Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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Interessen zu wahren und volkstümliche Theaterformen zu berücksichtigen, andererseits transnationale Interaktionen und Einsätze zu fördern. Jenseits aller gesellschaftlichen und historischen Bedingtheiten des theatralen Phänomens suchte Kutschers Lerngemeinschaft kunstspezifische Konstanten, die als Orientierungshilfe in der Forschungsarbeit wirken konnten, und schuf weiterhin ein Beziehungsgeflecht, das zuerst in München und Bayern, dann in Süddeutschland, in Europa und schließlich in der ganzen Welt eine wichtige Rolle für die CoP spielte. Neben globalen Spielräumen öffnete die Münchner Theaterwissenschaft auch intermediäre Räume zwischen Lerngemeinschaften und Fachbereichen, auch wenn die Forschung immer vom Standpunkt der Kunst aus betrieben wurde. Dieser Teil endet mit der Betrachtung der auslösenden Faktoren der frühen theaterwissenschaftlichen Arbeitsgruppe. Obwohl der Theaterprofessor immer noch als Vermittler zwischen den erfolgreichen Künstlergenerationen der vergangenen Jahrzehnte und den aufstrebenden Jugendlichen betrachtet wurde, konzentrierte er seine Energie darauf, ein selbstständiges theaterwissenschaftliches Institut an der LMU einzurichten und eine akademische Auszeichnung für seine Leistungen zu erhalten. Kutschers leitende Rolle reduzierte sich dann schrittweise, die Mitglieder zerstreuten sich in andere Arbeitsgruppen, die Praxis wurde nicht mehr weiterentwickelt und der Zufluss an neuen Themen verringerte sich erheblich. Die Auflösungstendenz der lebenslang von Kutscher koordinierten Lerngemeinschaft wurde allerdings durch die Fortführung des theaterwissenschaftlichen Unternehmens balanciert: Die Bemühungen um die Verkoppelung von Theorie und Praxis, die Vorstellung einer Theaterforschung durch und für die Praxis sowie durch und für das Leben, das Konzept einer universitären Ausbildung für die Identitätsentwicklung der Lernenden, die Anerkennung und Rechtfertigung eines faszinierenden „strittigen Gebiets“ zwischen Wissenschaft und Kunst reizen heute noch Theaterwissenschaftler und Theaterinteressierten. In dieser Hinsicht ist die Aktualität der Tätigkeit und der Struktur der frühen Münchner Theaterwissenschaft anhaltend.

      Im Anschluss an die gesamte Diskussion wird ein Exkurs über die Theaterwissenschaft und Artur Kutscher im Nationalsozialismus, eine skizzenhafte Biographie des Theaterprofessors und ein chronologisches Verzeichnis der theaterwissenschaftlichen Vorlesungen Artur Kutschers an der LMU dargeboten.

      An dieser Stelle möchte ich allen Personen danken, ohne die meine Arbeit in der vorliegenden Form nicht möglich gewesen wäre. Namentlich danke ich zuerst meinen Betreuern: Prof. Dr. Christopher Balme, der bereits in den ersten Entwurf meines Promotionsprojekts sein Vertrauen demonstrierte, der mich auch in den Bereich der Theaterwissenschaft begleitete, mir das wissenschaftliche Potenzial der Untersuchung bewusst machte und die Begegnung mit Kutscher-Experten vermittelte; und Prof. Marco Castellari, der mich stets mit großer Geduld, unzähligen Ratschlägen und viel Humor unterstützt hat und der mir konkret zeigte, dass die Bedeutung der akademischen Ausbildung und Forschung weit über das Universitätsgebäude hinaus reicht. Bedanken möchte ich mich auch bei den zwei Hochschulen, an denen ich meine Cotutelle-Promotion abgeschlossen habe: die Università degli Studi di Milano, die mein Projekt drei Jahre lang finanzierte, und die Ludwig-Maximilians-Universität, insbesondere das Institut für Theaterwissenschaft, das mich herzlich aufnahm. Mein besonderer Dank gilt Dr. Olaf Laksberg, ohne dessen Berichte und Erinnerungen ich die Anfänge der Theaterwissenschaft in München, Artur Kutschers Charisma und Klaus Lazarowicz’ Tätigkeit nie richtig verstanden hätte; Dr. Carl Klein, der mir über seine Familie und seinen Großvater erzählte und mir freundlich die privaten Fotoalben der Kutschers zeigte; Edgar Reitz, der mir ein ausführliches Interview gewährte; und Prof. Dr. Gabriella Rovagnati, die mir schon viele Jahre eher den Einblick in die deutsche Theatergeschichte verschaffte und die mir von dem Moment an in meinen Bemühungen Beistand leistet. Nicht zu vergessen sind hier außerdem die MitarbeiterInnen des Archivs der Ludwig-Maximilians-Universität München, des Bayerischen Hauptstaatsarchivs München, des Deutschen Literaturarchivs Marbach und des Staatsarchivs München, die mich sachkundig durch ihre Häuser geführt haben. Besonders dankbar bin ich Frank Schmitter, Gabriele Eitzinger und Martin Heidenreich vom Monacensia-Literaturarchiv München, weil sie immer freundlich und hilfsbereit waren. Speziell zu danken habe ich dem Gunter Narr Verlag für die Annahme meines Manuskripts in die Reihe Forum Moderne Theater sowie den Lektorinnen Kathrin Heyng, Vanessa Weihgold und Elena Gastring für ihre gedulidge Hilfe und kompetente Betreuung. Außerdem bin ich der VG Wort und der Associacione Itatliana di Germanistica für die Unterstützung zu Dank verpflichtet. Für die Anregungen und das schöne Beisammensein muss ich noch Dr. Gero Tögl danken, für die aufmerksame Lektüre meiner Arbeit Frau Margit Kohl, und für die wunderbare Freundschaft Tobias Honold, Elizabeth und der ganzen Familie Mittermeier, die zu meiner deutschen Familie geworden ist. Mein Dank gilt weiterhin meinen italienischen Unterstützern und Freunden: Ringrazio di cuore tutti miei compagni di avventura, senza i quali il dottorato a Milano non sarebbe stato lo stesso, in particolare Elisabetta Bevilacqua e Giulia Peroni; gli amici che non mi hanno dimenticato nonostante i mesi trascorsi all’estero e che saranno sempre dalla mia parte, qualunque scelta io faccia: Angelica, Annalisa, Gloria, Fabio, Federica e Marco; gli amici di famiglia, che poi sono la mia famiglia allargata: Marisa, Marco e Andrea, Laura, Flavio e Stefania. Stefania, grazie per esserci sempre stata. Ringrazio poi la persona che ha condiviso con me questi anni, tra sbalzi di umore, viaggi, pensieri a un mondo lontano, delusioni e gioie: senza di te, Andrea, punto fermo in una vita movimentata, non credo ce l’avrei fatta. Infine, non posso che ringraziare i miei genitori: non esisterebbe una riga di questo lavoro se non avessi avuto voi come esempio, esempio di onestà etica e intellettuale, di dedizione totale, di amore incondizionato.

      

      Teil I. Ausgangspunkte

      Die Praxisdimension

      Ich mußte das sein, was meiner Zeit am meisten fehlte: Systematiker, Methodiker, der von unten auf organischen Zusammenhang suchte, Ganzheit; der ausging von den Elementen, von der Materie des Schaffens, von Sprache, Mimus, bewegtem Foto, Ton; der an Stelle der älteren Kunstbetrachtung nach äußeren Stoffen, Formen die inneren, ureigenen schöpferischen Mächte Gehalt und Gestalt setzte und die stilbildenden Faktoren der Persönlichkeit, der Zeit, der Gattung. Unter diesen Gesichtspunkten lehrte ich Dichtung, Theater, Film, Funk erfassen, jede Kunst für sich würdigen in ihrer stilistischen Reinhaltung. […]

      Ein volles, schönes Leben ist mir geschenkt von Gott, in der Familie […]; in Geselligkeit mit guten Freunden, in der Sphäre des alten Schwabing mit all seinen Dichtern, Schriftstellern, bildenden Künstlern, Musikern, Schauspielern, Schlawinern; in Beziehung zu Künstlern, Forschern, Wissenschaftlern weit über Deutschlands Grenzen hinaus; besonders aber in dem berühmt-berüchtigten Kreise meiner Studenten. Dieser Kreis war ein dichtes Gewebe persönlicher, wissenschaftlicher und künstlerischer Beziehung, ein fester, magischer Ring, in welchem einer auf den anderen wirkte, einer den anderen steigerte, formte, ich meine Schüler, und diese mich, den sie tatfreudig erhalten haben und dem sie immer neues Leben zuführten. Wir waren uns gegenseitig menschliche Entwicklungsfaktoren. Die diesem Kreise angehörten, erkennen einander an heimlichen Zeichen und an der Parole Stilkunde, Theaterwissenschaft, Mimus. (Kutscher 1948: 257f.)

      In der Dankesrede bei der Feier zu seinem siebzigsten Geburtstag zeigt Artur Kutscher das Hauptmerkmal der von ihm geförderten Disziplin auf: eine Dimension des Lernens, in der die soziokulturellen Quellen des menschlichen Schaffens erkannt, systematisiert und weitergegeben werden. Als „Theaterprofessor“ strebte er danach, einen Lehr- und Lernprozess zu entwickeln, welcher die Kluft zwischen logozentrischer Kunstforschung an Hochschulen und aktivem, dynamischem Erfahrungsaustausch an Ort und Stelle der theatralischen Tätigkeit überbrücken konnte. Wenn man heutzutage in der Münchner Theaterwissenschaft eine Spur der Leistung Kutschers sucht, dann findet man weder eine zeitübergreifende Taxonomie der Gegenstände und Grundbegriffe des Fachgebietes, noch eine umfassende Systematik von dessen Forschungsergebnissen; was sich von jener ersten Phase der Disziplin noch erkennen lässt, ist vielmehr die Praxisdimension, in der die akademische Lehre verwurzelt ist. Kutschers Kunstforschung war mit der Praxis unauflöslich verflochten.

      In seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand der neuen, noch zu legitimierenden Disziplin entwickelte Kutscher ein wissenschaftliches praxisbasiertes Untersuchungsverfahren,