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Theater und Ethnologie


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Arbeit an dieser Figuration konkret an eine Aufführung binden: 1559 verfasst Hans Sachs Ein faßnachtspil mit sechs personen, und wirdt genandt die fünff armen wanderer, das einen frühen Beleg für das Auftreten dieser Maske im deutschen Sprachraum liefert. Bereits etwas früher, 1521, schreibt und inszeniert der Spanier Gil Vicentes das Maskenspiel Auto das Ciganas, und vermutlich um 1613 entsteht aus der Feder von Ben Jonson eine Masque of gypsies. Im selben Jahr wird auch Cervantes’ Erzählung La Gitanilla zum ersten Mal publiziert – jene Vorlage, welche die Figuration der Zigeuner(in) wohl am meisten beeinflusst hat, da die hierin angelegten, fiktionalen Zuschreibungen von zahlreichen Dichtern aufgegriffen und verbreitet wurden.12 Am französischen Hof ist es bis tief in das 17. Jahrhundert hinein üblich, sich bei festlichen Anlässen ‚à la mode de Tsigane‘ zu kleiden, eine Praxis, die durchaus auch an den deutschen Höfen zu finden ist, so beispielsweise in Dresden, wo für 1678 im Rahmen eines Festes auch eine Frauen-Zimmer-Zigeuner-Maskerade belegt ist.13 Die Figuration ‚Zigeuner‘ erfreut sich indes bis zum heutigen Tage einer großen Beliebtheit, wofür unter anderem der Musiker Eugene Hütz Beispiel zu geben vermag, der sich unter dem Pseudonym Gogol Bordello als Gypsie-Punk inszeniert und gleich einem Wanderlust King – so der Titel seines erfolgreichsten Songs (Side one dummy records 2007) – um den Globus tourt, oder sein weibliches Pendant Lady Gaga, welches ebenfalls den Topos des vagabundierenden ‚Zigeuners‘ beschwört (Gypsy, Artpop 2013). Und auch die primär mit Erotisierung einhergehenden Aufführungen der weiblichen Ausprägung dieser Figuration in den popkulturellen Performances von Jennifer Lopez (Ain’t it funny, Sony music 2001), Shakira (I’m a gipsy, Epic records 2009) oder Hillary Duff (Gipsy woman, Hollywood records 2007) belegen die Aktualität und Attraktivität dieser Maske.

      Doch der Umgang mit dieser Figuration unterscheidet sich maßgeblich von den älteren, von Vernant erwähnten Masken, liegt ihnen das Fremde doch in Menschenform zu Grunde. Zudem taucht die Maske in einer Zeit auf, in welcher es durch die Verbreitung des Buchdrucks zu einer markanten Aufwertung des schriftlichen Diskurses kommt, welcher die zentraleuropäischen Subjekte ebenfalls rejustiert und weitere Differenzierungen in ihre Gesellschaften (beispielsweise zwischen Schriftkundigen, Lesefähigen und Analphabeten) einbringt. Daraus erklärt sich wohl die zentrale Rolle, die das Schrifttum in der Aufführung dieser Maske übernimmt. Qua Narration und Inszenierung werden ‚Zigeuner‘ mythisiert und dringen in das kollektive Imaginäre einer Gesellschaft vor. Über die Aufführung und Rezeption werden die mythologischen und imaginären Zuschreibungen letztlich in einen Bezug zu den realen Angehörigen der verschiedenen Rom-Völker gesetzt, die infolge allesamt zu ‚Zigeunern‘ werden und diesem diskursiven Prozess nur wenig entgegenzusetzen haben, da ihre Kultur maßgeblich auf oraler Überlieferung basiert. Als Beleg für diesen Mechanismus mag Christoph Besolds Thesaurus practicus von 1629 gelten, der in dem Lemma ‚Zigeuner‘ zahlreiche Charakteristika aus Cervantes’ La Gitanilla übernimmt und als Fakten präsentiert, ohne auszuweisen oder gar nur zu reflektieren, dass es sich bei letzterem um einen fiktionalen Text handelt – ein Verfahren, das sich auch in Zedlers Universal Lexikon und anderen enzyklopädischen Nachschlagewerken wiederfindet.14 Aber auch die im Herbst 2013 durch zahlreiche europäische Zeitungen und Nachrichtenportale geisternde Meldung von der Aufdeckung einer Kindesentführung durch Roma in Athen lässt sich als eindrücklicher Beleg für die Transformation einer literarischen Fiktion in ein (vermeintlich) realpolitisches Faktum werten, schreiben diese Nachrichten doch einen Topos fort, der durch die Comedia ilamada medora (1567) von Lope de Rueda in die Welt gesetzt wurde.

      Die spezifische Aufführung dieser Maske und ihre Arretierung als Figuration wirkt somit weniger integrierend denn exkludierend, da unter die Maske nicht nur ein, sondern gleich zwei Körper gezwungen werden. Einerseits handelt es sich um jene Personen, die durch die Maske ihre eigenen kulturellen Grenzen überschreiten, sich „zu einer Vielfalt von Facetten auffächern“15 wollen, um über sich hinauszugelangen. Andererseits spannt sie die Angehörigen der Rom-Völker in ihre Form, die nun, um in die urbane, europäische Gesellschaft eintreten und auf deren Spielfeld agieren zu können, das Gegenbild des europäischen Subjekts ausfüllen und aufführen müssen: Wilde, ohne Schrift, ohne Vernunft und Religion, ohne Heimstatt, ohne Biographie, denen im Gegenzug aber eine besondere Affektivität, Musikalität, Kriminalität, aber auch die Gabe der Prophetie zugeschrieben wird. So konkretisiert und stabilisiert sich eine nachgerade fatale Figuration, für die eine reale Bevölkerungsgruppe Europas einstehen, als Träger fungieren muss und die Klaus-Michael Bogdal in ihrer verstörenden Paradoxie wie folgt zusammenfasst: „Die Damen des Hofes spielen Zigeunerinnen, während Romfrauen an der Landesgrenze am ‚nächsten Schnell- oder anderen Galgen aufgehenket‘ werden.“16

      Daran hat sich bis zum heutigen Tag wenig geändert, weshalb es nach wie vor wesentlich ist, auf den Unterschied zwischen ‚Zigeuner‘ und den verschiedenen spezifischen Bezeichnungen der unterschiedlichen Rom-Gruppen und ihrer Individuen hinzuweisen: ‚Zigeuner‘ sind eine kollektiv imaginierte und inszenierte Maske, die in einem markanten Gegensatz zu den Angehörigen der Lovara, Kalderasch, Roma, Sinti, Jenischen, Ashkali, Manoush oder Kalé stehen. Nicht nur die Angehörigen der europäischen Mehrheitsbevölkerung, sondern auch die Angehörigen eben genannter marginalisierter Völker spielen diese Figuration im gesellschaftspolitischen Diskurs aus – zum Zweck der Marginalisierung und Diskriminierung einerseits, aus Gründen der Koexistenz mit der vorherrschenden ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnung andererseits.

      Diese Maske tritt nun nicht mehr in einem legitimierten, unwiederholbaren Ritual auf, sondern findet Eingang in das vermeintlich zweckfreie ästhetische Spiel. Festivitäten und Maskeraden, Theater und Opern, und in späteren Zeiten auch Filme und Pop-Videos bieten dieser Maske eine Bühne, sorgen für ihre Aufführung und tragen zu ihrer Verbreitung und Verfestigung bei. Das ästhetische Spiel verliert im Falle dieser Figuration seine Harmlosigkeit, zeigt es doch, dass die Kunst und ihre Aufführungen, in welchen sich die zentralen anthropologischen Prozesse von Fiktionalisierung und Inszenierung konkretisieren, maßgeblich zur Ausbildung einer gesellschaftspolitischen Realität beitragen und der Marginalisierung und Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen zuarbeiten. Die darstellende Kunst, die der Maske zahlreiche und medial diverse Möglichkeiten zur Inszenierung eröffnet, hat in diesem Fall eine nachhaltige realpolitische Wirksamkeit. Ihr Spiel bleibt nicht auf einen ästhetischen Raum beschränkt.

      Die bislang gut 600 Jahre währende Existenz dieser Figuration hat bislang keine sehr positiven Auswirkungen auf die Individuen der Rom-Völker gehabt. Ihr Leben wurde und wird dadurch auf jenen dystopischen Raum beschränkt, der aus der Überlagerung von Fiktivem und Realem hervorgeht. Besonders deutlich wird das beispielsweise in der heute noch gängigen Vorstellung von den Rom-Völkern als fahrendem und nomadisierendem Volk. Durch die notwendige wirtschaftliche Anbindung an die Mehrheitsbevölkerung lebt der Großteil der Rom-Völker schon seit Jahrhunderten in bestimmten Regionen, lokal verankert. Ihr Mobilitätsradius war und ist entsprechend gering. Die wenigen verbliebenen Fahrenden wurden spätestens im 20. Jahrhundert durch den Realsozialismus und den Eisernen Vorhang zur Sesshaftigkeit gezwungen, aber auch in Westeuropa kam es durch politische Initiativen verstärkt zur ihrer Integration und Verstetigung. Migration wurde vornehmlich in der Folge von Konflikten notwendig, zuletzt während der Balkan-Kriege, bei welchen die Angehörigen der Rom-Völker zu den ersten Vertrieben gehörten. Dennoch hält sich die Vorstellung von den vagabundierenden Fremden hartnäckig im kollektiven Gedächtnis, bildet ein wesentliches Merkmal des Daseins als ‚Zigeuner‘.

      Am Beispiel der Figuration ‚Zigeuner‘ lässt sich zeigen, wie sich Ästhetik und Politik fallweise überlagern. Zu fragen bleibt letztlich: Bietet die Kunst eine Möglichkeit, diesem Dilemma zu entkommen und einer Lösung zuzuarbeiten? Prolongiert nicht ein jeder neuer Diskurs, jede Inszenierung, Verfilmung und weitere Formen der Aufführung die realen Effekte der stigmatisierenden Fremdbeschreibung? Oder lässt sich in Performance und etwas allgemeiner, im Rahmen der Kunst tatsächlich eine kritische Haltung zu dieser Figuration entwickeln? Bietet die Reinszenierung und Resignifizierung dieser Maske ein emanzipatorisches Potenzial für die darunter subsummierten Subjekte,17 oder wird hierdurch deren Status als „Unmarkierte“ einzig und alleine perpetuiert?

      An die These, dass das Fremde nur als Figuration mit den Mitteln der Repräsentation konkretisiert werden kann, knüpft sich indes auch das