Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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Gesetz auf. Was sich in der Stadt ergab, war das Resultat aller Bemühungen seitens künstlerischer Gesellschaften, das Interesse für Kunstproduktion und Kunstfreiheit im Volk hervorzurufen, um dadurch eine erhöhte Aufnahmebereitschaft für ihre Werke zu erreichen.6 Im Reichstag wurde die Änderung des Gesetzes im März 1900 dank einer hinter-den-Kulissen-Arbeit möglich: Die Lex Heinze wurde nur geringfügig gemildert,7 nichtsdestotrotz glaubten Künstler und Intellektuelle, sie hätten durch ihren liberalen Protest politische Entscheidungen beeinflusst und sich mit der Masse in Kontakt gesetzt. An diesem Punkt, erzählt Falckenberg,

      suchten auch wir, die Jugend dieser Kämpfe, unserer Kraft und Leidenschaft eine dauernde, fortwirkende Form zu geben. Der Gedanke des literarischen Kabaretts lag damals in der Luft: […] Stilpe, der Held von Bierbaums Roman, hatte die Idee eines künstlerischen Tingeltangels verkündet; Panizza und andere sie diskutiert; so saßen auch wir, Zeichner und Schriftsteller des „Simplicissimus“, Studenten und Schauspieler vom Akademisch-Dramatischen Verein, junge Maler der Sezession, die Münchner Avantgarde auf allen künstlerischen Gebieten in der „Dichtelei“ zusammen, einer Künstlerkneipe in der Türkenstraße, und berieten, wie ein solches Unternehmen wohl anzufangen wäre. (1944: 106)

      Die Bezeichnung ‚Faschingskind‘ führt ferner die Erwartungen vor Augen, die die Künstler der Schwabinger Bohème gegenüber einem Theater hatten, das Unterhaltungsformen wie Vaudeville oder Singspiel als Köder für eine angemessene Rezeption der modernen Kunst in der Gesellschaft benutzen konnte. Diese Erwartungen hatten sich früher auf das Deutsche Theater konzentriert, das am 26. September 1896 eröffnet worden war: »Das ganze offizielle, künstlerische und literarische München war versammelt und harrte der kommenden Dingen. […] Alle Welt betrachtete die Einweihung des Deutschen Theaters unter der Direktion Meßthaler gleichsam als die Inthronisation der „Moderne“ in München. Aber es sollte anders kommen. Der Verlauf des Abends zeigte, daß Meßthaler höchstens vielleicht ein Johannes war, keinesfalls aber der erwartete Messias selbst« (Halbe 1976: 231). Das Programm war tatsächlich ein Mischmasch, der offensichtlich unter der Idee litt, dass man jeder Art von Zuschauer etwas zur Vergnügung geben musste. Halbe verurteilt: »Die Vielheit und Zwiespältigkeit dieser Genüsse verwirrte und ermüdete das Publikum (die Vorstellung endete erst lange nach Mitternacht) und offenbarte zugleich die mangelnde Eignung des neuen Hauses für das gesprochene Wort« (231f.). Das katastrophale Unternehmen des Deutschen Theaters wurde in kurzer Zeit ins Münchner Mekka der Varietés verwandelt.8 Die Mitglieder des Kollektivs der „Elf Scharfrichter“ nahmen sich daher der Thematik des Kulturengagements durch die Reformierung des Vaudevilles an9 und wählten als Spielort einen kleinen Fecht­raum im rückwärtigen Teil des Gasthauses „Zum Goldenen Hirschen“ (Türkenstraße 28).

      Max Langheinrich entwarf die Innenarchitektur des Theatersaales und stattete den Raum mit einer Guckkastenbühne aus, wobei er danach strebte, eine Intimität zwischen Zuschauern und Darstellern herzustellen: »Mehr als achtzig hatten nicht Platz. Aber etwas mehr als hundert waren immer da« (Blei 2004: 314). Neben der Bühne befand sich ein versenktes Orchester, wie im Festspielhaus Bayreuth und im Prinzregententheater. An den Wänden bemerkte man vor allem die von Wilhelm Hüsgen modellierten Masken der „Elf Scharfrichter“10. Die Eröffnung des Kabaretts fand am 13. April 1901 statt. Die „Elf Scharfrichter“ in München, zusammen mit Ernst von Wolzogens „Überbrettl“ und Max Reinhardts „Schall und Rauch“ in Berlin, machte die Kabarettform in Deutschland bekannt. Die „Elf Scharfrichter“ beschränkten sich »keineswegs auf Parodie und Amüsement« wie die Berliner „Überbrettl“ und „Schall und Rauch“ (Falckenberg 1944: 114) und waren jedenfalls wenig bieder und angepasst an den einschlägigen Publikumsgeschmack, deshalb mussten sie sich stets mit Problemen der Zensur herumschlagen. Man spielte dreimal in der Woche, dann vermutlich allabendlich, und jeden Monat wurde ein neues Programm vorgestellt, zu dessen Premiere regelmäßig auch die Kunstprominenz im Publikum saß. Zuständig für die Auswahl der Texte waren Marc Henry, Leo Greiner, Willy Rath und Otto Falckenberg; Hans Richard war eher als „Kapellmeister“ tätig. Nach dem von Leo Greiner gedichteten und von Weinhöppel komponierten Eröffnungslied bzw. Scharfrichtermarsch folgten Nummern unterschiedlicher Natur aufeinander: Satiren und Parodien, vor allem aus Hanns von Gumppenbergs Teutschem Dichterroß, Sketsche, Gedichte, klassische Lyrik, Lieder, die „erotisch-verruchten“ Chansons und Balladen Wedekinds, Musikstücke, Tanzgroteske, „automatisches Zeichnen“, Einakter und Ein-Satz-Theaterstücke von Bernard, Courteline, Paul Schlesinger, Keyserling, Falckenberg und von Marc Henri selbst, Ausschnitte aus dem zeitgenössischen Avantgardetheater, Schattenspiele, Puppenspiele. Am Ende sangen alle Zuschauer den Schlager Schwalangscher. Der riesige Erfolg des Kabaretts führte zu hochfliegenden Plänen, zu Kämpfen mit der Münchner Zensur, aber auch zu Streitereien unter den Ensemblemitgliedern wegen des Honorars der Stars. Schon im November 1903 spielten die „Elf Scharfrichter“ zum letzten Mal zusammen. Falckenberg behauptet:

      Für mich und die meisten anderen hatte die Sache ihren eigentümlichen romantischen Reiz, ihre innere künstlerische Fruchtbarkeit verloren. […] Zum ersten Male war ich nicht nur sympathisierender Zuschauer und bescheidener Helfer gewesen, sondern Mitspieler und Mitleiter an der Spitze einer gemeinschaftlichen künstlerischen Arbeit lauter junger begabter Menschen, einer Arbeit, die ihren Lohn in sich selbst trug. Denn es wird der Ruhm der „Elf Scharfrichter“ bleiben, daß diese Kleinkunstbühne – im Unterschied zu so vielen späteren, unliterarischen oder angeblich literarischen Kabaretts und auch zu den zahlreichen Berliner „Überbretteln“ der Zeit –, daß unsere Kleinkunstbühne wirklich nur aus einer echten künstlerischen und kunstpolitischen Leidenschaft und Begeisterung heraus lebte und schuf […]. (1944: 137f.) (Herv. v.V.)

      Man könnte auch sagen, das Kabarett habe sich aufgelöst, weil die Gemeinschaft von Künstlern als Innovationsknotenpunkt zunehmend an Gewicht verloren hatte: Andere Unterhaltungstheaterformen waren in München entstanden, die über andere Quellen und Ressourcen verfügten, um die Utopie sozialer Reformen weiter durch die Kunst voranzutreiben. Schon am 20. April 1901 war das Schauspielhaus in der Maximilianstraße, nach zehnmonatiger Bauzeit, mit Johannes von Hermann Sudermann eröffnet worden. Die Intendanz übernahm Ignaz Georg Stollberg, für den die Teilnahme an dem „Akademisch-Dramatischen Verein“ der Einstieg in seine große Karriere war. Das Schauspielhaus wurde blitzschnell zum Forum der Avantgarde, das aber ein Repertoire von schon etablierten modernen Dramen mit einer Vielfalt deutscher und französischer Possen verband. Das vom Architekt Littmann und vom Künstler des Jugendstils Riemerschmid errichtete Gebäude selbst war das Ergebnis einer modernen Theaterarchitektur, die gegen das sogenannte ‚Luxustheater‘ mehrere Versuche unternahm, das Auditorium einzubinden. Max Littmann11 erkannte gerade in der Einheit von Bühne und Publikum neue Wahrnehmungsmöglichkeiten: Er plädierte »entschieden gegen das Rangtheater zugunsten eines Amphitheaters, das sich durch eine weitgehende Gleichwertigkeit seiner Plätze auszeichnen würde« (Brauneck 1999: 638). Ab 1903 wurde auch ein Volkstheater (Josephspitalstraße, Stadtteil Altstadt-Lehel) tätig: Als Eröffnungsvorstellung wurde Schillers Kabale und Liebe geboten. Das Repertoire bestand aber nicht nur aus Klassikern, sondern auch aus Schwänken, Possen und Farcen.

      Eine künstlerische und gesellschaftliche Neugeburt

      Im frühen 20. Jahrhundert wurde das Theater allmählich als notwendige, soziale, ja kulturelle Praxis betrachtet, um die Kluft zwischen Kunst und gesellschaftlichem Leben zu überbrücken. Jelavich’ These einer Karnevalisierung von Theaterformen, im Sinne einer Überwindung von binarischen Gedanken wie gut/böse, Seele/Körper oder Sein/Schein1, gewinnt in dieser Hinsicht an Bedeutung, wenn man sie als eine ästhetische Verdoppelung kultureller Aufführungen ansieht. Theaterformen und -stile, die sich mit der Theatralität im breitesten Sinn bekannt machen, produzieren eine kondensierte, gesteigerte Inszenierung einer sich selbst wahrnehmenden Öffentlichkeit, durch die sich das Publikum, mitsamt den Akteuren, seines Zustandes bewusst wird. Weitere Aufschlüsse über die abgezielte Transgression jedes ästhetischen sowie ethischen Wertsystems einer unfruchtbaren Vergangenheit, die das Volk als Quintessenz der Gesellschaft vergessen hatte, bringt die damalige Nietzsche-Rezeption. Nach dem Tod Nietzsches wurde sein Gesamtwerk als auch seine Person zum Gegenstand öffentlicher Debatten und opponierender Positionen: Es war ein Pflichtpensum, sich mit ihm auseinanderzusetzen2. Neben dem