Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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als ein grundlegendes Element erweisen, um in der neugeborenen praxisbezogenen Disziplin das spezifische, kollektiv erarbeitete Wissen zu tradieren, zu erneuern und aktiv für die Aufgabenerfüllung anzuwenden.

      Die erste Lebensphase einer Lerngemeinschaft fällt mit seiner Gründung zusammen; es handelt sich also um eine Phase, in der das Potential der entstehenden Gemeinschaft bekannt wird und sich systematisch zu organisieren beginnt. Man braucht selbstverständlich Planungswerkzeuge und Gründungsaktivitäten, um aus einem losen Personennetzwerk eine strukturierte, praxisorientierte Gruppe zu bilden. Der Ursprung einer CoP liegt aber nicht in einem Leerraum: Die mitbeteiligten Subjekte haben nämlich schon etwas Gemeinsames sowie Beziehungen zueinander, »[t]hey start to see their own issues and interests as communal fodder and their relationships in the new light of a potential community. As the sense of a shared domain develops, the need for more systematic interactions emerges and generates interest« (Wenger/Snyder 2000: 71). Aus diesem Knotenpunkt heraus taucht eine Person auf, die für den Start der gemeinsamen Praxis die Verantwortung übernimmt. Das herauszuholende Potential stellt den Gemeinschaftsmitgliedern eine Spannungssituation vor: Alle Teilnehmer müssen die Entdeckung nutzbarer, bereits vorhandener Elemente, gemeinsamer Probleme und einer geteilten Geschichte mit der Vorstellung einer künftigen Mission balancieren. Die Identifikation gemeinsamer Forderungen an Wissen und Handeln führt zur Aushandlung sowohl von Ressourcen als auch von Visionen, so dass die Lerngemeinschaft eine bestimmte Trajektorie annimmt. Eine zweite Stufe im Leben der CoP entwickelt sich aus der Verschmelzung der Mitglieder sowie ihrer Aktionsprinzipien. Die entstehende CoP ist mit der Schwierigkeit konfrontiert, eine konkrete Gruppe zu bilden und sich nach Außen hin zu profilieren. Der anfängliche Enthusiasmus kollidiert notgedrungen mit der Realität des strukturellen Aufbaus, der Vertrauensgewinnung unter den Mitgliedern, der Interaktionsfähigkeit und der Förderung des Ideenaustauschs. Da solche dem Zusammenwachsen dienende Aktivitäten keinen unmittelbaren Nutzen bringen, kann die Beteiligung der Mitglieder stark sinken und somit der interne Zusammenhalt zerrissen werden. In diesem Moment ist ein Gleichgewicht zwischen der für die Entwicklung erforderlichen Etablierung von Beziehungen, Ritualen sowie Interaktionen und der konkreten Wertschaffung herzustellen. Wenn eine CoP diese Lebensphase übersteht, dann beginnt das Wechselspiel zwischen öffentlichen und privaten Räumen zu funktionieren: Die praxisorientierte Gemeinschaft nimmt stufenweise feste Gestalt an und wird zu einem Fixpunkt für die Erlebnisse der Mitglieder. Die dritte Phase besteht folglich im Reifwerden: Nachdem sie den Wert des gemeinsamen Lernens festgestellt hat, muss die Gruppe das ausgehandelte Projekt näher bestimmen und eine stärker auf die Gemeinschaft fokussierte Identität bilden. Die Mitglieder entwickeln ihr Selbstverständnis als aktive Teilnehmer, steigern mithin ihr Engagement und verleihen der Arbeitsgruppe eine hohe Dynamik. In dieser Phase beschäftigt sich die Lerngemeinschaft damit, die eigenen Ziele zu klären, Standards für die Problemlösung und Routineoperationen festzulegen, Wissenslücken zu finden und auszufüllen, das gemeinsame Wissen effizient zu organisieren und die eigenen Grenzen zu bestimmen. Die zwei gegensätzlichen Forderungen sind daher die kräftige Expansion und die systematische Fokussierung bezüglich zentraler Themen und Zwecke. Man könnte sogar behaupten, das innere Wachsen entspreche einem Modernisierungsprozess, einer Wiederaufnahme schon ausgehandelter Bedeutungen und Praxisressourcen in Anbetracht der umliegenden Sozialwelt. Die folgende Entwicklungsphase ist dann jene der Festigung, die durch eine fortwährende Transformation gekennzeichnet ist. Die Gemeinschaft reagiert auf die Umwelt und gestaltet diese zeitgleich: »The strength of communities of practice is self-perpetuating. As they generate knowledge, they reinforce and renew themselves« (Wenger/Snyder 2000: 143). Einerseits entwickelt sie ihre Methoden weiter, um das gewonnene Wissen zu expandieren, und sucht andere Kontexte, um dieses zu überprüfen und umzusetzen. Aus diesem Grund öffnet sie sich Newcomern und erarbeitet neue Ansätze. Andererseits versucht die CoP, dank der gewonnenen Relevanz im eigenen Wissensgebiet andere Lerngemeinschaften oder größere Organisationen zu beeinflussen. Die Mitglieder versuchen also, den Lernprozess in der Gesellschaft intensiv zu nutzen. Ein Spannungsverhältnis entwickelt sich in dieser Hinsicht zwischen der gezielten Offenheit und den Eigentumsansprüchen langzeitiger Mitglieder, die Angst davor haben, in der breiteren Gemeinschaft ihre Führungsrolle und ihren Einfluss zu verlieren. Die letzte Entwicklungsstufe trägt den viel sagenden Namen „Umwandlung“, der eine tiefgründige Transformation oder sogar das Ende der CoP bezeichnet. Auslösende Faktoren können ein nicht mehr aktueller Wissensstand, ein übertriebener Tätigkeitsdrang, eine fehlende Identifikation der Mitglieder mit der geteilten Praxis und dem Projekt, strukturelle Veränderungen oder die Verstreuung der Mitglieder in andere Lerngemeinschaften sein. Die Herausforderung besteht also darin, die Spannung zwischen der Auflösung der ganzen Gemeinschaft und der Fortführung als Erbe für andere Communities of Practice abzubauen. Wie jeder andere lebende Organismus kann auch eine Lerngemeinschaft wegen interner Schwächen oder mangelnder Funktionstüchtigkeit sterben. Darum

      [t]he very qualities that make a community an ideal structure for learning – a shared perspective of a domain, trust, a communal identity, long-standing relationships and established practice – are the same qualities that can hold it hostage to its history and its achievements. The community can become an ideal structure for avoiding learning. (Wenger/McDermott/Snyder 2002: 141)

      Eine aufgelöste CoP kann nichtsdestotrotz in der Erfahrung der Mitglieder weiterleben und als Ansatzpunkt für eine Fusionierung oder für eine Neugründung genutzt werden.

      Was aus dem erörterten Lebenszyklus klar hervorgeht, ist die Positionierung von Communities of Practice – als Lerngemeinschaften – im Prozess sozialer Umgestaltung. Die Tatsache, dass Lernende alle Beziehungen von Identifikation und Aushandlung innerhalb einer teils konkreten teils imaginierten Landschaft immer neu konfigurieren, ist ebenso wichtig für das Lernen wie der Zugang zu Informationen. Die Umgestaltung betrifft also nicht nur von Mal zu Mal die lokale Praxis, sondern auch ihre translokalen Einbeziehungen: Lernen sei demnach »a way of being in the social world, not a way of coming to know about it. Learners, like observers more generally, are engaged both in the contexts of their learning and in the broader social world within which these contexts are produced« (Hanks 1991: 24). Insgesamt lässt sich also resümieren, dass die Teilhabe an CoPs den Lernprozess ermöglicht und dass Lernen seinerseits ein Mittel zum Ausbau der Teilhabe an CoPs ist. Beim Lernen handelt es sich um einen erweiterten Zugang zur Performance, und zwar um den Vollzug bestimmter Aufgaben, gemeinsam getroffener Entscheidungen, etablierter Formalitäten und Riten. Erst durch die Teilnahme an einer CoP werden die Lerngegenstände und -werkzeuge relevant und es können sich neue Lerninhalte entwickeln. Das gemeinsame Lernen führt somit die Subjekte dazu, notwendige Expertisen und Fertigkeiten zu erschließen und diese durch die selbsterlebten Ereignisse zu ergänzen. Der Erfolg des Koordinators einer CoP geht also mit seiner Fähigkeit einher, das spezifische Wissensgebiet und die Partizipation an der gemeinsamen Praxis so zu strukturieren, dass jedes Mitglied seinen Spielraum im und durch den Lernkontext hat. Die ständige wechselseitige Bereicherung zwischen der individuellen Lebenserfahrung und dem gemeinsamen Handeln dient der Entwicklung sowohl von den Einzelpersönlichkeiten als auch von der Lerngemeinschaft.

      Der Kutscher-Kreis als Lerngemeinschaft

      Wenn man zu den Anfängen der Münchner Theaterwissenschaft zurückkehrt, dann merkt man gerade im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in den Universitätsvorlesungen und -übungen Artur Kutschers die progressive Trennung zwischen Lehr- und Lerninhalten einerseits, die man als der neueren deutschen Literatur zugehörig betrachtet, und der wissenschaftlich-didaktischen Auseinandersetzung mit Theaterstücken und Inszenierungen andererseits. Diese Differenzierung der Wissensbereiche veranlasste schnell das Experimentieren und dann die endgültige Durchsetzung neuer Forschungs- und Lehrmethoden, welche die Theaterpraxis gleichzeitig als Gegenstand der Analyse, als Untersuchungsmethode und als Wirkungsebene für gemeinsames Handeln betrachten. Der direkte Übergang zu einer praxisbezogenen Disziplin vervollkommnete sich innerhalb des Kutscher-Kreises und durch die Beziehung zwischen dem Lehrer, den Künstlern und den Schülern. Die Münchner Theaterwissenschaft entstand zweifelsohne durch die Koordination durch eine Leitfigur wie Kutscher, wurde aber erst durch den Austausch und durch die Teilnahme einer Gruppe von Personen verwirklicht. Kutscher war eher der Leiter einer Lerngemeinschaft als der Vertreter eines Fachgebietes, da er das Objekt, die Methodologie, die Probleme und die Aufgaben der Theaterwissenschaft