Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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zu elitär blieb und dessen Einsatzraum zu begrenzt war.

      Theaterdebatten und -experimente in München

      Die erfolgreichste neue Gesellschaft war „Der Akademisch-Dramatische Verein“, die ihren Wissensbereich deutlicher als die vorherigen Gemeinschaften bestimmte, Stile, Rituale und zeremonielle Aktivitäten für ihre Erhaltung eta­blierte und jedem legitimen Mitglied erlaubte, an den verschiedenen Handlungssegmenten teilzunehmen. Der am 27. November 1891 von Studenten der Münchner Universität, Intellektuellen und ausübenden Künstlern zur Förderung der modernen Kunst gegründete Verein identifizierte das lebendige Theater als seinen Wirkungsbereich, nach dem Vorbild der Berliner „Freie Bühne“. Als das Programm zur Förderung der gegenwärtigen Bühnenkunst vom Münchner Schauspielhaus zunehmend übernommen wurde, nutzte der Verein die Gelegenheit, sich anderen Zielen zuzuwenden: erstens der Popularisierung debütierender Dramatiker und Schauspieler, zweitens der »Pflege noch unbekannter oder kaum gespielter Werke vergangener Zeiten«, wie das Dialektlustspiel Datterich von Ernst Niebergall (Wenig 1954: 35). Der Verein distanzierte sich Schritt für Schritt vom naturalistischen Kurs, als man spürte, dass der Naturalismus längst tot war: »[D]ie enge Zusammenarbeit mit jungen Schriftstellern der verschiedensten Richtungen und die fruchtbare Auseinandersetzung mit dem sich immer mehr der „Moderne“ öffnenden Berufstheater bewahrten den „Akademisch-Dramatischen Verein“ vor Einseitigkeit und Erstarrung in literarischen Dogmen« (Hartl 1976: 67). Demnach inszenierte man sowohl Dramen von Ibsen, Hauptmann, Sudermann und Max Halbe als auch Stücke von Maeterlinck, Wilde, D’Annunzio, Wedekind und drei Dialoge (4.–6.) aus Arthur Schnitzlers Reigen1, was am 28. November 1903 die Auflösung des Vereins durch die Universitätsbehörde zur Folge hatte. In dieser Hinsicht zeigte der Verein eine gewisse Elastizität im Aushandlungsprozess von Ressourcen und Werkzeugen, was nur wenige Tage nach seiner Auflösung, am 20. Dezember, zur Gründung der Nachfolgeorganisation „Der Neue Verein“ führte. Der treibende Impuls für die Neugründung war das Vorhaben, »die guten künstlerischen Überlieferungen zu wahren und die wertvolle Bibliothek« sowie die Sammlung neuerer Literatur zu retten (Kutscher 1955: 249). Josef Ruederer war erster Vorsitzender, während sich Georg Hirth, Thomas Mann, Otto Falckenberg und der Rechtsanwalt Wilhelm Rosenthal – später erster Vorsitzende sowie Direktor der „Emelka“ – den Vorstand bildeten. Gerade in diesem „Neuen Verein“ hielt Georg Fuchs am 10. November 1904 den Vortrag über das nur in München durchführbare »kameradschaftliche Zusammengehen der dramatischen Entwicklung mit der bildenden und darstellerischen Künstlerschaft« und über die »Lösung des Theaterproblems«. Dort fand er »die lebhafteste Zustimmung führender Persönlichkeiten der bildenden und angewandten Kunst« und die Einsatzfreude seines späteren Mitarbeiters Max Littmann (1909: 203). Der Verein war kurzum »[e]in Experimentier-Institut für moderne, gefährliche, dem Zensor unsympathische Aufführungen. Jede Veranstaltung dieses Vereins war ein Kulturereignis für München« (Mühsam 1977: 169). Der Erfolg und die Stabilität der Umwandlung vom „Akademisch-Dramatischen Verein“ zum „Neuen Verein“ beruhten darauf, dass sich ihre Mitgliedschaft fast jedes Semester erneuerte und immer neue Ideen und Kräfte in die Gruppierung aufgenommen wurden: »Daneben gab die demokratische Ordnung der Statuten ausgeprägten und berufenen Persönlichkeiten die Möglichkeit, schnell und wirkungsvoll die literarischen und künstlerischen Geschicke des Vereins zu beeinflussen« (Wenig 1954: 42). Die Gestaltung des gemeinsamen Projekts erwies sich folglich als außerordentlich flexibel, so lebte der Verein bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs weiter. Die Gesellschaft, die in der Zeitspanne 1905–1910 mit dem „Neuen Verein“ in Konkurrenz trat, war die von Conrad, Halbe und Kurt Martens geleitete „Münchner Dramatische Gesellschaft“. Diese »suchte ihre Hauptaufgabe in der Entdeckung und Förderung neuer Autoren. Damals, wo der Nachwuchs der Dramatiker von den großen Bühnen noch nicht so verwöhnt ward wie heutigen Tages, hatte das noch einen Sinn. Gleich der erste Versuch gelang über Erwarten2« (Martens 1924: 32). Sie war ihrerseits die Nachfolgerin der im Frühjahr 1900 erloschenen „Münchener literarischen Gesellschaft“, die zumindest erwähnt werden muss, weil sie im April 1898 Shakespeares Troilus und Cressida auf die Bühne brachte, was die ganze Idee der Gesellschaft enthüllte: »eben das Absonderliche […], das Grelle, Bizarre, Groteske, das Dekadente, das fin de siécle, auf das man abzielte und zu dem man sich bekannte« (Halbe 1976: 200). Nach einem Projekt von Ernst von Wollzogen und Ludwig Ganghofer gruppierte sich die geistige Münchner Elite, um den Tod des Naturalismus zu verkünden und an dessen Stelle für einen neuromantischen Kunstsinn zu plädieren 3. Die Inkohärenz zwischen der Trägerschaft und dem Projekt war aber ganz deutlich: Die Ehrenpräsidentschaft der Gesellschaft gehörte Paul Heyse, sowohl Lingg als auch Weltrich galten als Gründungsmitglieder, Otto Julius Bierbaum und Max Halbe waren ordentliche Mitglieder. Die Vertreter der Hofkultur sowie des Naturalismus, zusammen mit anderen Prominenten, hätten einem breiten Publikum durch Lesungen, Vorträge und Theateraufführungen künstlerische Neuorientierungen darbieten sollen, ohne dabei den kommerziellen, unterhaltsamen Aspekt des Projekts zu berücksichtigen. Bemerkenswerterweise wandelte sich die elitäre Kunstidee von Ernst von Wolzogen in Richtung einer Travestie sowohl des Klassizismus als auch des Naturalismus, sie verwandelte sich ins Kabarett.

      Diesbezüglich muss hier ergänzt werden, dass der Gedankenaustausch über die Konturen moderner Theaterästhetik und über die Notwendigkeit einer Theaterreform um 1900 eine der bedeutendsten Thematiken für fast alle Proto-Lerngemeinschaften darstellte und von verschiedenen Ausgangspunkten getrieben wurde. In jeder kulturellen Gruppierung Münchens spielte das Theater, oder die Theatralität als »Modell für Kultur und Leben« (Balme 1994: 22), ohnehin eine wichtige Rolle. Theaterveranstaltungen bildeten das Repertoire und die Hauptaufgabe für die avantgardistischen Künstlerkreise. Darüber hinaus galt die theatralische Aufführung als Kunstform par excellence, um das ganze Volk mit einzubeziehen und das Terrain für eine gesellschaftliche Veränderung zu ebnen. Berücksichtigt man jedoch dieses Element, so gelangt man zu der Feststellung, dass die Münchner Moderne nicht nur von einer »umfassenden Theatralisierung der Kultur« geprägt wurde (13), sondern auch von der Überlagerung von Theatralität und soziopolitischem Engagement, ein Keim der in jeder damaligen CoP steckte. Die wichtigsten Innovationen im Theaterbereich betrafen also einerseits populäre, volkstümliche Theaterformen wie das Kabarett, das Schattenspiel, das Laientheater, die Bauernstücke oder die Passionsspiele, das Naturtheater und den Zirkus, andererseits entdeckten die Theatermenschen die empathische und physische Nähe zum Publikum, ohne auf das Wort zurückgreifen zu müssen, die Stärke des handelnden Körpers, des Raums, der Empfindungskraft, des Gemeinschaftserlebnisses. Um es kurz ausdrücken, die Theaterleute suchten am Anfang des 20. Jahrhunderts nach »Lockerung und Überwindung der überlieferten Formen« der Theatralität, in Richtung einer offeneren, direkteren Konfrontation mit dem Publikum« (Rühle 2007: 154).

      Das prägnanteste Beispiel der Beziehung zwischen Kulturengagement und ästhetischer Reform, die das Münchner Theater außerhalb Bayerns bekannt machte und trotzdem nur kurzlebig war, ist das literarisch-künstlerische Kabarett „Die Elf Scharfrichter“, das nach dem Vorbild des Pariser „Chat Noir“ gegründet wurde. Das Vorbild zeigt sowohl den internationalen Anspruch des Vorhabens als auch die intendierte Popularisierung des Theaterprojekts. Otto Falckenberg nennt das Schwabinger Kabarett »ein Faschingskind«, da das Projekt eigentlich im Karneval zu datieren sei, in dem Künstler und Denker gegen die Lex Heinze kämpften.4 Die erste Libertinage-Welle, die eine massive Mobilisierung von Münchnern in Sachen Kunst sah, ist auf Anfang 1900 datierbar: Dreitausend Menschen, darunter Bierbaum, Conrad, Falckenberg, Halbe, Schaumberger, Hirth, Lenbach, Lips und Ruederer, versammelten sich zum Protest im Bürgerlichen Bräuhaus. „Der Akademisch-Dramatische Verein“ setzte eine Prozession Schwabinger Künstler und Studenten durch die Hauptstraßen und -plätze der Stadt in Bewegung, mit einem satirischen Plakat gegen das Gesetz und mit einem Chor: »Das Lied5 wurde in hektographierten Blättern verkauft. Damals erschien auch Das Buch von der Lex Heinze. Ein Kulturdokument aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts« (Kutscher 1952: 113f.). Kurz danach gründeten Halbe und Hirth den „Goethebund“ zum Schutze freier Kunst und Wissenschaft, der sechstausend Münchner am 22. März 1900 gegen die Lex Heinze im Münchener Kindl-Keller aufbrachte. Im „Goethebund“ schlossen sich nicht nur Künstler und Publizisten, sondern auch Akademiker zusammen. Am 5. April 1900 luden die Liberalen ins Kreuzbräu ein. Am 7.