Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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»die nicht von einer Trennung zwischen Subjekt und Objekt ausgeht und folglich keine Distanz des Forschenden zur Kunstpraxis voraussetzt. Stattdessen ist die künstlerische Praxis ein wesentlicher Bestandteil sowohl des Forschungsproze­sses als auch der Forschungsergebnisse« (Borgdorff 2009: 30). Der practitioner ist derjenige Wissenschaftler, der aus seiner pragmatischen Perspektive die Probleme identifiziert, die in der Praxis selbst entstanden sind, und der dafür Lösungen sucht, die ihrerseits von der Praxis geprägt sind. In einer von Praktikern-Wissenschaftlern betriebenen Forschung werden Aspekte wie Subjektivität, Selbstreflexivität und Interaktion mit Forschungsmaterialien zur Kenntnis genommen und Wissen ergibt sich als ausgehandelt, kontextbezogen und intersubjektiv. Henk Borgdorff erklärt diesen Ansatz näher, indem er die Übereinstimmung von Theorie und Praxis in der Kunst ins Gedächtnis ruft: Die direkte Interdependenz von Konzepten, Denk- und Interpretationssystemen, Erfahrungen und Auffassungen in Kunstpraktiken findet in PAR ihr Pendant, denn diese Kunstforschung versucht, »einen Teil dieses im kreativen Prozess oder im Kunstobjekt enthaltenen Wissens zu artikulieren« (Ebd.). Das Ziel der praxisbasierten Forschung unterscheidet sich also nicht prinzipiell von dem der akademischen Forschung, weil sie immer einen Wissens- und Erkenntnisgewinn in verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens anstrebt. PAR geht jedoch ein antipodisches Verhältnis zum Logozentrismus der Forschung im Universitätsbereich ein: Der Versuch zur Legitimierung der Praxis an Hochschulen kollidiert einerseits mit dem Konzept des wissenschaftlichen Wertes der Forschung und andererseits mit dem Dokumentationsbedarf. Der traditionelle Forschungsbegriff ist von bestimmten akademischen Standards, Gebräuchen und Protokollen geprägt, welche am Ende zu einem schriftlichen Text zusammenfließen. Der Wert einer Forschungsarbeit lässt sich anhand der Originalität des Beitrags zum kollektiven Wissen sowie anhand der Beweisbarkeit der Forschungsergebnisse durch ein kohärent angewandtes theoretisch-methodologisches Instrumentarium abschätzen. Im Falle von praxisbasierten Untersuchungen gelten jedoch andere Gesetze, die die Kunstforschung leiten, weil die Infragestellung der Forschungsprozesse, das Hervorbringen von unerklärtem, nicht-begrifflichem Wissen und die bewusste Reflektion über schon etablierte Kunstpraxen hier viel wichtiger als empirisch überprüfbare Ergebnisse sind.

      Implizites Wissen und reflektierende Praxis/Reflexion bilden tatsächlich den Fokus von zwei für die Diskussion um PAR bedeutenden Theorien, die zu einer neuen Epistemologie der Praxis beigetragen haben. Die erste ist die bereits erwähnte Position von Michael Polanyi, während sich die zweite in Donald Alan Schöns Werk The Reflective Practitioner artikuliert. 1983 hat Schön den Begriff „reflective practice“ eingeführt, welcher den Zusammenhang von Wissen und Handeln in der Tätigkeit von Praktikern zu verdeutlichen versucht und nach einer neuen, auf der Praxis basierenden Verschmelzung von Kunst und akademischer Lehre strebt. Von unterschiedlichen Fallstudien ausgehend stellt Schön fest, dass die Art und Weise, wie Praktiker Aufgaben stellen und Probleme lösen, von einem impliziten personalen Wissen abhängt, das oftmals nicht ausgesprochen ist und das auf die in der Praxis gelernte Improvisationsfähigkeit setzt. Doch diese statische Wissensform sei nicht in der Lage, mehr Wissen im Praxisfeld zu konstruieren, weil Praktiker die Instrumente für die Artikulation ihres intuitiven, im Handeln inhärenten Wissens und folglich für die Wissensvermittlung nicht beherrschen. Der Bereich der Praxis bleibt hier von dem der wissenschaftlichen Untersuchung getrennt. Unter bestimmten Umständen können sich Praktiker allerdings auf eine „reflektierende Praxis“ konzentrieren, welche die Beziehung zwischen Praxis und Forschung wiederherstellt. Der natürliche Austausch zwischen diesen Bereichen wird durch die „Reflexion im Handeln“, d.h. das Reflektieren über das Handeln während des Handelns selbst, und die „Reflexion über das Handeln“, d.h. eine rückschauende Reflexion über die abgeschlossene Handlung, implementiert. Der Praktiker wird zum Erforscher seiner eigenen Praxis, wenn er über sein eigenes Wissen in der Praxis reflektiert – mitten in der kreativen Handlung wie auch danach.8 Christopher Crouchs Kritik an Schöns reflektierender Praxis (2007) gipfelt aber in der Feststellung, Reflection sei ein Prozess, durch welchen sich das Individuum an einem schon vorhandenen Wissensbestand beteilige, ohne sich zu fragen, wie und inwiefern er seine Forschung beeinflusst und was letztendlich als Forschung angenommen wird. Crouch plädiert stattdessen für die Wichtigkeit von reflexive practitioners, die sich kritisch mit ihren kreativen Werken oder Artefakten beschäftigen. Reflexivität bezeichnet demnach einen dynamischen Lernprozess, der die interne Perspektive mit der externen verbindet. Im Kunstbereich bzw. in der Kunstforschung wird ein solcher Lernprozess entweder in Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Akademikern oder von Kunstpraktikern selbst durchgeführt, die aber ihre eigenen auf der Praxis basierenden Kenntnisse mit kritischem Blick untersuchen und in der Öffentlichkeit verbreiten können. Praxis bzw. reflexives Handeln erzwingt den Einsatz der Einzelnen für die Aushandlung eher gesellschaftlicher als akademischer Prinzipien und Werte:

      When the creative practitioner adopts praxis, it encourages the act of reflecting upon, and reconstructing the constructed world. Adopting praxis assumes a process of meaning making, and that meaning and its processes are contingent upon a cultural and social environment. Because praxis is not self-centred but is about acting together with others, because it is about negotiation and is not about acting upon others, it forces the practitioner to consider more than just the practicalities of making. Praxis encourages a move away from the pitfalls of introspective narcissism and towards an analytical engagement with human interaction, and emphasizes the necessity to clarify the inter-subjective circumstances of the communicative act. (111f.)

      So ist es nicht überraschend, dass die Situiertheit des Wissens und des Lernprozesses als heutiges Bewertungskriterium von PAR am meisten zählt. Sie betrifft die Art und Weise, wie die practitioners ihre Arbeit kontextualisieren – d.h. situativ platzieren –, welche Probleme sie durch ihre Arbeit untersuchen und welche Methoden sie anwenden, um die Fragen ihrer Kunstforschung zu behandeln und, wenn möglich, zu beantworten. Es besteht in dieser Hinsicht kein entscheidender Unterschied zwischen situiertem und erfahrungsbasiertem Wissen, soweit nach Sutherland und Krzys (2007) die praktische, kontextbezogene und relationale Aktivität des Lernens betroffen ist. Wenn sie behaupten: »[R]ather than metaphors of location, creative practice demonstrates the need to use metaphors of embodiment and tacit knowledge in order to understand the nature of experiential knowledge« (133), dann übersehen sie die Bedeutung von Situiertheit sowie die ganze Debatte über die Praxis als Hauptgrund für das Lernen. Doch die Fokussierung auf das Erfahrungswissen und auf die Konstituierung des Kunstwerks durch die direkten Kontakte der Subjekte zur Kunst beleuchtet das Problem der Re-präsentation von praxisorientierten Forschungsarbeiten.

      Da jede wissenschaftliche Forschung auf »sustained and structured reflection« basiert, welche das unausgesprochene, implizite Wissen eines Kunstprozesses explizit macht (Nelson 2006: 112), muss Praxis sowohl im Kunstwerk als auch in einer damit verbundenen Dokumentation artikuliert und kommuniziert werden. Diese Doppelartikulation der Kunstpraxis im wissenschaftlichen Bereich wird aber in zweifacher Hinsicht kritisch gesehen: Wenn einige Wissenschaftler argumentieren, gewisse Kunstpraktiken und die Erschaffung von Kunst selbst seien als ernsthafte wissenschaftliche Forschung zu betrachten, »or at least as an integral aspect of the research, because it is an indispensable part of the research« (Dallow, 2003: 55), beklagen andere die akademische Betonung auf Zweck und Ziel der Kunstschöpfung, was das Kunstwerk und dessen Wert in den Hintergrund drängt. Anna Pakes (2004) spricht ihr tiefes Bedauern über den für PAR typischen systematischen Versuch aus, die Konturen von Kunstwerken festzulegen, sie als Lösung einer externen Infragestellung aufzuweichen und somit ihre Polysemie zu verweigern: »The problem is that exercising such control may also undercut the value of artworks as able to speak to a multiplicity of interests and a variety of viewers […]«. Erschwerend kommt hinzu, dass die etablierte akademische Weise, die Struktur einer Forschungsarbeit zu evaluieren, gerade dem epistemologischen Wert der Kunst entgegensteht: Neben der objektiven wissenschaftlichen Erkenntnis spielen die äußerst produktive Verflechtung von Beziehungen und Erfahrungen, die intime und innige Beschäftigung mit dem eigenen Werk ebenso wie die hohe Interpretationsoffenheit von Kunstwerken eine Rolle. Gerade wegen dieses zweimal verkörperten Wissens – einmal im kreativen Prozess, einmal im Kunstwerk – ist die Frage nach einer angemessenen Dokumentation vor allem in den praxisorientierten performative arts entscheidend: Die Flüchtigkeit von Aufführungen und die von ihnen untrennbare leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren entziehen sich jeder