dichters zur Bühne seiner Zeit kennen, geschichtlich erfassen müssen. […] Theatergeschichte […] ist für ihn ebensowenig überflüssig, wie seine Theaterbegabung notwendig.

      Man könne den Nutzen der Theatergeschichte anhand der Forschungen weiter beobachten, weil sie eine entscheidende Hilfe für die Regisseure leisten, die in ihren Inszenierungen den »Hans-Sachsischen Theatersinn« treffen wollen. Obwohl solche Ansichten Max Herrmanns Neubestimmung seiner theaterwissenschaftlichen Positionen nach 1920 nicht entsprechen,6 zeigen sie immerhin eine Verengung des Konzepts Praxis innerhalb der Theatertheorie. Herrmanns Rückgriff auf den Praxisbegriff in seiner Darstellung der Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Institutes scheint also weniger der aktiven Partizipation am gegenwärtigen Theaterleben das Wort zu reden, als die Selbstständigkeit der Theaterwissenschaft zu behaupten, die darum ein eigenes Institut braucht: »[D]er Theaterhistoriker soll nicht alles das lernen brauchen, was der Germanist zu lernen hat. / Andererseits muß der Theaterwissenschaftler wieder das lernen, was der Germanist nicht zu lernen braucht«, und zwar muss er in der Lage sein, »alle technischen und künstlerischen Eindrücke« zu beurteilen, die nur von Theaterfachmännern unterrichtet werden können (1974: 353).

      In Max Herrmanns Vorstellung ist die Praxis – als ästhetischer Ausdruck und als Verwirklichung eines mehr oder minder idealen Theatermodells – vom historisch-akademischen Wissen beeinflusst, doch umgekehrt übt sie gar keinen Einfluss auf den Theoriediskurs aus. Mit Hulfelds Worten, die praktische Relevanz der neuen theaterwissenschaftlichen Erkenntnisse geht mit der Umsetzung der genetischen Methode verloren (2007: 280). Diesbezüglich sei es nur noch angemerkt, dass Herrmann anders als Kutscher die volkstümlichen Theaterformen sowie das Laientheater negativ bewertete,7 weil sie zur Realisierung des gewünschten dichterischen Theaterideals nicht beitragen könnten, und dass er sich vorwiegend dem alten Theater widmete.8 Ebenfalls überaus skeptisch äußerte sich Carl Niessen gegenüber Dilettantenvereinen und Studentenbühnen, denn der Mangel an künstlerischen Ambitionen hätte die Theaterwissenschaft belasten können.9 Der kulturgeschichtliche Blick des Theaterwissenschaftlers solle sich zwar den mimisch-spielerischen Theaterformen aller Völker hinwenden, zugleich aber mit einem gewissen akademischen Abstand.

      Herrmanns und Niessens lediglich theoretische Berücksichtigung der Theaterpraxis, die dann jedoch faktisch ignoriert wurde, fand einige Jahrzehnte später bei Heinz Kindermann und Hans Knudsen ihre Fortsetzung. Der Wiener Germanist Kindermann, der sich erst in den 1940er Jahren der Theaterwissenschaft zuwandte, versuchte bis zum Ende des Krieges eine nationalsozialistische Traditionslinie von Goethe, Klopstock, Hebbel, Raimund bis hin zur Gegenwart – eigentlich: Wagner – herzustellen, wobei der Forschungsfokus ausschließlich auf der Theatergeschichtsschreibung lag. Die Praxis scheint auch später in Kindermanns Auffassung der Theaterwissenschaft keine Rolle zu spielen, da er in seinen Aufgaben und Grenzen der Theaterwissenschaft (1953) den Praxisbezug der Disziplin überhaupt nicht erwähnte. Hans Knudsens »Blick auf die Praxis« verriet seinerseits einen schon bekannten Ansatz: Die »rein theaterwissenschaftliche Ausbildung« an der Universität muss »durch Vermittlung auch der praktischen Lösungen, soweit so etwas lehrbar ist« ergänzt werden (1951: 16f.). »Immer wieder: Begabung für das Theater ist die Voraussetzung alles dessen, was wir hier aussprechen […]. Wir setzen jenes Maß künstlerischer, schöpferischer Fruchtbarkeit für das Theater voraus, das man in der Theaterwissenschaft unter allen Umständen haben muß«. Nach dieser generellen Festlegung erklärte Knudsen näher: »Dieser Vorbereitung für die Praxis, für das lebendige Theater, dienen die Vorlesung und Übungen zur Regie« (17) – mit derartigen Lehrveranstaltungen war der Praxisbezug der Theaterwissenschaft erschöpft.

      Wenn man das ganze erörterte Spektrum theaterwissenschaftlicher Positionen berücksichtigt, dann kann man Marvin Carlson nicht zustimmen, der in Anlehnung an Erika Fischer-Lichtes Interpretation von Max Herrmanns Konzept der Theaterwissenschaft feststellt, die im deutschsprachigen Raum geförderte Disziplin habe nie an der Spannung zwischen Theater und Performance bzw. Praxis gelitten, welche in den USA deutlich gespürt wurde und noch heute gespürt wird (Carlson 2008: 4). Die Spuren dieser Spannung waren in den ersten fünfzig Jahren der deutschen theaterwissenschaftlichen Forschung eigentlich beseitigt, denn die eingehende Untersuchung der sogenannten „Wissensverkörperung“ und der Praxis sowie die Erforschung eines Wissensgebietes, das nur durch die ständige Berührung mit anderen Feldern und durch die unmittelbare, sinnliche Erfahrung das theatrale Phänomen erfassen kann, hätte die Etablierung der Disziplin an den Hochschulen verhindert. In Berlin, Leipzig, Köln und Wien sowie an kleineren Instituten für Theaterwissenschaft lag die praxisbezogene Lehre oder das praxisbezogene Lernen nur in programmatischen Reden und Schriften vor. Außer Regieübungen, gelegentlichen Exkursionen und der Sammlungstätigkeit fand die Theaterpraxis keinen Zugang zum Universitätssystem.

      Wissenstheorie

      Die strenge Unterscheidung zwischen intellektuellem Wissen und praktischer Vernunft wurden erkenntnistheoretisch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stufenweise aufgegeben. Nach der bahnbrechenden Arbeit von Gilbert Ryle auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes (The Concept of Mind, 1949), in welcher der Philosoph zwei komplementäre Bestandteile des Wissens erkannte und die Begriffe knowing-what als deklaratives Wissen und knowing-how als prozedurales Wissen bzw. Fertigkeit, soziale Expertise prägte, muss die Lehre von Michael Polanyi erwähnt werden. Aufschlussreich ist in The tacit dimension, dass sich Polanyi auf Dilthey und Lipps beruft, um in der Philosophiegeschichte die ersten Schritte zur Anerkennung und Beschreibung des so genannten taciten Wissens zu finden (Polanyi 1967: 16f.). Mit „tacitem“ oder implizitem Wissen meinte Polanyi ein gesellschaftlich vermitteltes Wissen intuitiver Art, welches immer subjekt- und kontextbezogen bleibt und nicht sprachlich artikulierbar ist – d.h. auch kaum reproduzierbar. Es bilde den komplementären Pol zum expliziten Wissen, welches kognitive Wahrnehmungen, abstrakte Repräsentationen, Theorien und Modelle umfasst. Wilhelm Diltheys Erlebnis ebenso wie Theodor Lipps’ Einfühlung traten sonach als erste Versuche hervor, das zu interpretieren, was Menschen tatsächlich wissen, doch in Worten nicht ausdrücken können. Schon am Anfang des sog. „Zeitalters der Extreme“ hätten Geisteswissenschaftler versucht, das erworbene Erfahrungswissen mit einem theoretischen Wissen zu verbinden. Polanyi stellte aber zum ersten Mal deutlich fest, dass implizites Wissen nicht den Geisteswissenschaften allein angehört, sondern jedem wissenschaftlichen Wissen:

      [A] true knowledge of a theory can be constructed only after it has been interiorized and extensively used to interpret experience. Therefore: