Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


Скачать книгу

und Lernerfahrungen irgendwie bestimmen, aber in einer höchst schematischen Weise; darüber hinaus werden Strukturen im lokalen Handlungskontext immer neu konfiguriert. Es sind nicht nur die Subjekte, die sich durch die Teilnahme als Ko-Lernende hindurch verändern, sondern auch die Strukturen und die erworbenen Fertigkeiten. Wie Wenger kommentiert, wurden CoPs sofort zur Verkörperung von »this view of learning as happening at the boundary between the person and social structure – not just in the social structure or not just in the individual, but in that relationship between the two« (in Omidvar/Kislov 2013: 269). Lernen profiliert sich hiermit als eine Eigenschaft, als eine besondere Art soziokulturelle Handlungspraxis, die im Rahmen der „legitimierten peripheren Partizipation“ durchgeführt wird. Die legitimierte periphere Partizipation bildet also die Bedingungsmöglichkeit des Lernens, eines kreativen Prozesses, an dem sich das Subjekt dadurch beteiligt, dass es im Geflecht der CoP immer neu ausgehandelte Rollen erwirbt und spielt – und jeder Rolle entspricht eine Art von Verantwortung, eine Vielfalt von Rollenbeziehungen sowie unterschiedliche interaktive Beteiligungsformen. Was Lernende erwerben ist sonach kein Reservoir von Partizipationsschemata, sondern die Fähigkeit, unterschiedliche Aufgaben bzw. Funktionen in unterschiedlichen Lern- und Praxisfeldern auszuüben, wie zum Beispiel die Improvisationskompetenz oder das Timing von Tätigkeiten in Bezug auf sich ändernde Umstände. Die allmählich aufgebaute Expertise steht also in enger Verbindung mit der Fähigkeit zur Aufgabenerfüllung. Demzufolge seien die Fähigkeiten zur Bewältigung der Lernsituation bzw. kognitiven Wachstums mit der Fähigkeit verbunden, Aufgaben zu erfüllen. In der Theorie der situierten Kognition erkennt man die Verknüpfung zwischen den gelehrten und gelernten Fertigkeiten einerseits und der jeweiligen „performance situation“ andererseits:

      Insofar as learning really does consist in the development of portable interactive skills, it can take place even when coparticipants fail to share a common code. The apprentice’s ability to understand the master’s performance depends not on their possessing the same representation of it, or of the objects it entails, but rather on their engaging in the performance in congruent ways. […] Again, it would be this common ability to coparticipate that would provide the matrix of learning, not the commonality of symbolic or referential structures. (Hanks 1991: 21f.)

      Kognitionen werden immer von Individuen in kulturell organisierten Kontexten gemeinsam konstruiert. Jeder Lernprozess gleicht einer Aufführungsform innerhalb der sozialen Welt, unter besonderen Umständen, in einer gewissen Zeit und an einem bestimmten Ort. Aus dieser partizipatorischen Aufführungsform resultiert die dynamische Reproduktion von Lerngemeinschaften, die durch Tradierung reproduktiver Wissens- und Handlungssegmente ebenso wie durch Verschiebungen und Brüche erfolgt. Das Lernen erfüllt demgemäß eine doppelte Funktion: Erstens, um Kontinuität aus bestimmten Traditionen, lokalen Deutungsmustern und wichtigen Handlungsweisen im Praxisfeld herzustellen; zweiteins, um die Diskontinuitäten zu fördern, die zur Entwicklung und Umgestaltung führen. Laves und Wengers Auffassung von situierter Kognition stützt sich zusammenfassend auf die Situiertheit sowohl der Lernprozesse als auch des Handelns.

      Die Praxis in der Theorie des situierten Lernens

      Wir Kutscherleute stellen bei unserer täglichen Arbeit immer wieder fest, daß überall im deutschen (und sogar im ausländischen) Theater, in den verschiedensten Lagern und Stellungen, bis in die entlegensten Randgebiete hinein wir Mitglieder eines ganz und gar nicht organisierten Ordens ohne Satzung und Regel sitzen – eben die Kutscherschüler. (Hans Werner Rückle in Günther 1953: 182)

      Die Untersuchung der Anfänge der Theaterwissenschaft in München geht von der These aus, dass Artur Kutscher die Theaterwissenschaft als privilegierten Locus des Wissenserwerbes und der Wissenserzeugung verstand. Um festzustellen, ob und in welchem Ausmaß das Modell der Communities of Practice, das bisher fast ausschließlich in der empirischen Pädagogik und im Wissensmanagement seine Anwendung gefunden hat, im theaterwissenschaftlichen Bereich praktisch und produktiv ist, sind in erster Linie die Grundkonzepte Praxis und Gemeinschaft zu untersuchen. Zum Zweiten sollen der Begriff „soziale Landschaft“ und die Art und Weise, wie globale Partizipation und lokale Teilhabe aufeinander wirken, zum Gegenstand der Analyse gemacht werden; schließlich soll der Blick auf die feste Verkoppelung zwischen Lehrtätigkeit und Performativität beim Theaterwissenschaftler Kutscher gerichtet werden.

      Etienne Wenger gibt dem Terminus Praxis mehrere Definitionen, welche dessen Zentralität für die Lerntheorie deutlich zeigen. Erstens ist Praxis das, was eine CoP bestimmt, und zwar der Ursprung ihres Zusammenhalts. Zweitens entspricht sie immer einer gesellschaftlichen Praxis, die das Explizite ebenso wie das Implizite, das Vorausgesetzte mit einbezieht. Drittens bedeutet Praxis »doing in a historical and social context that gives structure and meaning to what we do« (1998: 48), also eine gemeinsame Geschichte von situiertem Lernen und Handeln. Vor allem aber ist sie ein Prozess: ein Beteiligungsprozess, der die gesamte Person mit einbezieht, aber auch ein Prozess der Sinnaushandlung, durch den jeder Mensch sein Leben, die ganze Welt und sein Engagement in dieser als sinnvoll erfahren kann.1 Kurzum lässt sich ohnehin behaupten, die Praxis sei die soziale Erzeugung von Bedeutung durch die fundamentalen Faktoren der Bedeutungsaushandlung, der Partizipation und der Verdinglichung. Diese sind der Praxis innewohnende Faktoren und erlauben den Menschen, den Sinn zu erfahren bzw. die Bedeutung ihrer Lebenserfahrung herauszufinden. Im Aushandlungsprozess sollen Partizipation und Verdinglichung verbunden werden, um die Produktivität der Praxis zu entfalten. Da bei der nachfolgenden Schilderung der Lerngemeinschaften auf diese drei Konzepte zurückgegriffen wird, seien sie hier kurz zusammengefasst.

      Unter dem Begriff Bedeutungsaushandlung versteht Wenger den dualen Prozess, in dem die Bedeutung verortet ist: »Meaning exists neither in us, nor in the world, but in the dynamic relation of living in the world« (54); Partizipation und Verdinglichung bilden hingegen die zwei konstitutiven Prozesse, die in die Bedeutungsaushandlung verwickelt sind. Sie verkörpern die Dualität der Bedeutung, und zwar die Verflechtung und das Zusammenspiel zwischen gegenseitiger Anerkennung und Projizierungen von sich selbst.2 Diese balancierte Dualität wird als entscheidendes Element für die Etablierung und Entwicklung von CoPs, für die Identitätskonstruktion der Mitglieder sowie für das Wesen der Praxis selbst betrachtet. Durch die enge Wechselwirkung von Partizipation und Verdinglichung gestalten sich die Welt und die Erfahrung gegenseitig. Alltäglich erzeugen Menschen nämlich Bedeutungen, welche die Bedeutungsgeschichten, zu denen sie gehören, bestätigen, fortschreiben, verarbeiten, neu interpretieren oder demontieren. Eine derartige ständige Interaktion zieht sowohl Interpretation als auch Handlung nach sich.

      Der doppelte Antrieb von Bedeutungsaushandlung entspringt einerseits durch die Partizipation der einzelnen Mitglieder der CoP, andererseits durch den ablaufenden Verdinglichungsprozess. Partizipation sei demnach »the social experience of living in the world in the terms of membership in social communities and active involvement in social enterprises« (55). Wenger unterscheidet sie zudem von der bloßen Beteiligung am gemeinschaftlichen Handeln, weil Partizipation immer eine Bedeutungsaushandlung im Kontext der verschiedenen Mitgliedsformen in mehreren Gemeinschaften beinhaltet, was mit dem Hauptmerkmal der Gegenseitigkeit zusammenfällt. Die gegenseitige Anerkennung durch die Partizipation führt zur Identitätsbildung: Menschen bilden ihre eigene Identität, indem sie sich selbst in den Anderen erkennen und die Verantwortung für die Bedeutungen übernehmen, die sie stets entwickeln.

      Das Wort Verdinglichung bezeichnet indessen zum einen den Prozess, durch den die Menschen ihre Erfahrung gestalten, indem sie Gegenstände erzeugen, die eine solche Erfahrung zur Dinglichkeit werden lassen; zum anderen weist es auch auf den hierdurch erzeugten Gegenstand hin. Menschen projizieren ihre Bedeutungen in die Welt hinein und spüren dann diese Bedeutungen, als wären sie lebendig in der Welt, als hätten sie ein unabhängiges Leben. Dabei bilden Menschen Fokuspunkte, um welche die Bedeutungsaushandlung organisiert werden kann: Verdinglichung modelliert somit jede menschliche Erfahrung. Bei der Verdinglichung projiziert man sich selbst in die Welt und, da man sich selbst in solchen Projektionen nicht unbedingt wiedererkennen muss, schreibt man den eigenen Bedeutungen eine selbstständige Existenz zu. Menschliche Erfahrung und die gesamte Welt sind daher immer in festgesetzten Formen kristallisiert, d.h. als Gegenstände hervorgebracht: »Any Community of Practice produces abstractions, tools, symbols, stories, terms, and concepts that reify something of that practice in a congealed form«