Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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In den Berichten der Intellektuellen, Freunde oder Schüler Kutschers über die anfängliche Phase des theaterwissenschaftlichen Lern- und Lehrprozesses in München, findet man lediglich die Bezeichnung „Kreis“, während der Ausdruck „Schule“ nicht einmal erscheint1. Die besondere semantische Fruchtbarkeit des Ausdrucks „Kreis“ erweist sich tatsächlich in einer Reihe von Deklinationen, welche die Zentralität der Arbeitsgruppe immer hervorhebt: Der mehrmals zitierte »Kutscher-Kreis« war sowohl ein »Schülerkreis« als auch ein »Freundeskreis«, ein »fruchtbarer«, »kunstgeschulter« Kreis mit eigener Tradition, und schließlich ein »Wirkungskreis«.2 Offenbar benutzten die Studenten Kutschers diesen Begriff, um von innen heraus die Grenzen des gemeinsamen Unternehmens zu markieren. Die Tatsache, dass die Bezeichnung dann auch von politischen Autoritäten und Universitätskollegen angewandt wurde, beweist die äußere Anerkennung, die in wenigen Jahrzehnten die Münchner Theaterwissenschaft gewonnen hatte.3 Der Theaterprofessor selbst verstand seine Lerngemeinschaft nicht als eine Wissensstruktur, in der ein aufgeklärtes Einzelsubjekt seinen Hörern die Prinzipien und Ansätze einer Wissenschaft sowie deren praktische Anwendung einschärfte. Ganz im Gegenteil, er betonte wiederholt welchen grundlegenden Wert die Ko-Partizipation als Basis und Anreiz für die Lernsituation hat.4 Der Lernende wird ja instruiert, wie er zu handeln hat, aber nicht durch einen überlegenen Lehrmeister oder weil ein abstrakter sozialer Zusammenhang vorgegeben ist, sondern er lernt aus der »Wahrnehmung, Redefinition und emotionale[n] Bewertung« der Lernsituation in ihrer Situiertheit in der Praxisgemeinschaft (Wehner/Clases/Endres 1996: 77).

      Am Anfang aller Überlegungen bezüglich der Lernsituation im theaterwissenschaftlichen Kutscher-Kreis steht also die Frage, wo und wie das Lernen praktiziert wurde. Es wäre eine oberflächliche Betrachtungsweise, würde man, was die Münchner Theaterwissenschaft betrifft, die in der Universität selbst betriebene Forschung von der praktischen Forschungsarbeit in Kneipen, Vereinen oder auf Studienfahrten unterscheiden.5 Der Fokus soll daher nicht in der Differenzierung zwischen Innerhalb und Außerhalb der Universität bzw. des Universitätssystems liegen, sondern auf dem Dazwischen. In der modernen Historiographie um 1900 sieht Jo Tollebeek beispielsweise eine intendierte Selbst-Inszenierung, d.h. den Versuch, durch die Gestaltung der sogenannten „Landschaft der Disziplin“6 eine neue Bildungsform herzustellen, »whose purpose was to make a nouvelle histoire possible« (2014: 130). In der sich in denselben Jahren konstituierenden Theaterwissenschaft könnte man ebenso das Ziel erblicken, durch die Vermischung von traditionellen universitären Räumen, privaten Gesellschaften und Vereinen, informellen Kreisen, Ausflugsorten und Bühnen zum einen das reformierte Theater der Zukunft zu gestalten und zum anderen eine dem Theater gewidmete Disziplin zu etablieren. In der Regel wurden die theaterwissenschaftlichen Vorlesungen im Universitätshauptgebäude und die Übungen im Institut, im Theatermuseum, in der Universitätsbibliothek, auf der Probebühne und/oder in Schauspielhäusern abgehalten.7 Darüber hinaus wurden Autorenabende, Theaterbesuche, Stammtischtreffen und Gesellschaftssitzungen zum Bestandteil des Studiums. Eine wichtige Stelle im Studienplan bekamen auch die gelegentlichen Theaterexkursionen. Die neue Disziplin verband ihren Wissensmodus mit den politisch-strategischen und kulturrelevanten Örtlichkeiten der Gegenwart und brachte dadurch das Studium an der Universität mit aktuellen Fragen der Kunst und der Gesellschaft in Verknüpfung: Das Hochschulsystem hätte sich der Theaterwissenschaft annehmen müssen, weil sie schon Teil der Kunstdebatte und dazu der sozialen Entwicklung der Jugend war.

      Gerade um die Jahrhundertwende trat fernerhin eine Wende im Wesen sowohl der Wissenschaft als auch des Theaters ein, der sich auf die theaterwissenschaftliche Lehrtätigkeit Artur Kutschers auswirkte. Einerseits sahen die Verkünder der Theaterwissenschaft die Notwendigkeit ein, durch die Schaffung einer historiographischen Grundlage und durch die Zusammenstellung eines Kanons den Forschungsgegenstand „Theater“ wissenschaftsfähig zu machen. Die performative Theaterkunst wurde folgerichtig in Objekten, Artefakten und Modellen fixiert, welche man sammeln konnte: Das Theater wurde also musealisiert. Treffende Beispiele für diese Tendenz bieten die vielen Theatermuseen und neuen Theatersammlungen, welche in die Universitäts- und Forschungsinstitute eingegliedert wurden. Schon 1910 wurde das Münchner Theatermuseum im Clara-Ziegler-Haus gegründet, 1919 richtete Carl Niessen seine Theatersammlung ein,8 bis zu seinem Tod im Jahr 1924 vereinigte Albert Köster eine theatergeschichtliche Sammlung in Leipzig, 1922 baute Joseph Gregor die Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien auf, 1924 veranlasste Eugen Wolff die Einrichtung des Kieler Theatermuseums, 1927 rief Oskar Eberle die „Gesellschaft für schweizerische Theaterkultur“ ins Leben, welche die Schweizerische Theatersammlung in Bern etablierte. Andererseits entdeckte die akademische Theaterwissenschaft den Körper, die Oralität und die Spektakularität als Bestandteile nicht nur ihres Forschungsgegenstandes sondern auch ihrer Lehrstrategien. Es wurde also versucht, die Tendenz zur Verdinglichung mit der Vitalität und Dynamik der Kunst zu bekämpfen, welche die Dozenten eben im Theater der Gegenwart erkannten. Universitäre Lehrveran­staltungen entwickelten sich allmählich in Richtung Performativität. Obwohl eine explizite performative Fokussierung in der erziehungswissenschaftlichen Reflexion erst in den 1990er Jahren zu beobachten ist, um jeweils eine Metapher für die Unterrichtskommunikation, eine Methode der partizipatorischen Lehre oder ein Paradigma fürs Bildungserlebnis zu bezeichnen (Pineau 1994: 6), kann man schon um die Jahrhundertwende eine neue Konzeptualisierung des Bildungsbegriffs erkennen, die sich auch im Universitätsunterricht abzeichnete. Unter Bildung wurde ein Prozess verstanden, in dem sich die Einzelidentität der Lernenden und die sich verändernden soziokulturellen Kontexte ständig verflechten. Eine solche Verkettung hätte dann allen Subjekten ermöglicht, an ihren Bildungs- oder Lernbedingungen mitzuwirken, und zwar sich selbst sowie ihre (Praxis)Gemeinschaft zu gestalten. Die rege Beteiligung aller Mitglieder – Lehrer und Schüler – an der Anhäufung, Bereicherung, Neu-Definierung und Weitergabe von Wissen erfordere daher eine immer höhere Aufmerksamkeit für die Regeln, Rollen und Rituale, die jeden Teilnehmer in den Lernprozess einbinden. Der performative Blickwinkel auf die Identitäts- und Gesellschaftsbildung bestimmt mithin die pädagogische Funktion des Lehrers neu: Er sei weder ein vom performativen Kontext isolierter Schauspieler noch ein Prediger inmitten der passiven, amorphen Masse seiner Studenten, sondern die leitende Figur der Aufführung „Unterricht“, der Koordinator, der die Lerngemeinschaft organisiert, der er selbst angehört. Lernende seien demzufolge nicht mehr Objekte des Bildungsprozesses, sondern dessen Subjekte, die sich ständig mit Lerngegenständen und Deutungen auseinandersetzen. Im unterrichtlichen Lernen werden dann die Körperlichkeit, das Erfahrene, die einzelnen Ereignisse und die ausgehandelten Wissensressourcen besonders signifikant. Eine sog. performative Lehrtätigkeit besteht in anderen Worten darauf, dass es im Unterricht um gelebte Realität geht, also um die Existenz, wie sie konkret erfahren wird. Jedes Fachgebiet entspricht folglich einer wahrnehmbaren Praxis, »in der sich ein bedeutender Teil subjektiver Kulturleiblichkeit bildet« (Klepacki 2009: 21).

      Performative Aspekte des gemeinsamen Lernens

      Kutschers außergewöhnliche Stellung in der Entstehungsphase der Theaterwissenschaft, d.h. seine Bestrebung, die wissenschaftliche Arbeit an Fragen des zeitgenössischen Theaters anzubinden und den intensiven Austausch zwischen Historiographie, Kritik und Praxis zu unterstützen, rührt von der oben geschilderten Konvergenz von Wissenschaft und Kunsttheater her. Im Prozess der Wissenserzeugung akzentuierte Kutscher den performativen Aspekt des gemeinsamen Lernens und fügte theatrale Komponenten in die wissenschaftliche Methodik ein. Dabei trat die aktive, partizipatorische Lerngemeinschaft in den Vordergrund und die Aushandlung von Lerninhalten, Interpretationen und wissenschaftlichen sowie künstlerischen Praktiken überschritt die Grenzen der professoralen Lehre im Seminarraum. Hugo Hartung sprach hierüber von den Impulsen »Forscherdrang, Lern- und Lehrbegier«, die den Kutscher-Kreis in Vorlesungen, Übungen, Exkursionen, Autorenabende, Theaterbesuche und -kritiken soeben wie in studentische Aufführungen trieben (1966: 164). Der ehemalige Student erinnert sich nicht nur an ein »spazierengehende[s] Lernen« (165), sondern auch an die »Vorlesung belebende[n] Glanznummern« (161), die Kutschers Programm bis in die 1960er Jahre hinein charakterisierten. Bezüglich der Art und Weise, wie Kutscher die Mitwirkung seiner Schüler an der gemeinsamen Praxis förderte, seien nur einige aufschlussreiche Beispiele genannt.1 Hugo Hartung schilderte Kutschers Haltung während der Lehrveranstaltungen folgendermaßen:

      In seinen Vorlesungen kam Artur