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Theater und Ethnologie


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Albträumen, Hoffnungen und Sehnsüchten erzählen. Auf einer zweiten Kommentarebene agiert ein türkischer Schattenspieler, Hasan Hüseyin Karabag, der ihre Erzählungen mit den Mitteln des karagöz-Theaters ironisch-komisch kommentiert. Im Laufe des Abends wird immer deutlicher, wie sich der Arbeitsalltag der Protagonisten gestaltet: Da ist einerseits der Kleinkrieg mit den Istanbuler Behörden, andererseits die Bedeutung der Weltmarktkurse für Kupfer, Stahl, Gold, Papier, die ihre Arbeit ständig beeinflusst. Thematisiert wird auch die Beziehung von Rimini Protokoll zu den türkischen Wertstoffsammlern als „Experten“, und deren anfängliche Vorurteile, aber auch Ängste, für künstlerische und ethnographische Zwecke ausgenutzt zu werden. Somit wird in diesem Stück zum ersten Mal „die produktionseigene Metaebene ihres Arbeitsprozesses freigelegt“. Die Fragen, die sich während der ‚Probenphase‘ stellten, werden von den Protagonisten auf der Bühne diskutiert: „Was bedeutet es für einen Wertstoffsammler, sein Leben auf Festivalbühnen auszubreiten? Wie greift das Bühnenunternehmen in seine Existenz ein? Und welche Rollen spielen die Klischees, die die beiden aufeinander treffenden Milieus vom jeweils anderen haben?“4

      Die türkischen Wertstoffsammler sind, wie bereits sagt, Beispiele für die inzwischen berühmt gewordenen „Experten des Alltags“, die Rimini Protokoll mit Vorliebe auf die Bühne bringen. Dadurch entsprechen sie in einem gewissen Sinne den neuesten ethnologischen Forderungen nach Multivokalität und Selbstartikulation, hier auf dem Gebiet der darstellenden Künste. Ich erinnere noch einmal an Conquergoods Forderung aus den frühen 1990er Jahren: „What about enabling the people themselves to perform their own experience?“ Was Conquergood in Hinblick auf alternative Darstellungsmodalitäten ethnologischer Forschung formulierte, erfährt hier eine schlichte, aber wirkungsvolle Umkehrung: Das Theater wird zum Darstellungsort ethnographischer Fragestellungen gemacht.

      Ein zweiter Aspekt, der die Verbindung zwischen Theater, zumindest postdramatischem Theater, und Ethnologie stärkt, ist die Arbeitsweise der Gruppe. Recherche und Vorbereitung ihrer Projekte haben durchaus einen ethnographischen Ansatz. So formuliert ein Mitglied des Kollektivs, Daniel Wetzel, die Motivation ihrer Arbeit sei das Interesse an anderen Kulturen:

      One of the things that drives me, or also my colleagues in our theater work, […] is to open up something new – that is, to gain access to a country, a society, to a way of thinking, to a way of living. Firstly, the experience of getting to know something for oneself, and doing so through personally looking, rather than say, via a medium such as the internet; and secondly, the achievement of new perspectives through the input of outsiders who have a certain distance from the people and situation being explored.5

      Der Wunsch, sich Zugang zu einer fremden Kultur zu verschaffen, kann vielleicht als Urtrieb aller Ethnologen bezeichnet werden, da ihr Beruf letztlich darauf beruht, diese Motivation in die Tat umzusetzen. Diese ethnographische Forschungsmethode und Betrachtungsweise wird dann in eine theatrale Form übersetzt, die vor allem dazu dient, den Experten des Alltags einen halbwegs sicheren Rahmen zu gewährleisten, in dem die Nicht-Schauspieler agieren können. Dieses Problem stellt sich bei Audiowalks wie Call Cutta etwas anders, weil die ethnographische Fremderfahrung auf den Teilnehmer übertragen wird. Beiden Ansätzen liegt jedoch ein gemeinsamer Wunsch zugrunde, Wissenserwerb und ästhetische Erfahrung in einem neuen Verhältnis auszubalancieren.

      Hunger for Trade: Multisituiertes Theater

      Das zweite Beispiel, Hunger for Trade, verkörpert noch expliziter das Problem der multi-sitedness, und zwar sowohl aus einer produktions-ästhetischen als auch aus einer organisatorischen Perspektive. Hunger for Trade: Ein internationales Theaterprojekt über den globalen Nahrungsmittelmarkt wurde am Hamburger Schauspielhaus unter der Leitung von Clemens Bechtel zwischen 2013 und 2014 in Zusammenarbeit mit acht weiteren Theatergruppen und Ländern realisiert.1 Ziel des Projekts war es, ein internationales Theaternetzwerk aufzubauen, das die „Möglichkeiten eines globalen, multiperspektivischen und politischen Theaters erprobt.“2 Das Thema war die globale Nahrungsindustrie und deren vielfältige Verflechtungen. Hintergrund und Ausgangspunkt waren folgende Überlegungen: Seit 2002 seien die Preise für Grundnahrungsmittel in Folge von Spekulation, Umnutzung von Agrarflächen für Biosprit-Gewinnung, klimatischen Veränderungen und dem Anstieg der Weltbevölkerung um fast 180 % gestiegen. Versorgungskrisen und teilweise in Gewalt mündende Protestaktionen in Afrika, Asien und Südamerika 2008 seien genau wie die revolutionären Ereignisse in Ägypten 2010/2011 maßgeblich durch die hohen Nahrungsmittelpreise beeinflusst. Darüber hinaus formiere sich der Nahrungsmittelmarkt neu: Während sich für afrikanische Kleinbauern durch die Preissteigerungen teilweise neue Absatzmöglichkeiten ergeben, komme es in anderen Ländern zu einem Ausverkauf von Agrarflächen an multinationale Konzerne. In Asien und Südamerika werden Bauern von den Feldern vertrieben, die sie seit Generationen bewirtschaften, gleichzeitig werden in Europa Landwirte und Agrarfabriken mit EU-Subventionen unterstützt.3

      Hunger for Trade begegnet der Komplexität des beschriebenen Themas mit einem international angelegten Theaterprojekt. Basierend auf einem parallel durchgeführten und vernetzten Rechercheprozess entwickelten Künstler aus vier Kontinenten an neun verschiedenen Theatern bzw. Standorten inhaltlich und formal eigenständige Dokumentar-Inszenierungen, die sich mit unterschiedlichen Aspekten des Themas auseinandersetzen. Zugleich fand ein „Schulterschluss“ zwischen Kunst und Wissenschaft statt, der seinerseits innovative ästhetische Formate zu entwickeln versuchte. Dazu kamen im Projekt verschiedene Strategien zum Tragen: Der öffentliche, künstlerisch-wissenschaftliche Austausch zum Beispiel bei einer internationalen „performativen Konferenz“, die Initiation von neuen Theaterprojekten in neun Ländern mit namhaften Künstlern und deren Vernetzung auf allen Ebenen der Arbeit sowie die nachhaltige und langfristige Verankerung der Thematik durch eine öffentlich nachvollziehbare Recherche, die online durch ein WebDoc dokumentiert wird. WebDoc ist ein Online-Format, das weltweit dem Besucher ermöglicht, dokumentarische Inhalte, z.B. Videos, Texte, Tondokumente oder Bilder, aber auch Diskussionen und Kommentare in leicht zugänglicher Art interaktiv zu erleben.4

      Das Projekt gliederte sich in fünf Etappen: eine Auftaktkonferenz im November/Dezember 2013; eine von Januar bis März 2014 andauernde Recherchephase; eine Probenphase (März/April 2014); die ortsverteilten Aufführungen von April bis Juni 2014; und ein „Abschlussmarathon“ im Juni 2014. Die am ursprünglichen Konzeptpapier orientierte Beschreibung des Projekts, das Ende Mai 2014 am Hamburger Schauspielhaus zu einem vorläufigen Abschluss gebracht wurde, macht bereits deutlich, wie sehr die Theaterarbeit nicht nur ethnologische und ethnographische Fragestellungen aufgriff, sondern auch deren Arbeitsmethoden adaptierte. Die sogenannten ‚core themes‘ – Farming, Trading, Eating, Starving, Politics & Markets, Food Arts – ließen sich ohne weiteres in ein ethnologisches Forschungsprogramm integrieren. So befasste sich das Théâtr’Evasion in Ouagadougou, Burkina Faso im Rahmen ihres Stücks Greve de la faim (Hungerstreik) mit dem Konnex von Hunger und Handel. Das Indian Ensemble aus Bangalore behandelte in einem am dortigen Goethe-Institut aufgeführten Stück Thook die Auswirkungen neoliberaler Reformen auf Nahrung in Indien. Eine Besonderheit dieses Theaterprojekts war der hohe Grad der Vernetzung zwischen den jeweiligen Projekten, die ‚Rechercheaufträge‘ an andere Projekte vergeben konnten, um auf der Forschungsebene der internationalen Verflechtung der Lebensmittelindustrie gerecht zu werden.

      Die Innovation des Projekts liegt sicherlich im konzeptionellen Zuschnitt. Die ethnologische Reorientierung hin zu multi-sitedness wurde in den Vorbereitungs- und Recherchephasen umgesetzt. Weniger ‚erfolgreich‘, zumindest im Sinne der öffentlichen Resonanz, waren die eigentlichen Aufführungen und vor allem der ‚Abschlussmarathon‘ am 30.05.2014, an dem alle Projekte im Hamburg online in einer Live-Schaltung hätten gezeigt werden sollen. Große technische Probleme führten dazu, dass dieser Teil nur unzureichend realisiert werden konnte. In einer der wenigen Kritiken des Abends heißt es:

      Beim Finale am Freitag sollen die unterschiedlichen Produktionsorte miteinander vernetzt werden. Mit Videobeamern und Laptops haben sich die Macher in den Malersaal des Schauspielhauses zurückgezogen. Das Internet soll die weltweit zeitgleichen Abschlussveranstaltungen über Tausende Kilometer verbinden. Doch es entstehen große technische Probleme: Die Datenverbindungen streiken und Gespräche können nicht geführt werden. Steht die Leitung doch,