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Theater und Ethnologie


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den Positionen des Teilnehmers und Beobachters schalten und letzten Endes den übergeordneten Standort des Erkenntnissubjekts zurückgewinnen kann. Kaldors Produktionen sind sehr oft darauf angelegt, die Zuschauer zu Komplizen einer scheinbar voyeuristischen Konfiguration zu machen, in der sie sich am Ende selber als Objekte, allenfalls als unwissende oder, durch die Konfrontation mit den (oft sehr materiellen, physischen) Grenzen des Erkennens bzw. Erfahrens, nur beschränkt oder bruchstückhaft wissende Subjekte wiederfinden. Am radikalsten geschah dies in Woe (2013), in dem vier Teenager das Publikum indirekt und schrittweise in das Tabu der Kindesmisshandlung, des Missbrauchs und der Vernachlässigung einführten. Die von der Traumaforschung schon ausgiebig erforschte (Un-)Erzählbarkeit des Traumas4 wurde hier zum Ausgangspunkt eines quasi-wissenschaftlichen und therapeutischen Experiments, das weniger auf die (unmögliche) Enthüllung des Traumas als vielmehr auf die (Un-)Möglichkeitsbedingungen und Grenzen des Nachempfindens von physischem und psychischem Leid eines Jugendlichen durch Erwachsene zielte; deren Einbildungskraft und Erinnerungsvermögen wurden durch experimentelle Übungen und psychotechnische Spiele auf solche Weise stimuliert, dass wenigstens eine Art mentale Regression zustande kam, die den Zuschauer idealiter bis an die Grenzen der eigenen Jugendzeit und der damaligen Existenz- und Welterfahrung führte, freilich auch mit den Möglichkeiten und Grenzen der Erzählbarkeit eigener großer oder kleiner Traumata konfrontierte.

      Die Selbstverständlichkeit, mit der man sich gerne und besten Willens dem Anderen und Fremden zuwendet, um ihn (sie) an den eigenen vertrauten Lebensformen zu messen, wird in Kaldors Vorstellungen auf eine solche Weise pervertiert, dass man sich ‚selbst‘ bzw. das eigene Leben am Ende dermaßen als bizarre und prekäre Kontingenz empfindet, dass sich jeder klare Begriff des Eigenen und des Fremden, des Normalen und der Ausnahme als obsolet herausstellt. Wissenschaftliche und hermeneutische Überlegenheit verwandelt sich allmählich in Verlegenheit, die aber nicht unbedingt zu einer radikalen Skepsis hinsichtlich Verstehens- und Verständigungsmöglichkeiten zu führen braucht. Die Illusionen über ein repräsentierbares Wissen um eigene oder andere bzw. fremde Lebenserfahrungen und -formen sollen durch eine differenziertere Haltung ersetzt werden, die – so ließe sich Kaldors Anliegen (oder besser: ihr Glauben) mit Derrida umschreiben – sich in den Bruch wagt, der einem genuinen Sichannähern und Begegnen und einem Verstehen des Anderen wesentlich vorangeht: der Bruch des Bezugs, der auch der Bruch als Bezug ist.5 Dieser Bruch als Bezug lässt sich begrifflich kaum denken/sagen, er braucht vielleicht ein ästhetisches Dispositiv, eines wie das Theater von Kaldor, in dem Beziehungs- und Beobachtungsdramaturgien erprobt werden, die die übliche performative Beziehung zwischen Wissen und Macht bzw. Willen zum Verstehen unterbrechen und dadurch eine andere Beziehung wenigstens als Möglichkeit erahnen lassen. Diese andere Beziehung scheint eher auf Zulassen und Sich-ereignen-Lassen, d.h. auch auf Vertrauen, Gelegenheit und Chance abzuzielen als auf die Performanz eines gelungenen Verstehen-Wollens und Vorstellens des Anderen bzw. Fremden.

       C’est du Chinois

      C’est du Chinois ist eine der erfolgreichsten internationalen Produktionen von Edit Kaldor. Sie war in vielen europäischen Städten, von Göteborg bis Lissabon, von Graz bis Rotterdam und schließlich auch in New York zu sehen. Die Vorstellung dreht sich – grob gesagt – um eine chinesische, aus Shanghai nach Europa (bzw. dem jeweiligen Ort der Vorstellung) emigrierte Familie, die in der ‚fremden‘ Gesellschaft damit Fuß zu fassen versucht, dass sie (dem von der Immigrationsbehörde geforderten Projekt bzw. Business-Plan entsprechend) interaktive Intensivkurse in Mandarin mittels eines selbst entworfenen didaktischen Konzepts anbieten will. Das Publikum, das mit der beruhigenden Mitteilung „language no problem“ in die Vorstellung gelockt wurde, sieht sich zunächst mit einer entgegengesetzten Situation konfrontiert: die SchauspielerInnen sprechen nur chinesisch und das kommt der Mehrzahl der Zuschauer eben chinesisch (oder spanisch) vor; aber bald zeigt sich, dass die Vorstellung das scheinbar trügerische Versprechen „language no problem“ in der Vorstellung performativ beweisen will, indem diese den wenigstens minimalen Erwerb der Fremdsprache zum eigentlichen Gegenstand der performance erhebt, oder einen solchen Erwerb zur Bedingung eines gelungenen (verständlichen) Theaterabends macht. Das Publikum sieht sich sofort in die (Haupt-)Rolle der aktiven Teilnehmer einer Sprachstunde versetzt, die im Hinblick auf den (aufgeschobenen) Genuss eines künstlerischen Theaterstücks zunächst die zum Verständnis des Folgenden notwendigen Vokabeln zu pauken hat.

      In einem Fernsehinterview für CRTV – den Sender für die chinesische Gemeinschaft in den Niederlanden und für alle dort an der chinesischen Kultur interessierten Bürger – reagierte Kaldor zunächst gespielt störrisch auf den enthusiastischen Interviewer, der sofort wissen wollte, worüber das Stück handle und was denn die Geschichte sei („What is the play about? What’s the story?“)1 Das, so Kaldor zögernd, seien zwei verschiedene Fragen. Die undifferenzierte Fragestellung machte sie nicht nur deshalb ein wenig stutzig, weil die Frage nach der aufgeführten Geschichte eine andere war als die nach dem Spiel als ästhetisch-theatralischer Aufführung, und Letztere noch nicht identisch war mit der Frage, was in der Aufführung auf dem Spiel steh („What is it about?“); ihr Zögern ging auch darauf zurück, dass diese Differenzierungen sich noch einmal in der Vorstellung selber wiederholen, freilich umgekehrt, denn was da vorgeführt oder gespielt wird – eine chinesische Familie, die uns mit anfänglich ansteckender und für Europäer auch wohl ein wenig irritierender Begeisterung mit einer gar nicht langweiligen, zunächst sogar lustigen Stunde Mandarin aufwartet – steht ein wenig quer zu der latenten Geschichte, in der es weniger zu lachen gibt, obwohl die große Tragik ausbleibt. Das alles macht es nicht so leicht, das ‚was‘ vom ‚wie‘ zu trennen und zu sagen, was hier nun eigentlich gespielt wird und wo der Hund begraben liegt. Kaldor versucht das im Interview zu erklären, indem sie schließlich doch etwas über die Geschichte enthüllt. Die chinesische Familie, die eigentlich schon eine Variante der neu zusammengesetzten Familie ist (Mutter, verheirateter Sohn und Teenager-Sohn, Schwiegertochter und Schwiegervater) bieten dem Publikum eine Stunde Sprachkurs Mandarin für Anfänger an, sie führen wenigstens eine solche Sprachlektion auf, wobei das Publikum in die Rolle der Schüler, letzten Endes aber auch in die Rolle der Kunden einer geschäftlichen Transaktion (die auch einen ästhetischen ‚Konsum‘ zeitigen soll) gezwungen wird. Am Ende wird die DVD zum Zweck des Selbststudiums (und einer performanten Verwirklichung des Businessplans) verkauft.

      Die Chinesen sind aus einer gewissen Perspektive die uns wohl am meisten vertrauten Fremden und Anderen in der globalisierten Welt; und auch wenn die ‚Relevanz‘ des Chinesischen wohl kaum erklärt werden muss (der Werbespruch der Vorstellung ist nicht zufällig „ein wichtiger Schritt in die Zukunft“), so geht es Kaldor gar nicht um das Chinesische, es hätte genauso gut Ungarisch oder eine andere Sprache sein können. Oder, so könnte man selber ergänzen, Griechisch (that’s greek to me), Latein (dat is Latijn voor mij), Spanisch (das kommt mir Spanisch vor), double-dutch oder, noch eine französische Variante, c’est de l’hébreu. Das Unverständliche, das Andere spricht viele Fremdsprachen und ist wanderlustig, nomadisch und deshalb auch kontextabhängig. Nicht-Verstehen ist nicht nur zwischen, sondern auch in vielen Sprachen zuhause. Ist das etwa ein indirektes Bekenntnis zum Kulturrelativismus? Kann man sich, ungeachtet der Fremdsprache, mit der man sich verständigen muss oder mit der man konfrontiert wird, verstehen? Wird von Kaldor etwa suggeriert, es gebe ein universelles Verstehen jenseits des partikularen Verstehens, eben weil wir doch alle Menschen sind? Kaldor suggeriert vielmehr, dass ihre eigenen Erfahrungen als Immigrantin, die in diese Vorstellung eingeflossen sind, zu einer verschärften Aufmerksamkeit für das Nicht-Verstehen im Verstehen sowie für das Verstehen im Nicht-Verstehen geführt haben, zu dem sich listig verschiebenden Bruch, der die Beziehung zum fremden Anderen nicht nur kompliziert, sondern überhaupt erst ermöglicht.

      Und dann gibt es noch etwas anderes: Die Vorstellung ist natürlich nicht nur die Aufführung einer Stunde Mandarin für Anfänger; sie erzählt oder besser, zeigt, auf einer anderen Ebene auch das kleine Drama der aus Shanghai ausgewanderten Familie, die, wie gesagt, eine aus zwei ungleichen Teilfamilien zusammengestückelte ist: eine Mutter, die unbedingt will, dass es ihr ältester Sohn im westlichen Kapitalismus schafft, der Sohn, der unter diesem Druck hin und wieder zerbricht und in Trunk- und Spielsucht flüchtet, auch weil er seiner jungen, etwas weniger disziplinierten Frau und den Reibungen zwischen Mutter und