Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


Скачать книгу

an act of tacit knowing, which consists in our attending from it to the previously established experience on which it bears. (1967: 20)

      Tacites Wissen sei demzufolge ein unentbehrlicher Bestandteil des menschlichen Lernprozesses, der zur Modell- und Theorieentwicklung beitrage, weil er jeder Erkenntnis oder Entdeckung zugrunde liege: Wissenschaftliches Wissen gleiche insoweit dem Wissen einer sich nähernden Entdeckung, die Menschen dank ihres impliziten Wissens vorhersehen. Dies bedeutet fernerhin, dass jede Entdeckung mit einem subjektiven Engagement gekoppelt ist, was jedes positivistische Ideal der Objektivität in der Forschung zerstört (25). Durch die Einfühlung in das Forschungsobjekt schließt der Mensch die Einzelheiten einer Struktur oder eines Phänomens zu einem übergeordneten Ganzen unmittelbar zusammen, ohne die einzelnen am Prozess beteiligten Details kognitiv wahrzunehmen. Das implizite Wissen artikuliere sich demnach im Handeln, im Können. Implizites und explizites Wissen sind folglich nach Polanyi parallele Dimensionen des Wissenserwerbs, die erkenntnistheoretisch gleichwertig sind – auch wenn der Fokus mehr auf dem „stillschweigenden“ Wissen liegt. Polanyi schuf somit den ersten umfassenden praktischen Wissensbegriff, in dem Handeln und kritische Reflektion einander ergänzen. Der Kunsttheoretiker Carr beschrieb Jahre später das praktische Wissen »as a matter of some interplay between phronesis and techne« (1999: 244), wobei er die aristotelische phronesis zur Basis der Beziehung zwischen ästhetischer Empfindung und künstlerischem Wissen machte. Die phronesis beruhe auf erfahrungsbasierten praktischen Prinzipien, welche menschliche Empfindlichkeiten – oder Prädispositionen – pflegen und entwickeln. Sie sei ein Modus des praktischen erfahrungsbasierten Weltwissens, das sich nicht durch theoretische Aussagen oder Thesen ausdrücken lasse, sondern durch eine gewisse Organisation der Erfahrung im Einklang mit einer bestimmten Anschauung oder Idealvorstellung von Schönheit, Form oder Ausdruck (254). Das ästhetische Wissen wurde hierdurch zu einer Form des praktischen Wissens.

      Ein letzter Versuch zur Versöhnung der zwei Erkenntnismodi, d.h. zwischen dem Objektivismus realistischer sowie materialistischer Prägung und dem idealistischen Subjektivismus, wurde in der Sozialwissenschaft von Pierre Bourdieu unternommen. Er plädierte nämlich für eine praxeologische Erkenntnisweise, welche die regulierende Logik des praktischen Wissens, das auf der Primärerfahrung der Subjekten beruhe, und die Eigenlogik des theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnismodus, das hingegen einen konstruktivistischen Charakter aufweise, kombinieren könnte. Erst diese neue Erkenntnisform sei in der Lage, die Welt zu erfassen (2001: 174). Deswegen entwickelte Bourdieu seine nach der Forschungspraxis orientierte Habitustheorie. Mit dem Begriff Habitus verknüpfte er ein dauerhaft wirksames System von unauflöslich miteinander verwobenen, (vor)strukturierten Dispositionen, welche das Subjekt dazu bringen, in einer bestimmten Weise zu agieren: Sie bilden also den praktischen Sinn, befähigen die Menschen, an der sozialen Praxis teilzunehmen und diese zugleich hervorzubringen. Solche Dispositionen werden während der Sozialisation erworben, d.h. als Ergebnis der Inkorporierung gesellschaftlicher Strukturen. Der Habitus generiert Praktiken, wiederkehrende Sozialhandlungen, die ihrerseits gesellschaftliche Regelmäßigkeiten bzw. Strukturen konstituieren. Diese werden vom Subjekt verinnerlicht, in einer Wechselbeziehung, in der der Habitus die Strukturen (re)produziert und die Strukturen den Habitus. Der Habitus wirkt demzufolge als Vermittler zwischen den externen materiellen, kulturellen und gesellschaftlichen Existenzbedingungen – oder den objektiven Strukturen des sozialen Feldes – und den von einzelnen Akteuren ausgeführten Praktiken, die mit ihrer persönlichen Wahrnehmung und Anschauung in die Umwelt verflochten sind. Daraus folgt, dass der Habitus dem Subjekt die Grenzen möglicher Praktiken zur Verfügung stellt, dass das agierende Subjekt nicht vollständig determiniert ist.1 Der Habitus wirkt als »Erzeugungsmodus der Praxisformen« (1987: 136), nicht als Erzeugungsmodus einzelner Praktiken. Besonders wichtig für die Kunstpraxis und -forschung scheint allerdings die Tatsache zu sein, dass die von Bourdieu theorisierte Verinnerlichung von äußerlichen Existenzbedingungen weniger durch die Sprache hindurch geschieht, als vielmehr auf Körperebene: Die soziale Ordnung wird verkörpert, inkorporiert, einverleibt. Sprache und Leib haben beide die Aufgabe, praktische Erfahrungen, Fakten oder Normen zu speichern, wobei sie als treibende Kräfte für die Herausbildung sozialer Praxen fungieren – sie sind sowohl Speicher als auch Träger (1987: 127). Doch ist die praktische Erkenntnis eher an den Körper gebunden, weil sich die Menschen der Eigenschaften ihres eigenen Habitus nicht bewusst sind und in ihrem praktischen Handeln von einer vorbewussten, vorreflexiven Kraft getrieben werden. Der Körper ist ein »Gedächtnis« (1976: 199), das Regungen, Bewegungen oder Handlungen nicht nur ausführt, sondern auch bestimmt. Die Körperlichkeit bestimme die Praxis sowohl im Hinblick auf die Bildung des körperlich verankerten Habitus als auch im Hinblick auf dessen Anwendung: »Einzelne Körperbewegungen bilden die kleinste Einheit jeglicher Praxis. Da sowohl Körper als auch soziale und materielle Welt formbar sind, können sie intensiv miteinander verschränkt sein« (Fröhlich/Rehbein 2009: 201). Auf diese Weise hat jede menschliche Bewegung nicht nur einen sozialen, sondern auch einen individuellen Aspekt; das Äußere wird immer von Menschen in mentalen Repräsentationen verinnerlicht bzw. inkorporiert. Als Folge einer solchen Anerkennung forderte Bourdieu eine neue Wissenschaft, welche auch die Körperlichkeit der Akteure berücksichtigt:

      Im Gegensatz zu den scholastischen Welten verlangen bestimmte Universen wie die des Sports, der Musik oder des Tanzes ein praktisches Mitwirken des Körpers und somit die Mobilisierung einer körperlichen Intelligenz, die eine Veränderung, ja Umkehrung der gültigen Hierarchien herbeiführen kann. Man sollte die hier und da, vor allem in der Didaktik dieser Körperpraktiken – des Sports natürlich und insbesondere der Kampfsportarten, aber auch des Theaterspielens und des Musizierens – verstreuten Notizen und Beobachtungen einmal methodisch zusammenstellen; sie würden wertvolle Beiträge zu einer Wissenschaft dieser Erkenntnisform liefern. (Bourdieu 2001: 185)

      Diese Wissenschaft habe also die Funktion, die Wissensbestände und -inhalte aus dem jeweiligen sozialen Feld mit denen aus der direkten körperlichen Erfahrung zu ergänzen. Das bedeutet außerdem, dass das Subjekt die soziale Welt erkennen kann, auch wenn es keine objektivierende Distanz zu den Wissensobjekten hat; um eine systematische, sprich wissenschaftliche, Analyse seiner Handlungspraxis durchzuführen, braucht es aber eine kritische (Selbst)Reflexion. Die Reflexivität in der Theorie Bourdieus dringt darauf, »die theoretische Beobachterposition zur zu beobachtenden Praxis zu machen« (Fröhlich/Rehbein 2009: 203f.). Die Verwandlung vom unbewussten Sinnvollen der Praxis in das bewusste, reflexive Sinnvolle der theoretischen Wissenschaft muss sich daher auch in der Kunstforschung vollziehen.

      Die Theaterwissenschaft zwischen Theorie und Praxis

      Schon in den 1970er Jahren hatte eine vielstimmige Methodendiskussion in der Theaterwissenschaft eingesetzt, welche sich aber mehr auf die semiotische Wende in der Aufführungsanalyse konzentrierte und die theaterwissenschaftliche Verflechtung zwischen Theorie und Praxis kaum betrachtete. Im folgenden Jahrzehnt konnte die Theaterpraxis das Interesse der an den deutschen Hochschulen etablierten Disziplin wecken: 1982 wurde das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen gegründet, das unter der Leitung von Andrzej Wirth die theatertheoretische Forschung zusammen mit dem Studium der theatralen Praxis pflegte. Das Ende der 1980er Jahre fällt außerdem mit der Hinwendung der Theaterwissenschaft zu den Paradigmen Theatralität und Performativität zusammen, was eine Neubestimmung der Forschungsstrategien und des Fachbereiches nötig machte.1 In dieser Phase der wissenschaftlichen Re-Konzeptualisierung erlangten der Körper sowie der performative Erzeugungsprozess der Identität große Bedeutung, so dass sich die »Wissenschaft von der Aufführung« (Fischer-Lichte 2005: 351) endlich als produktive Verkopplung von Semiotizität und Theatralität verstehen konnte. Die Entwicklung der Disziplin in dieser Richtung setze sich dabei relativ stabil fort und der Mittelpunkt des Forschungsinteresses »shifted to the processes of making, producing, creating, doing, and to the actions, processes of exchange, negotiation, and transformation as well as to the dynamics which constitute the agents of these processes, the materials they use and the cultural events they produce« (Fischer-Lichte 1999: 168).

      Im Bereich der creative and performing arts und der gegenwärtigen Theaterwissenschaft ist die Debatte über die epistemologische Bedeutung des Zusammenhangs von wissenschaftlicher Forschung mit künstlerischer Praxis ab den 1990er Jahren immer lebhafter geworden.2 Der Begriff Praxis