Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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shared discourse reflecting a certain perspective on the world (125f.)

      Besonders relevant für die Analyse der Entstehungsphase der Münchner Theaterwissenschaft sind die ausgehandelten Modalitäten, sich am gemeinsamen Projekt zu beteiligen, und die Schaffung spezifischer Werkzeuge, Repräsentationen und anderer Artefakte. Dazu kommen noch der gemeinsam geteilte Diskurs, welcher eine gewisse Weltanschauung reflektiert, sowie die Abwesenheit einleitender Präambeln. Diese Abwesenheit gilt eigentlich als Zeichen für den ständigen Austausch und die gegenseitige Bereicherung zwischen der Praxis einzelner Gemeinschaften und derjenigen Einstellungen, Aussagen und Praxen, die in demselben gesellschaftlich-historischen Kontext auftauchen und ausgehandelt werden. Spezifische Interessen und Probleme der Mitglieder einerseits und deren temporale sowie lokale Eingebundenheit andererseits richten die CoP so ein, dass sie sich aus dem Fluss ihrer Auseinandersetzungen und Aktivitäten bildet. Anders gesagt, Lernen durch CoPs schließt sowohl den Prozess der Wissensumwandlung als auch den Ort, den Kontext ein, in dem eine partizipative Identität bestimmt wird. Unter Communities of Practice als bevorzugten Untersuchungsfelder versteht man also eine präzise Örtlichkeit, in der eine komplexe Interaktion zwischen Lokalem und Globalem stattfindet. Wengers Auffassung dieser Interaktion ist insofern bemerkenswert, als sie das Lernen in Praxis als eine Art Zwischenraum-Phänomen zeichnet, aus dem sinnhafte Entwicklungsmöglichkeiten des Wissens und der persönlichen Erfahrung der Gemeinschaftsmitglieder entstehen können. Bei der Differenzierung zwischen Partizipation und Beteiligung stellt Wenger beispielsweise fest: »We can develop new ways of participating in the global, but we do not engage with it. […] The cosmopolitan character of a practice, for instance, does not free it from the locality of engage­ment« (131). Einerseits kann die direkte Beteiligung nur lokal sein, auch wenn sie an weltumspannende Probleme gebunden ist, andererseits öffnet sich diese lokale Beteiligung zu einer globalen Partizipation – oder näherhin zu einer translokalen und transkulturellen Dimension. Lernen geschieht nämlich in einer lokalen Praxis, stellt aber einen globalen Kontext für seine spezifische Örtlichkeit her. Die von Wenger konzipierte Situiertheit der Handlungspraxis in Raum und Zeit bzw. der Bezugsrahmen aller Interaktionen innerhalb und zwischen Gemeinschaften könnte auch in Bezug auf Chandra Talpade Mohantys Begriff politics of location5 und dessen Implikationen für kritische sozialwissenschaftliche Wissensproduktion betrachtet werden. Mohanty erklärte bekanntlich, Situiertheit sei keine weder zeitliche noch örtliche Fixierung, sondern a »movement between cultures, languages, and complex configurations of meaning and power«, in dem man sich selbst wiedererkennt und definiert (1995: 82) (Herv. im Originaltext). In der Theorie der Communities of Practice beteiligen sich Menschen fortwährend an gewissen lokalen Projekten, wobei sie notgedrungen jedes Mal ihre Identität unterschiedlichen Orten zuordnen, wodurch ein globales Netz von Beziehungen, Erfahrungen und Wissensinhalten aufgebaut wird.6 Gerade dieser Aspekt der Theorie Wengers interessiert die aktuelle Forschung: Der Fokus liegt nicht mehr auf in sich geschlossenen Einzelgemeinschaften, sondern auf multiplen Praxissystemen, auf Multimitgliedschaft, auf Praxislandschaften und auf durch Praxen hindurch konstruierten Identitäten (Omidvar/Kislov 2013: 270).

      Die soziale Landschaft der Praxis

      Die Praxislandschaft resultiert aus unterschiedlichen Partizipationsmodi, die sich zwischen lokalen Interaktionen und globaler Partizipation bewegen. Um die drei wichtigsten Formen oder Mechanismen der Partizipation zu beschreiben, verwendet Wenger die Begriffe Beteiligung (engagement), Vorstellung (imagination) und Ausrichtung (alignment). Während die Beteiligung eine aktive Mitwirkung bei zeitlich, räumlich und psychologisch markierten Bedeutungsaushandlungsprozessen bezeichnet, weist die Vorstellung auf einen kreativen Prozess hin, der die menschliche Erfahrung nutzt, um Weltbilder zu schaffen und Verbindungen durch Raum und Zeit aufzuspüren. Solche über die Beteiligung hinausgehende Bilder und Beziehungen werden zu Grundbestandteilen des Selbstbewusstseins sowie der individuellen Auslegung der eigenen Partizipation an der Sozialwelt. Es ist auffällig, dass sich Wenger dabei auf Benedict Andersons Vorstellungsgedanken beruft (Wenger 2000: 228). Die Vorstellung diente Anderson zum Modell, um die Entstehung gemeinschaftsbildender Beziehungen bzw. Nationen in der Moderne zu erklären.1 Die Vorstellung einer begrenzten und souveränen Gemeinsamkeit existiere zwar ohne direkte Begegnung und aktive Mitbeteiligung der Mitglieder, wurzele zugleich aber im soziohistorischen Kontext: Als Entität, die sowohl Individuen als auch deren kleine Gemeinschaften einbezieht und zugleich über diese hinausgeht, entspricht die Vorstellung einem Wechselspiel zwischen Erfahrungen, Projekten, Selbstdarstellungen, Gefühlen und Bedingtheiten, welches immer neue Identitätsbeziehungen herstellt. Wenger bekräftigt den Standpunkt Andersons, indem er feststellt, das Hauptmerkmal der Vorstellung sei, dass:

      it is anchored in social interactions and communal experiences. It is a mode that always involves the social world to expand the scope of reality and identity. Because imagination involves unconstrained assumptions of relatedness, it can create relations of identity anywhere, throughout history, and in unrestricted number. (1998: 178)

      Diese theoretische Öffnung zur Translokalität2 hat selbstverständlich ihr praktisches Pendant: Beteiligung und Vorstellung wirken zusammen als ein Mechanismus paralleler Einbindung und Entbindung. Die Beteiligung führt zur Herstellung von CoPs, die Vorstellung hingegen ermöglicht dem Subjekt, von seiner Beteiligung Abstand zu nehmen und diese durch die Augen eines Außenstehenden zu sehen. Kurzum, die Verknüpfung von Beteiligung und Vorstellung ergebe eine »reflective practice«, welche zwei Fähigkeiten kombiniert: einerseits die Fähigkeit, sich mit einem gemeinsamen Projekt zu identifizieren, andererseits die Fähigkeit, das Projekt in seinem translokalen Kontext zu betrachten (218). Jeder Akteur gehe also mit Grenzen und Peripherien insofern produktiv um, als er seine Identität(en) mitspielen lassen und suspendieren kann. Individuen seien sowohl in lokale Lerngemeinschaften als auch in translokale Netzwerken eingebettet, die Prozesse kulturellen Austauschs und Transfers fördern. Im Mittelpunkt der Analyse stehen also nicht mehr einheitliche Akteure, sondern Trägergruppen, die in einem dynamischen Aktions- und Erfahrungsraum translokale bzw. transkulturelle Komponenten ständig miteinander verbinden und diese als wandelbare Einheit bilden. Mitglieder solcher Trägergruppen oder Trägerinstitutionen sind Individuen, welche ihre eigene Identität selbst als transkulturell empfinden: Die transkulturelle Fähigkeit, sich durch unterschiedliche Sozialwelten zu bewegen und das jeweils spezifische Wissen zu übertragen, um potenziell immer neue mögliche Identitäten zu realisieren, prägt die Menschen seit der Neuzeit.3 Obwohl Wenger das Präfix „trans“ im Bereich des Translokalen, Transnationalen oder Transkulturalen nie benutzt, verweist die von ihm theorisierte soziale Landschaft der Communities of Practice auf den pragmatischen Ansatz translokaler Sichtweise, der Phänomene der Kontaktzonen berücksichtigt und Übertragungs- und Abneigungsprobleme in den Vordergrund stellt. Wengers Beteiligung, Vorstellung und Ausrichtung – der letzte Begriff bezeichnet einen Koordinationsprozess von Kräften und Tätigkeiten, welcher das Subjekt darauf vorbereitet, sich an breitere Sozialstrukturen anzupassen und dadurch an umfangreicheren Projekten teilzunehmen4 – bilden eine Wissens- und Identitätsstruktur ab, die Praxisbeziehungen nicht zwischen Lokalem und Globalem aufbaut, sondern zwischen verschiedenen Örtlichkeiten, zwischen effektiven und imaginierten Räumen, wie diese eine globale Dimension erschließen.

      So ist es kaum verwunderlich, dass der Identifikationsprozess für Wengers situiertes Lernen zentral ist. Identifikation sei nämlich ein Prozess, durch den die Partizipationsmodi zum konstitutiven Teil menschlicher Identität werden, indem sie Bindungen oder Differenzierungen herstellen, für die man sich einsetzen kann (208ff.). In dieser Hinsicht deute die Identifikation auf den konstitutiven Charakter der CoP und der Konturen von Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft für die menschliche Identität hin. Die Anwesenheit unterschiedlicher Sozialformen von Partizipation, welche die Grenzen einer gewissen Region transzendieren, führt zur Proliferation translokaler Erfahrungen, die Deterritorialisierungs- und Relokalisierungsprozesse charakterisieren.5 Der Kontext jedes Partizipationsmodus setzt also eine spezifische Identifikation voraus,6 so dass die Identitätsbildung die besondere Aufgabe erfüllt, direkte sowie indirekte Erfahrungen, konkrete sowie symbolische Aushandlungen und Auseinandersetzungen in ein kohärentes Selbstbild und Fremdbild aufzunehmen. Sie bringt den Versuch jedes Individuums zum Ausdruck, seine alltägliche Praxis innerhalb der lokalen Gemeinschaften mit weltumspannenden