Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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von Heigel und anderen anerkannten Namen studierte, die damals in der Hauptstadt Bayerns lehrten. Im Sommersemester 1900 besuchte er die Universität zu Kiel, an der Eugen Wolff Seminare über Schillers Ästhetik und über die Geschichte des deutschen Dramas im 19. Jahrhundert hielt. Kutscher ließ sich von Wolffs Vorstellung einer Wissenschaft des Theaters begeistern und las auch seine skizzenhafte Stilkunde mit Interesse, bevor er sie aber aus mangelnder wissenschaftlicher Präzision und Vollkommenheit ablehnte. Im Wintersemester 1900/1901, nach dem Besuch der Pariser Weltausstellung, zog Kutscher nach Berlin und, auch wenn er »das Theater gründlich kennenlernen« wollte (1960: 32), belegte dort vor allem germanistische Vorlesungen: „Altertums- und Volkskunde“ bei Karl Weinhold, die er positiv fand, „Geschichte der ältesten deutschen Literatur“ bei Roediger, dessen Reizlosigkeit Kutscher sehr schnell verurteilte, „Goethes Faust“ bei Ludwig Geiger, die dem Studenten eine dermaßen große Enttäuschung verursachte, dass er aus dem Kolleg hinauslief, und schließlich „Deutsche Literatur von Klopstock bis Schiller“ bei Erich Schmidt, dem verehrten Nachfolger Wilhelm Scherers, den Kutscher auch hochschätzte. Darüber hinaus hörte der späte Theaterwissenschaftler Max Dessoirs Vorlesung „Ästhetik mit Beispielen aus moderner Malerei, Musik und Architektur“. Gerade in jener Berliner Zeit engagierte sich Dessoir für die Neubegründung einer systematischen Kunstwissenschaft, was zweifellos eine große Faszination auf Kutscher ausübte. Allerdings verschlug es Kutscher im Sommersemester 1901 nochmals nach München und von da ab wurde die Stadt zu seiner Wahlheimat. Die Gründe seiner jugendlichen Entscheidung erklärte Kutscher in seiner Autobiographie: »Was mich veranlaßte, wieder München zu wählen, war nicht eigentlich die Universität, sondern die Atmosphäre der Stadt«, die er näher bestimmt: »ihre Offenheit gegen die mannigfaltige, große Natur, ihre ganze Lebensführung, die einem kräftigen […] Volkstum verbunden war, und ihre Liebe zu bildender Kunst, Architektur, Musik, Theater, die weniger vom bajuwarischen Stamme als von Zugereisten aus Nord und Südost getragen wurden« (35).

      Was tatsächlich München um die Jahrhundertwende charakterisierte, war einerseits der Aufschwung des Wirtschaftslebens, der am Ende des sog. „Siebziger Krieges“ gegen Frankreich begann, und andererseits die Bevölkerungsexplosion: Durch eine massive Einwanderung wurde die Zahl der Einwohner in der Zeitspanne 1890–1900 von 350000 auf 498503 erhöht (Wilhelm 1993: 9). Neben den darauffolgenden aufsteigenden sozialen Konflikten erlebte die Stadt das Aufblühen von Vereinen, Bünden, Kreisen und Gesellschaften, Zeitungen, Zeitschriften und internationalen Ausstellungen, wie die ab 1889 jährliche Internationale Kunstausstellung im Glaspalast, die den Ruf Münchens als „Stadt der Kunst“ begründete. Die Prinzregentenzeit leitete eine Blütezeit ein, die München in eine der führenden Kunst- und Kulturstädte des deutschen Reiches verwandelte. Der Münchner Aufbruch in die Moderne wurde von sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten, Bewegungen und kulturellen Richtungen getragen, die aber einen gemeinsamen Charakter zeigten: der Widerstand gegen die Autorität – auch im künstlerischen Bereich – ebenso wie gegen viele sittliche Normen und Unterdrückungsformen.

      Der Begriff ‚Moderne‘ entfaltete sich kunst-, theater- und literarhistorisch in der naturalistischen Bewegung und gleichzeitig in mancherlei Gegenrichtungen, die im Kunstwerk entweder die Entfaltung der Subjektivität nach Nietzsches „Willen zur Macht“ oder den Einbruch des Freud’schen Unbewussten oder die Erweckung naturmystischer Vorstellungen erstrebten. Wie Brauneck treffend zusammenfasst, ergab sich in der Moderne »ein äußerst produktives geistiges Klima […], in dem künstlerische Richtungen wie Impressionismus, Symbolismus oder „Neuromantik“ ihre theoretischen oder weltanschaulichen Bezugspunkte fanden« (682). Sowohl die Vertreter des Naturalismus als auch die Naturalismus-Gegner propagierten ein eigenes Projekt der Moderne: entweder einen Objektivitätsanspruch (Außenwelt, Realität „ohne die Menschen“) oder einen subjektiven Wahrheitsbegriff (Innenwelt, Empfindung, Naturtrieb, Vitalismus). Wenn man sich im deutschsprachigen Raum auf München allein konzentriert, ist sowohl die Koexistenz gegenseitiger und trotzdem eng verbundener Strömungen als auch das Kulturengagement unterschiedlicher Gruppierungen am deutlichsten erkennbar. Eine Beschreibung des kulturellen Pols München um 1900 ist für die Analyse der frühen Tätigkeit Artur Kutschers äußerst brauchbar, denn diese enthielt schon in nuce das Potential für die Förderung bzw. Koordination einer praxisorientierten Theaterwissenschaft. Wenn man Communities of Practice genauer betrachtet, kann man diese nicht als isolierte Erscheinungen auffassen oder sie unabhängig von anderen Praktiken verstehen: Ihre unterschiedlichen Praktiken sind miteinander eng verbunden. Ihre Mitglieder und ihre Artefakte sind nicht ihre eigenen allein, ihre Geschichten sind nicht einfach interne Geschichten. Sie sind eher Artikulationsgeschichten zur übrigen Welt hin (Wenger 1998: 103). Was die Kunst- und Kulturgeschichte Münchens in der Prinzregentenzeit prägt, sei eben die Aufwertung der Gemeinschaft im Sinne einer Bildung von sozialen Gruppierungen unterschiedlicher Art. Eine solche Kollektivität entfernte sich allmählich vom aufklärerischen Ideal einer kulturellen Elite, die nach ihrem geistigen Muster die ganze Nation modellieren sollte, und gab sich eher der Volksutopie hin. Die Künstler, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Förderung eines kultivierten Bürgertums beschäftigt hatten, plädierten für die Ausbreitung eines unpolitischen Klassizismus und waren daher der königlichen Macht untergeordnet.1 Die junge Künstlergeneration rebellierte demnach heftig gegen diese sterile Kunst, die in ihren Augen den Status quo einfach verteidigte und die deutsche Misere vertiefte. In ihrer Vorstellung sollte ein außergeschichtliches oder unhistorisches Volk an die Stelle einer bürgerlichen bzw. philiströsen Nation treten. In diesem Zusammenhang spielte die Theatervision Richard Wagners unzweifelhaft eine große Rolle.2 Wagners Kunstbegriff fußte auf dem Gemeinschaftserlebnis, welches durch emotionale, prä-rationale Bindungskräfte eine temporäre Überwindung der sonst gültigen Gesellschaftsspaltungen erforderte und hierdurch das ganze Volk konsolidieren und einigen konnte.3 Eine für das Volk erzeugte Kunst konnte nur aus der idealisierten Gemeinschaft des Volks selbst kommen und verlangte somit die Zusammenarbeit zwischen Intellektuellen, Theoretikern, schon ausübenden sowie debütierenden Künstlern, die sich jeweils durch eine Verflechtung ihrer Praktiken gegenseitig legitimierten. Rolf Parr, Literaturhistoriker und anerkannter Forscher auf dem Feld literarisch-kultureller Vereine vor und nach dem ersten Weltkrieg, hat versucht, das Phänomen systematisch zu kontextualisieren: Im wilhelminischen Deutschland hätten das Prosperieren von Technik, die Industrialisierung und die Universalisierungstendenz eines kapitalistischen Systems zur Radikalisierung der Opposition zwischen vorhandenem Materialismus und mangelndem Idealismus geführt, »was notwendigerweise kulturkritische Konzepte mit kompensatorischer Intention auf den Plan rufen mußte, die von einer nach 1860 geborenen und bereits im Reich aufgewachsenen Generation von Intellektuellen getragen wurden« (2000: 47). Man betrachtete also die schwache nationale Identität der Deutschen als direkte Folge des kulturellen Verfalls und beabsichtigte daher, das Verhältnis zwischen Nationalidentität und Kultur zu problematisieren:

      Für diesen Teil des wilhelminischen Bildungsbürgertums galt es, zum einen nach „außen“ zu expandieren und zu kolonisieren, […] zum anderen nach „innen“ die deutsche Kultur zu erneuern, um damit […] das Spezifische eines präsupponierten deutschen Nationalcharakters und zugleich die eigene sozio-ökonomische Stellung zu sichern. (Ebd.)

      Die konsequente Reaktion sei eine konservative Kulturkritik gewesen, welche die Kunst idealistisch verstand, wobei sie diese mit einem germanischen Kult verband. Das Volk würde somit

      zum utopischen Zielbegriff einer noch zu verwirklichenden neuen nationalen Inte­gration, um deren Realisierung sich um 1900 eine Vielzahl kulturkritischer, lebensreformerischer und in der Regel zugleich völkisch-religiös akzentuierter Gruppe, Bünde, Orden, Gemeinschaften und Kreise bemühte, die teils mit minimalen Distinktionen in Konkurrenz zueinander standen, sich teils in übergeordneten Verbänden kooperierend zusammenschlossen. (49)

      Der Ansatz einer konservativen Kulturkritik4 ebenso wie der eines reaktionären Modernismus im Sinne Jeffrey Herfs5 übersieht jedoch die ständige Gegenübersetzung von Denkern und Künstlern mit auktorialen Instanzen – seien sie Verkörperung der kulturellen Tradition oder Ausdruck der politischen Macht –, die Öffnung der deutschen Kunst zu ausländischen, sogar transnationalen Stilen6 sowie die Aushandlung von Bedeutungen, Funktionen und Praktiken zwischen Mitgliedern zwar unterschiedlicher, jedoch verbundener Gemeinschaften, Künste und Disziplinen.

      Die