Chiara Maria Buglioni

"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"


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Performance in ein anderes Medium, wodurch die Kriterien der etablierten akademischen Forschung allein befriedigen werden könnten, untergräbt die Forschungsmethode selbst.9 Eine solche Forschungsarbeit kann sich nämlich gerade mit den medialen Bedingungen oder mit der besonderen Erscheinung der Materialität einer Aufführung beschäftigen – und zwar mit Aufführungsmerkmalen, die auf ein verkörpertes Wissen hindeuten und per definitionem in einer Video- oder Audioaufzeichnung weder eingebettet noch artikuliert werden können (Rye 2003). Eine derartige Kunstforschung wird folglich entweder durch spezifische Dokumentationsmodi betrieben, die über ihr immanentes Paradox Auskunft geben: »that is, documents that do not suggest an unproblematic transparency between the live event and its record and therefore that the two cannot be conflated« (Ebd.); oder durch eine anti-akademische Praxis sensu stricto, die statt Sicherheit, Kontrolle oder Archivierungszwang gerade Zweifel, Verlust und Verschwinden kultiviert, um alle möglichen Interpretationen der transformierenden bzw. produktiven Triebkraft zwischen Realem und Repräsentation immer zu zulassen und aufzuführen (Phelan 1993: 173; 180). Als Antwort auf die bisher aufgezeigte Debatte über Methodologie und Validität der Forschung schlug Brad Haseman 2006 vor, ein neues Paradigma in der Kunstwissenschaft einzuführen – das Paradigma der Performative Research. Damit sind alle Untersuchungsformen gemeint, bei denen die symbolischen Fakten selbst performativ wirken: »It not only expresses the research, but in that expression becomes the research itself«. Performative Research könne also die Sozialstruktur und den kulturellen Kontext der Kunstpraxis erklären, gerade weil sie sich auf persönliche Narrative als situierte Praxis konzentriere: »Performative research represents a move which holds that practice is the principal research activity – rather than only the practice of performance – and sees the material outcomes of practice as all-important representations of research find­ings in their own right«. Schließlich lässt sich festhalten, dass die kritische Hinterfragung der Methoden und des Dokumentationsverfahrens,10 das Experimentieren ebenso wie die direkte Teilnahme der Forschenden an der praktischen Durchführung ihrer Forschungspläne die Bestandteile der praxisbasierten Forschung bzw. der künstlerischen Praxis bilden. Sowohl Nelson (2006: 115) als auch Borgdorff (2009: 43f.) setzen sich darum für die Verwendung des umfassenden Begriffs „arts research“ / „Kunstforschung“ ein, deren Hauptmethodik auf der Praxis beruht und die das implizite Wissen verkörpert, welches durch Experimente und Interpretationen ermittelt und vermittelt wird.

      Vor diesem Hintergrund kann Artur Kutschers wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Objekt Theater als eine sehr frühe Anerkennung der grundlegenden Praxisdimension im Untersuchungsverfahren und als eine erste Eingrenzung des Problems „Praxis als Forschung“ im akademischen Horizont betrachtet werden. Kutscher lehnte jedes praxisferne Untersuchungsverfahren im Bereich der Theaterwissenschaft ab, weil er die Praxis als Ausgangspunkt und Zielpunkt11 aller Kunstforschung betrachtete. Er war außerdem davon überzeugt, die Binarität zwischen Praxis und Theorie sei nur ein Konstrukt des etablierten akademischen Denksystems, welches das Wissenspotential der metakritischen Theaterpraxis nicht gebührend schätzte. Da diese für Kutscher und dessen Schüler typische Forschungsperspektive in anderen zeitgenössischen theaterwissenschaftlichen Abteilungen oder Instituten kein Analogon fand, erscheint es nicht richtig, von der Entstehung einer einheitlichen, monolithischen Disziplin im deutschsprachigen Raum zu reden,12 sondern von der Entwicklung unterschiedlicher Facetten eines Wissenschaftsgebiets, die die Tätigkeit unterschiedlicher Forschungsgemeinschaften aus unterschiedlichen Orten widerspiegeln. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welches methodologische Instrumentarium dem Spezifikum der von Kutscher betriebenen Theaterforschung bzw. der Praxisdimension gerecht wird. Das theoretische Modell sollte zum einen den spezialisierten Wissenszweig „Theaterwissenschaft“ nicht als isolierte Erscheinung untersuchen, die Bedingungen der Möglichkeit prüfen, wie dieses neue Gebiet sich im universitären Wissenschaftsbetrieb von anderen Fächern abgrenzen, bzw. akademische Anerkennung erfahren konnte. Mit anderen Worten: Die Analyse muss im Hinblick auf den Modernisierungsprozess und auf den Betätigungsdrang der Intellektuellen im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich durchgeführt werden, welche aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlicher Weise die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts charakterisierten. Zum anderen sollte es die Bestrebungen des „Theaterprofessors“, durch die Etablierung eines neuen Fachgebietes den Wissenserwerb und die Wissenserzeugung seiner Lerngemeinschaft anzuregen, in einen breiteren gesellschaftlichen Rahmen stellen.

      Wissenschaftlicher Diskurs und ausgehandelte Praxis

      Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft kann keine gründliche Beschäftigung mit materiellen und/oder institutionellen Bedingungen des wissenschaftlichen Diskurses von Foucaults Diskursanalyse absehen. Doch Foucaults Diskursbegriff stellt hinsichtlich der Praxis ein großes Dilemma dar: das Verschwinden des Einzelakteurs in der Praxis selbst und daher die Negation direkter Interaktionen sowie produktiver Austauschprozesse zwischen Subjekten.1

      Besonders am Anfang seiner theoretisch-methodologischen Reflexion (1968–1970) versucht Michel Foucault wiederholt, den Überbegriff „regulierte Praxis“ bzw. „Diskurs“ zu beschreiben. Diskurs und Praxis bilden lediglich ein Analyseinstrument, um die Konstitution von Wissen und Wirklichkeit zu erfassen.2 Er erkennt eine diskursive Praxis einerseits und eine nicht-diskursive Praxis andererseits. Die erste sei »eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben« (Foucault 1973: 171), während sich die zweite auf eine zu errichtende Systematik des Machbaren – also nicht des Aussagbaren oder des Denkbaren – bezieht.3 Die funktionale Verkettung dieser zwei Praktiken erschafft ein allgemeines System von Regeln, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums der Wissensproduktion zugrunde liegen. Es stellt sich hier natürlich die Frage, wer oder was diese Regeln determiniert. Als reglementierende Instanz fungiert eine Art anonyme historische Macht, die der Praxis sowie dem sprechenden und handelnden Subjekt vorausgesetzt ist, eine aus Beziehungsbündeln bestehende Matrix. Die Praxis entspricht in Foucaults Theorie einem System von Strukturen oder Mustern, die alle Gegenstände, Begriffe und sprachlichen Äußerungen sowie die Position des Aussagesubjekts hervorbringen. Im Rahmen dieser Praxis gestalten Subjekte ihre Welt, »wie sie dabei von den Regeln des Diskurses geleitet, beschränkt und dezentriert werden« (Sarasin 2005: 107). Die Praxis regelt alles, was man denken, sagen und tun kann, und zwar organisiert sie die wahrgenommene Wirklichkeit. Die Individuen, die mit einer bestimmten diskursiven und nicht-diskursiven Praxis vertraut sind, teilen dieselben begrenzten Möglichkeiten, sich in einer gewissen Weise auszudrücken und zu handeln. Subjekte stehen mithin nicht im Zentrum des Lern- und Erkenntnisprozesses, sondern am Rande der Wissenserzeugung und der Wirklichkeitskonstitution: Durch die Subjekte bekommen gegebene Äußerungen eine festgelegte Funktion innerhalb der Praxis bzw. des Diskurses. Das Individuum als Subjekt, als Akteur stellt in Bezug auf die Praxis ein transparentes, amorphes und regungsloses Wesen dar, durch welches eine Äußerung erst konkret ausgesprochen werden kann. Das Subjekt existiert also nur, um Diskursinhalte zu vermitteln; es wurde vom Diskurs selbst konstituiert und legitimiert, sodass keine Aussage und kein Handeln außerhalb des Normierungssystems des Diskurses möglich sind. Der Diskurs allein bringt Wissen hervor, indem seine Prozesse die Handlungsmöglichkeiten der Menschen beschränken.4 Gerade in der Produktion von materiellen und diskursiven Bedingungen – und nicht zuletzt in der Produktion von Wissen – wird die Rolle des persönlichen Beitrags, der individuellen Leistung überaus fragwürdig: Wenn die Praxis einen Denkraum und zugleich einen Tätigkeitsbereich bezeichnet, dann erscheint die Vorstellung fragwürdig, dass der Akteur nur ein Epigone sei, der auf eigene Interessen, Intentionen und Entscheidungen verzichtet und der die ihm äußerlichen Strukturen einfach inkorporiert und reproduziert. Foucault erkennt zwar einen subjektiven Anteil in der Art und Weise, wie der Einzelakteur Aussagen nachvollzieht, insistiert zugleich aber auf dem Konzept, das Subjekt sei nur ein kontingentes Produkt einer historischen, kontextabhängigen, regulierten Praxis.

      In der letzten Phase der Konstituierung seiner Theorie der Macht (1971–1984) beschreibt Foucault das Subjekt eher als Produkt von vorherrschenden allgegenwärtigen Machtkonstellationen. Die Verkoppelung zwischen Diskurs und Macht bekräftigt also Foucaults Ansatz, menschliche (Selbst)Erfahrung und Wirklichkeitswahrnehmung basieren nur auf einem Sozialdiskurs