Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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Kausalität und dem menschlichen Handeln innerhalb des Geschichtswandels nicht. In dem Versuch, die anthropozentrische Denkstruktur und deren fast metaphysischen Subjektbegriff zu bekämpfen, kapituliert Foucault vor der Immanenz und Determiniertheit der objektiven Strukturen. Die jenseits menschlicher Kontrolle existierende Ordnung des Diskurses generiert nämlich ein Wissenssystem, das von den Akteuren und den Institutionen völlig unabhängig ist, die es durch eine konkrete Praxis anwenden und zu guter Letzt erzeugen (Bourdieu 2001: 316f.; 329f.). Das dynamische Prinzip dieses Systems befinde sich im System selbst, wobei die Einzelakteure keinen Spielraum für die Infragestellung, Ablehnung, Veränderung oder Neudefinierung der herkömmlichen Ordnung von Sinnproduktion und -durchsetzung hätten. Die aktive Rolle des handelnden Individuums, die Bedeutungsaushandlung sowie die Fähigkeit zu alternativen Taten und Intentionen5 bleiben bei Foucault außer Acht.

      Ein Versuch, die Frage zu beantworten, wie sich geschichtliche materielle Bedingungen, ästhetische Strukturen und soziale Trägerschaften jenseits simpler Reproduktionsmuster aufeinander beziehen lassen, wurde erst von der Interdiskursanalyse durchgeführt. Die Erweiterung der Foucaultschen Diskursanalyse durch die zwei parallelen Begriffe „Spezialdiskurs“ und „Interdiskurs“6 erfolgt zugunsten einer Rehabilitierung des Subjekts: Dies profiliert sich als Stifter von Interdiskursen, der aus den unterschiedlichen kursierenden Diskursen auswählen kann. Der generative Ansatz in der soziokulturellen Praxis wird somit wieder zur wissenschaftlichen Debatte gestellt. Rolf Parr erarbeitet die interdiskurstheoretische Perspektive für die Beschreibung literarisch-kultureller Gruppierungen, wobei er den Interdiskurs »als entscheidende[s] Kopplungsfeld zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Praxisbereichen« annimmt (2000: 23). Die Fokussierung verschiebt sich allmählich auf die kollektive As-Sociation bzw. Socius-Bildung, welche »immer zugleich individuelle Ausbildung von „Psyche“ und Prozess des kollektiven sich Associierens an andere« ist (14). Doch auch im interdiskursiven Ansatz erdrückt die grundlegende sozialhistorische Kontingenz des Wissenssubjekts jede Handlung oder jeden aktiven Lernprozess des Individuums. Wenn auch das Konzept des homogenen Kollektivsubjekts durch die Annahme einer Herstellung distinkter Subjektpositionen im kulturellen Feld konterkariert wird, bleibt die individuelle Betätigung in der Integration der Praktiken und in der Applikation von interdiskursiven Elementen völlig unbeachtet. Der Interdiskurs setzt einen Wissensgehalt voraus, der objektiv gegeben, schon fixiert und kaum veränderlich ist. Das Subjekt ist kein Akteur, der seinen Spielraum durch seine eigene Körperlichkeit, Erfahrung und Wahrnehmungsfähigkeit innerhalb einer Gemeinschaft bewerten, mitbestimmen und neu definieren kann. Die Interdiskursanalyse vermeidet konsequent, den Begriff „Praktiken“ zu definieren: Anscheinend sind sie nur generative Regeln für die Erzeugung von Kunst und Wissen. Die Aushandlung von Bedeutungen, Praktiken und Symbolen spielt demgemäß überhaupt keine Rolle: Jeder Teilnehmer eines literarisch-kulturellen Vereins scheint eher passiv, ohnmächtig zu sein. Das Verfahren der Reproduktion formierender interdiskursiver Elemente in der Tätigkeit einer Gruppierung werde nämlich, wie Parr argumentiert, durch Rituale fortgeführt, deren Auswahl, Genese, Entwicklung und Modifizierung offenbar jenseits der Einflussmöglichkeiten der Mitglieder liegen.7 Das sogenannte formierend-historische Projekt bzw. das „Projekt der Praktikenintegration“ nimmt dann die vagen Konturen einer unsichtbaren, den Individuen vorgängigen Macht an. Auch in der Interdiskurstheorie bleibt die Subjektivität in abstrakten Strukturen oder in unfassbaren Kreuzen zwischen unterschiedlichen Achsen befangen: Das Individuum ist immer noch ein Träger des jeweils gegebenen Projekts, kein interaktives und zugleich agierendes Subjekt. Man spricht ständig von Ideen, Symbolen, Ideologemen und Projekten, als wären sie Teil eines halbgöttlichen Plans, da von Menschen kaum die Rede ist. Eine Analyse von soziokulturellen Gesellschaften oder Vereinen, von Wissenschaften8, von Künsten und deren Werken kann allerdings nicht darauf verzichten, die Erzeugung und Reproduktion von Erfahrung und Wissen seitens der Subjekte zu berücksichtigen. Mit anderen Worten, das Individuum als Produkt einer Struktur soll mit einem subjektiven Bedeutungs- und Aktionshorizont dialektisch verknüpft werden, den außerhalb jener Struktur gewonnen wurde. Wie Stephen Turner zu Recht bemerkt, ist es das Konzept von Praxis selbst, das eine Zwei-Ebenen-Struktur aufweist: einerseits eine individuelle Substanz, die subjektive Veranlagungen mit einschließt, andererseits eine sozialhistorische Gegebenheit (1994: 50).

      Es ist nun deutlich geworden, dass weder die Diskursanalyse noch die Interdiskuranalyse einen angemessenen theoretischen Rahmen bieten, in dem die Problematik der von Subjekten im Alltagsleben sowie in (theater)wissenschaftlicher Forschung ausgehandelten Praxis einer eingehenden Betrachtung zugeführt werden kann. Die für die Münchner Theaterwissenschaft bezeichnende Praxisdimension kann nur als Baustein der Wissensumwandlung begriffen werden, die in der Lerntätigkeit der an Artur Kutscher gebundenen Gemeinschaft durch die zweipolige Interaktion zwischen personaler Erfahrung und sozialen Kompetenzen stattfand. Als Ansatzpunkt für vorliegende Arbeit wird demnach die Theorie der situierten Kognition angewandt, die dem Vorbild von Jean Lave und Etienne Wenger folgt9 und die den Lernprozess als eine kontextbezogene Transformation des Wissens versteht, welche persönliche Veränderungen mit der Entwicklung von Sozialstrukturen kombiniert (Wenger 2000: 227).

      Situiertes Lernen nach Jean Lave und Etienne Wenger

      In Laves und Wengers Auffassung hängt das situierte Lernen von der auf verschiedene Weisen legitimierten Teilhabe an Communities of Practice ab.1 Diese Teilnahme ist daher ein konstituierender Bestandteil sowohl für Wissensinhalte als auch für die Identitätsentwicklung im Verhältnis zu Lerngemeinschaften. Lernen ist ein kollektiver sowie relationaler Prozess und stimmt mit der Aushandlung einer Identität überein – zumal Identitätsbildung heißt, als Mitglied sozialer Gemeinschaften die Bedeutungen individueller Erfahrung auszuhandeln. Lernen ist lediglich ein soziales Phänomen und für jedes Individuum geschieht es durch die Partizipation bzw. durch den aktiven Anteil an den Praxen seiner Gemeinschaft(en). Aus diesem Grund wird die Lernform in der Theorie der situierten Kognition auch kooperatives Lernen genannt. Der Wissenserwerb ist direkt im Prozess der sozialen Ko-Partizipation verortet, also nicht im Geist der Einzelsubjekte, sodass Lernen nicht dem Gewinn einer gewissen Anzahl von abstrakten, vorab vorgefertigten Wissenssegmenten entspricht, sondern dem Gewinn der Fähigkeit zum Mitwirken, indem der Lernende konkret am Lernprozess teilnimmt. Der Ort des Wissens ist demzufolge der produktive Prozess schlechthin, der immer von den – oftmals unterschiedlichen – Perspektiven der ko-partizipierenden Lernenden vermittelt wird. Dies bedeutet, dass es eine Arbeitsgruppe ist – die sogenannte CoP –, die unter diesen Bedingungen lernt, nicht das einzelne Individuum. Lernen vollziehe sich nämlich immer innerhalb eines partizipatorischen Rahmens,2 was Laves und Wengers Einstellung gegenüber klassisch strukturalistischen Lerntheorien ebenso wie gegenüber interaktionistisch orientierten Ansätzen klarstellt. Die erste Theorierichtung behauptet, Wissenserwerb handle mit dem Erwerb vorgeprägter Strukturen und Verstehen sei eine Frage der Erkenntnis der Strukturen sowie der Entwicklung der Fähigkeit, sich in das System einzuleben. Der Lernende implementiere seinerseits das System, indem er es mit einer Überlagerung von situativen Besonderheiten fülle und diese auf einen Strukturzusammenhang beziehe. Das Verstehen betreffe, mit anderen Worten, individuelle Bindungsrepräsentationen von Subjekten. Bei interaktionistischen Theorien hingegen wird vertreten, dass das, was Menschen lernen keinen schon vorhandenen Inhalt besitze: Lernsubjekte und Lernkontext seien bekanntlich miteinander verflochten. Laves und Wengers Ansatz ist ein Mittelweg:3 Er beruht darauf, dass partizipatorische Rahmen eigentlich strukturiert sind und gerade dieses Merkmal das Lernen in Communities of Practice ermöglicht. Erst ein strukturierter partizipatorischer Lernrahmen könne nämlich den Modus der sogenannten „legitimierten peripheren Partizipation“ vorhersehen. Lernende interagieren mit der vorhandenen sozialen und materiellen Situation, und zwar mit den jeweils herrschenden soziokulturellen Aspekten, wie Vorbildern, Konventionen, Werten und Werkzeugen. Lernende seien also

      Personen, die im bestimmten Maße an einer Praxisgemeinschaft beteiligt und zunehmend in der Lage sind, an den verschiedenen Aushandlungssegmenten zu partizipieren; mit einer je konkreter legitimierten Form des Zugangs und mit einer vielfältig bestimmten Position der Peripherikalität in Relation zum Praxisfeld, d.h. einer spezifischen Form der Zurückgenommenheit vom Handlungsdruck.4 (Wehner/Clases/Endres 1996: 81)

      Nichtsdestotrotz seien diese Strukturen adaptiv, weil sie vielmehr den variablen Ereignissen einer Handlung