Группа авторов

Theater und Ethnologie


Скачать книгу

und Schnittstellen gerecht zu werden, schlägt Marcus eine andere Vorgehensweise vor: ganz im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour heißt es, Dingen, Geschichten, Metaphern und Menschen zu folgen: „Strategies of quite literally following connections, associations, and putative relationships are thus at the very heart of designing multi-sited ethnographic research.“11

      Die zweite Wende betrifft die Form der wissenschaftlichen Repräsentation und Präsentation, die auch ethische und ideologische Implikationen hat. Dahinter steht eine von der postkolonialen Theorie formulierte Fundamentalkritik an den Modi wissenschaftlicher Wissensaneignung und -darstellung, die auf eine Verfestigung kolonialer Verhältnisse hinausläuft. Wie kann man die alten, der kolonialen Weltanschauung inhärenten Dichotomien wie eigen/fremd, them and us usw. überwinden? Deshalb fragt der Ethnologe und Theaterwissenschaftler Dwight Conquergood:

      What are the rhetorical problematics of performance as a complementary or alternative form of „publishing“ research? What are the differences between reading an analysis of fieldwork data, and hearing the voices from the field interpretively filtered through the voice of the researcher?12

      Dies führt schließlich zu der Überlegung, die man als eine Art performativer Wende innerhalb der Ethnologie bezeichnen könnte, die aber analog auf die performance studies zurückwirkt: „What about enabling the people themselves to perform their own experience?“13 Diese wohl radikalste Perspektive wirft grundlegende epistemologische Fragen auf hinsichtlich der Darstellung wissenschaftlichen Wissens und der Trennung zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen dem wissenschaftlichen Beobachter und dem Gegenstand dieser Beobachtung. Kann eine Aufführung herkömmliche, ‚objektive‘ Formen wissenschaftlichen Schreibens ersetzen oder zumindest als ebenbürtig betrachtet werden? Dieser Vorschlag fügt sich ein in allgemeinere Überlegungen zu Multivokalität, Dialogizität und Selbstreflexion, die alle Geistes- und Kulturwissenschaften in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren erfassten.14

      Die dritte Wende betrifft die Lokalität der Ethnographie selbst und vor allem das Verhältnis zwischen ‚fremd‘ und ‚eigen‘. In seinem Aufsatz „Feld ohne Ferne: Reflexionen über ethnologische Forschung zu Hause – in Hamburg zum Beispiel“, stellt der Münchner Ethnologe Martin Sökefeld fest: „Ethnologie [ist] nicht mehr die Wissenschaft vom ‚Fremden‘ oder ‚kulturell Anderen‘, sondern die Wissenschaft von wechselnden Positionierungen und Perspektiven.“15 Zunehmend werden die Kultur(en) vor Ort zum Untersuchungsgegenstand, was Sökefeld als das Feld ohne Ferne bezeichnet.

      Die Frage ist nun, ob und inwiefern eine theaterethnographische Forschung von diesen Ansätzen profitieren und sie anwenden kann? Das möchte ich an zwei Beispielen durchspielen, die jeweils andere Perspektiven beleuchten: an der Arbeit des sehr bekannten Kollektivs Rimini Protokoll und an einem weniger bekannten, internationalen Theaterprojekt, Hunger for Trade, das zwischen 2013 und 2014 am Schauspielhaus Hamburg und in mehreren Ländern realisiert wurde.

      Rimini Protokoll: Das Feld in der Ferne

      Die Arbeitsweise des ‚Performancelabels‘, so die Selbstbezeichnung von Rimini Protokoll, legt fast paradigmatisch eine ethnologische Wende der Theaterpraxis nahe: Rimini Protokolls Call Cutta kann bereits als kanonisches Beispiel für postdramatisches Theater bezeichnet werden, da es den Zuschauer zum Teilnehmer macht und auf professionelle Darsteller verzichtet. Der ursprüngliche Theater-Zuschauer wird Teilnehmer und selbst Akteur, der eigentlich Unbeteiligte selbst Teil der Performance.1 Das „interkontinentale Theaterstück“ Call Cutta wurde zwischen 2005 und 2012 in mehreren Iterationen aufgeführt. Die erste Variante fand in der titelgebenden Stadt Kalkutta statt; eine zweite wurde in Berlin und weitere, ‚kompaktere‘ Versionen – Call Cutta in a box – in diversen Städten realisiert.

      Bei allen Versionen sind die wichtigsten Performer „ausgelagert“. So befinden sie sich – beispielsweise aus mitteleuropäischer Sicht 15.000 km und viereinhalb Stunden Zeitverschiebung östlich – im Infinity Tower, Nordostkalkutta, Indien. Es handelt sich um Angestellte in einem Callcenter. Sie folgen einem vorgegebenen Skript, das nach vielen Seiten offen ist, sie wissen zum Beispiel über Berlin viel, aber ansonsten wenig, obwohl sie den Teilnehmern genaue Anweisungen geben.

      Der Anrufer ist Regisseur und der Angerufene der Zuschauer, die Bühne ist das Labyrinth von engen Gassen, Hinterhöfen, Hausdurchgängen und belebten Sträßchen in Hatibagan, Nordkalkutta, jenem ältesten und geschichtsträchtigsten Teil der Stadt. Während der Zuschauer, Knopf im Ohr, durch den Irrgarten geführt wird, auf Skulpturen an den Fassaden schaut, vom Leben längst verblichener Schauspielerinnen erfährt, die just in dem Haus geboren wurden, das er gerade passiert, fühlt er sich vom Strudel von Geschichte und Geschichten erfasst, und die enge, arme, durchaus heitere Nachbarschaft verwandelt sich zu seiner Bühne und er zum Akteur.2

      Wie in fast allen ihrer Arbeiten untersuchen Rimini Protokoll in Call Cutta ein im weitesten Sinne soziales Problem, oft in Bezug auf Fragen der Globalisierung, des Neoliberalismus und einer sich verändernden Arbeitswelt. Ob in Kalkutta oder Berlin, die Zuschauer/Akteure/Teilnehmer sind keine Fremden, sondern Einheimische, die ihre eigene Stadt erkunden, obwohl es sein kann, dass der Stadtteil ihm/ihr unbekannt ist. Verknüpft wird diese Tour mit der Erkundung des Callcenter-Betriebs (oder -Business), und vor allem mit dem besonderen Rollenspiel, dem Fingieren von Nähe und Vertraulichkeit, das zum „Aufgabenrepertoire“ der Angestellten gehört.

      Die Frage ist, ob und inwiefern von einer ethnologischen oder gar ethnographischen Haltung oder Einstellung gesprochen werden kann? Sind die Zuschauer gleichsam Ethnographen der eigenen Umgebung? Welche Haltung wird von ihm/ihr verlangt? Bei allen kognitiven Dissonanzen, die Aufführungen von Rimini Protokoll gelegentlich auslösen, sind sie edukativ angelegt. Eine Ebene der Projekte scheint stets auf Wissenserwerb ausgerichtet zu sein.

      Meine These lautet, dass bei Call Cutta eine ethnographische Haltung simuliert wird: Der Teilnehmer – von Zuschauer kann hier nur bedingt die Rede sein – wird zum teilnehmenden Beobachter, der mit der fremden Umgebung und der fremden Person am anderen Ende der Leitung interagiert. Natürlich kann nur von einer Simulation die Rede sein, weil teilnehmende Beobachtung als wissenschaftliche Methode eine völlig andere Zeit- und Raumerfahrung voraussetzt, denn Grundvoraussetzung sind meistens mehrere Monate im Feld. Dennoch ist die vom Teilnehmer erwartete Haltung eher mit Wissenserwerb als mit ästhetischer Erfahrung im engeren Sinne verbunden. Ich will nicht behaupten, dass Wissensaneignung im Mittelpunkt steht, aber sie spielt eine ungleich wichtigere Rolle als in einer normalen Stadttheater-Aufführung eines Klassikers. Je nachdem, wo Call Cutta stattfindet – in Kalkutta oder Berlin – werden den Teilnehmern während der Erkundungstour zahlreiche Informationen mitgeteilt. Dies gilt auch für die fingierte intime Beziehung zwischen Hörer und Sprecher, die ebenfalls zur Botschaft der Aufführung gehört. Sie doppelt gleichsam die fingierte Vertraulichkeit, wie sie als Grundvoraussetzung für das Geschäftsmodell Callcenter gilt. In der strukturellen Anlage der Performance, dem Nachspüren eines bestimmten Weges oder Pfades durch die Stadt, lässt sich eine performative Umsetzung des von Marcus formulierten Appells an die ethnographische Forschung im Sinne eines multisituierten Ansatzes wiederfinden: man folgt einer Sache, der Metapher, einer Person usw. Diese ‚Verfolgung‘ manifestiert sich auf zwei Ebenen: Erstens folgen die Teilnehmer dem vorbestimmten Weg, zweitens der Stimme aus Kalkutta. Diese räumliche Dissoziation zwischen Hörer und Sprecher zeichnet die Konfiguration eines globalen Arbeitsmarktes nach. Auch thematisch, im (performativen) Nachvollzug der Arbeitsbedingungen der Callcenter-Arbeiter in Indien, bewegt sich damit die Performance in die Nähe der Ethnologie: Die Arbeitsethnologie, ‚Anthropology of Work‘, bildet eine eigene und gewichtige Subdisziplin und gehört zum klassischen Arbeitsbereich der Kulturanthropologie.3

      Das Thema ‚Arbeit‘ wird in einem weiteren in Istanbul realisierten Projekt vertieft, Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls (2010). Es handelt von „Experten des Alltags“, in diesem Fall von Wertstoffsammlern, auch despektierlich „Müllmänner“ genannt, in Istanbul, ihren Routen, ihren Tagesabläufen, ihrem mikroskopischen Blick auf Müll, der mit einem globalen Markt verbunden ist. Gesucht wird nach wertvollen Metallen wie Kupfer, Stahl oder sogar Gold (der Titel verdankt sich dem bekannten Spruch: „Istanbuls Boden ist mit Gold gepflastert“). Die vier