Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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welche gemeinsame historische Wurzeln, voneinander abhängende Projekte sowie einige gemeinsame Mitglieder haben, einen gemeinsamen Zweck erfüllen oder einer Institution angehören, sich mit denselben Sachverhalten konfrontieren, Artefakte miteinander teilen, entweder geographisch oder durch Interaktion naheliegen, Überlappungsdiskurse oder -stile zeigen und welche schließlich für dieselben Ressourcen in Konkurrenz stehen (1998: 127). Die Interaktion zwischen Praktiken gibt der Konstellation eine gewisse Kontinuität und, umgekehrt, eine einzige CoP produziert und reproduziert die Verbindungen, Stile, Medien, Werkzeuge und Diskurse, durch die sie dazu beiträgt, eine breitere Konstellation zu bilden (130). Dieser Aspekt der Moderne in München ist noch prägender, wenn man die Abgrenzung und Strukturierung ihrer vielen praxisorientierten Gruppierungen betrachtet. Die Abgrenzung ist immer das Resultat historisch gewachsener und gemeinsam benutzter Handlungs- und Deutungsmuster, welche sich nur zum Teil in formal-organisatorischen Parametern spiegeln: »Sie sind vor allem Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen betrieblichen Akteuren, die sich im Produktionsalltag immer wieder neu vollziehen« (Wehner/Clases/Endres 1996: 79). Die Träger der Geschichte und Tradition einer CoP sind daher die Produktionsmittel, bzw. Artefakte, und die Organisationsstrukturen. Eine so markierte Abgrenzung der kulturellen CoPs war aber um 1900 in der Hauptstadt Bayerns nicht vorhanden, was folglich daran zweifeln lässt, ob man von Communities of Practice überhaupt sprechen kann. Sie waren vielmehr embryonale praxisbezogene Gruppierungen, die einfach gemeinsame Interessen teilten oder die sich um starke Persönlichkeiten sammelten, ohne die Bedingungen für eine gemeinsame Unternehmung auszuhandeln. Sie mangelten ferner an einem im Laufe ihrer Existenz erzeugtem Repertoire, das sie von anderen Lerngemeinschaften unterscheiden ließ. Auch die charakteristische Multimitgliedschaft und Vielseitigkeit der Gesellschaften der Münchner Bohème gefährdete ständig ihre Grenzen und Peripherien7 sowie ihre Reproduktion, d.h. die Tradierung lokaler Deutungsmuster und relevanter Handlungssegmente. So ist es kaum verwunderlich, dass alle künstlerisch-geselligen Zirkel ihre interne Dynamik nicht lange zu bewahren wussten, nur wenige Jahre dauerten und mehrmals neugegründet wurden – oft mit anderen Namen. Schon 1954 vertrat Heribert Wenig in seiner – übrigens von Borcherdt und Kutscher selbst betreuten – Dissertation zu deutschen akademisch-dramatischen Vereinigungen eine ähnliche Ansicht:

      Eine kulturelle und künstlerische Erneuerung im sozial-ethischen Sinne hätte der Parteisozialismus in seiner Beschränkung auf wirtschaftliche und politische Probleme freilich nicht durchführen können. Erst die Hilfe einer Gruppe von Individualisten, die sich aus allen Gesellschaftskreisen zusammensetzten und nur durch ihre sozialistischen Neigungen verbunden waren, vermochte das zu tun. Diese Repräsentanten des sozialen Gewissens der Zeit bildeten, ohne dass man sie gesellschaftlich hätte einordnen können, eine Art anonyme Partei. Es war eine Partei der Jugend, in der die akademische besonders vertreten war und sich hervortat. Sie war kaum ein Feind des Kapitalismus im sozialdemokratischen Sinne, sie kämpfte nur gegen die Macht des Kapitals über die geistige Freiheit. Erfüllt von nationalem Stolz, zog sie gegen den nationalen Illusionismus zu Felde. […] Das ewige Preisen und Beschönigung nationaler Tugenden und der zur Macht und Reichtum führenden Errungenschaften bedeuteten für sie hauptsächlich einen Rücktritt. […] Diese Partei verfolgte vor allem soziale und ethische Ideale. Und sie fand hauptsächlich auf dem künstlerischen Gebiet für das Zustandekommen einer sozialen Kultur zusammen. So war es zunächst mehr ein Programm der Vereinigung […]. (7)

      Die erste Proto-Lerngemeinschaft der Münchner Moderne, welche die vorher erwähnten Züge trägt, entwickelte sich um die Literaturzeitschrift „Gesellschaft. Realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben“, die am 1. Januar 1885 gegründet wurde. Die Beschreibung ihrer Entstehung und Veränderung soll dem Zweck dienen, die Probleme der konkurrierenden Künstlerkreise vor Augen zu führen, die von ihr ausgingen.

      Die „Gesellschaft“ bildete sich weniger aus gemeinsamen Ideen oder Projekten als vielmehr aus der generellen Verurteilung des als steril empfundenen Epigonen-Klassizismus der „offiziellen“ Kultur. Darüber hinaus strebten alle Mitglieder danach, ein politisches Diskussionsforum für die Moderne natura­listischer Prägung zu errichten. Die epochemachende Nähe zwischen Kunst und soziopolitischen Bemühungen kennzeichnete bereits sowohl die Zeitschrift als auch die an ihr gebundene „Gesellschaft für modernes Leben“, welche am 29. Januar 1891 in der Gaststätte Isarlust ihre erste öffentliche Veranstaltung durchführte. Wenn der Klassizismus von Heyse und Kollegen eine Flucht im wirklichkeitsentfernten Idealismus gefunden hatte, wollten Michael Georg Conrad – Hauptvertreter des Naturalismus in München – Otto Julius Bierbaum, Julius Schaumberger, Georg Schaumberg, Hanns von Gumppenberg und der von vielen als Inbild des modernen Dichters verehrte Detlev von Liliencron »die künstlerische Produktion mit einem Engagement für die „Verbesserung der Lebensführung der Armen und Notleidenden jeder Art und Herbeiführung vernünftiger Lebensgestaltung“ und damit Kunst und Politik verbinden« (Wilhelm 1993: 16). Schriftsteller, Journalisten, Dramatiker und andere Künstler verlangten also ein gesellschaftliches, ja politisches Engagement, ohne damit parteipolitisch zu sein. Der erste Paragraph der Satzung der „Gesellschaft für modernes Leben“ lautete:

      Zweck der Gesellschaft ist die Pflege und Verbreitung modernen schöpferischen Geistes auf allen Gebieten […] durch Vortragsabende, Errichtung einer freien Bühne, Veranstaltung von Sonderausstellungen von Werken bildender Kunst, Herausgabe einer Zeitschrift und sonstiger literarischer Veröffentlichungen. Politische Tendenzen irgendwelcher Art stehen der Gesellschaft fern. (zit. nach Wilhelm 1993: 18)

      Wenn man die Struktur dieser Gemeinschaft näher betrachtet, erkennt man zwei relevante Gestaltungsdimensionen, die später auch in anderen Kreisen und Vereinen zu verzeichnen sind: den Impuls zum Aktivismus und die Etablierung von Gewohnheiten und Zeremonien, wie etwa den Stammtisch, die Veranstaltung von Theateraufführungen, Autorenabenden oder die Veröffentlichung wissenschaftlicher Texte. Speziell soll aber auch auf die mangelnde Aushandlung von Bedeutung innerhalb der „Gesellschaft für modernes Leben“ eingegangen werden, da sie ihre Weiterentwicklung behinderte. Ein klares Beispiel dafür bietet der dritte Vortragsabend der Gesellschaft, als Hanns von Gumppenberg aus den Werken von Karl Henckell vorlas, der als proletarischer Dichter galt8. Er las auch das Gedicht An die deutsche Nation vor, in dem sich Henckell schonungslos gegen den Kaiser äußert. Das Publikum protestierte vehement, man klagte von Gumppenberg wegen Majestätsbeleidigung an und die „Gesellschaft für modernes Leben“ distanzierte sich vom politischen Inhalt des Gedichtes, indem sie erklärte, sie hätte nur dadurch literarisch-künstlerische Tendenzen zeigen wollen. Auch von Gumppenberg verteidigte sich vergebens im Laufe der Gerichtsverhandlung auf diese Weise: Am Ende wurde er zu zwei Monate Festungshaft verurteilt9. Kurz nach dem Ende des Prozesses richtete sich die Münchner Polizei gegen die Zeitschriften „Gesellschaft“ und „Modernes Leben“, die ebenfalls Beiträge naturalistischer Autoren veröffentlichten. Der Naturalismus wurde weiterhin als verdächtig angesehen, als Inbegriff von Nihilismus und Atheismus, als Sprachrohr der Sozialdemokratie. Conrad distanzierte sich prompt von solchen Anklagen, wobei er sich mehrmals innerhalb weniger Monate als Nationalist, Protestant und SPD-Gegner öffentlich bezeichnete. Die Position Conrads wurde aber von anderen jüngeren Mitgliedern der Gesellschaft nicht geteilt, was zu einem ideologischen Bruch führte: Schon Ende September 1891 bemerkte Schaumberger in einem Brief an Max Halbe, die „Gesellschaft“ mangele inzwischen an Einheit und Einigkeit.10 Conrad und seine Vertrauten einerseits sowie die jüngeren Künstler andererseits waren nicht in der Lage, die Gemeinschaft zu erhalten und ihre Bedeutung, ihre Prinzipien sowie ihre Aktivitäten auszuhandeln. Nur die Aushandlung der Bedingungen innerhalb einer Lerngemeinschaft ermöglicht nämlich die Reziprozität des Vertrauens unter den Mitgliedern, die zum wesentlichen Bestandteil der Praxis wird. Im Fall der „Gesellschaft“ könnte man auch sagen, dass ihr gemeinsames Projekt bzw. das Ergebnis eines kollektiven Aushandlungsprozesses als zu schwach resultierte und die Personengruppe löste sich auf, sobald die partikulären Interessen der Mitglieder in der Praxis der Gemeinschaft nicht mehr integriert werden konnten und die Gesellschaftspraxis sich zugleich durch die partikulären Interessen der Mitglieder nicht mehr modifizieren ließ. Sehr schnell traten konkurrierende Literaturkreise, literarische Gesellschaften und Kulturstammtische in München auf, die die Existenz der „Gesellschaft für modernes Leben“ überflüssig machten und ihre Mitglieder anzogen. Die „Nebenregierung“, mit der Josef Ruederer und