Radegundis Stolze

Übersetzungstheorien


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und den wissenschaftstheoretischen Hintergrund der Dekonstruktion vorgelegt; vgl. ferner Philippe FORGETForget (Hrsg.) (1984).

      Gemeinhin wird ja angenommen, dass man einen Text schon irgendwie verstehen, eben seinen SinnSinn erfassen und dann auch übersetzen könne. Den Grund hierfür bilden unsere Sprachkenntnisse und dann die Erfahrung durch die Tradition der Überlieferung, dass die Sprachzeichen durchaus immer wieder das Gleiche bedeuten. VerstehenVerstehen sei möglich, wenn nur der gute Wille zur Verständigung vorhanden ist. Dahinter steht der philosophische Gedanke eines Logos als sinntragendem Wort, das immer schon auf die allen gemeinsame WahrheitWahrheit eines auffindlichen Sinns im Ganzen verweist.

      Hier hakt die Dekonstruktion ein. Grob vereinfachend ist zu sagen, dass sie sich vor allem gegen die „logozentrische“ Vorstellung einer eingrenzbaren Begrifflichkeit in der Sprache, ein „transzendentes Signifikat“,Sprache wendet. In der Nachfolge Nietzsches wird auf die grundlegende Ambivalenz der Wortbedeutungen in Texten verwiesen, die sich niemals auf einen bestimmten SinnSinn fixieren lassen würden. Zentral ist hier der Terminus écriture, das Schreiben, die Schrift, das Geschriebene, der schriftliche Text. Im Gegensatz zur mündlichen RedeRedes. parole, wo der Sinn des Gemeinten direkt präsent und eindeutig ist, sei es das Wesen schriftlicher Texte, vieldeutig und unbeständig zu sein, da sie in immer wieder neuen Situationen stets neu und anders gelesen werden. Hinter jeder Lektüre steht also eine Übertragung, und dadurch entstehe eine unabschließbare Sinnverschiebung, DERRIDADerrida nennt es die différance, nach dem Verb différer (abweichen). Interpretativ läßt sich kein „Sinn“ fixieren, da jedes Sprachzeichen auf andere verweist und jeder Autor Bedeutungen „endlos aufschieben“ kann.

      Die Schrift bringt den Zerfall der semantischen Identität des Zeichens mit sich. Dessen Wiederholung in verschiedenen kommunikativen Kontexten hat abweichende Sinnzuordnungen zur Folge, welche die Identität eines Wortes erschüttern können. DerridaDerrida bezeichnet diese dekonstruierende Wiederholung als Iterabilität (itérabilité) (ZIMAZima 1994:55).

      Im Ergebnis entsteht eine Streuung des Sinns von Wörtern, eine Dissémination (DERRIDADerrida 1972). Für DERRIDA besteht das Besondere an einem „Original“ darin, dass es überhaupt für wert befunden wurde, „ein Überleben“ (BENJAMINBenjamin) in einer Übersetzung zu erfahren, die erst zu seiner Erfüllung wird.

      The translation will truly be a moment in the growth of the original, which will complete itself in enlarging itself … And if the original calls for a complement, it is because at the origin it was not there without fault, full, complete, total, identical to itself.1

      Was hier von Texten und Übersetzungen gesagt ist, war ursprünglich vom einzelnen Zeichen her gesehen:

      Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß Derridas dissémination oder Streuung nicht mit dem semiotischen BegriffBegriff der Polysemie identisch ist, der von Greimas und Courtés als Pluri-Isotopie definiert wird: als Zusammenwirken von zwei oder mehreren heterogenen Isotopien (ZIMAZima 1994:72).

      Wörter sind geschichtlich und bedeuten niemals nur das, was am Anfang ihres Gebrauchs stand, oder was der AutorAutors. Sender genau damit sagen wollte, sondern ihr SinnSinn „flottiert“ und ist oft „unentscheidbar“ (indécidable). In der Literaturwissenschaft wird die Textinterpretation freilich gerne auf die sog. „Autorintention“ zurückgeführt, deren Festlegung von den Dekonstruktivisten als Illusion oder als Vorurteil entlarvt wird. Ist der Sinn eines Textes wirklich so sicher, gibt es da nicht Brüche (ruptures)? Durch die Infragestellung ihrer zentralen Begriffe werden die expliziten Behauptungen von Autoren „dekonstruiert“.

      Das Interesse des Interpreten verlagert sich vom Gemeinten auf die Zeichenstrukturen. Wie autonom sind diese eigentlich? Wörter können sich verselbständigen und so Gedanken, das VerstehenVerstehen in neue Bahnen lenken. Wo ist dann der (ursprüngliche) SinnSinn? Und welcher Sinn wäre dann zu übersetzen? Wie verhindere ich, dass meine Übersetzung wieder anders verstanden wird? Verwiesen wird hier gerne auf das Wortspiel und die Ironie als Motivation des Schreibens:

      Weil im Wortspiel und dessen unabsehbaren, nie ganz kontrollierbaren Konsequenzen sichtbar wird, daß kein BewußtseinBewusstsein, keine Vernunft, kein Logos über die SpracheSprache so verfügt, daß sie als Text im (guten) Willen zur Macht des hermeneutischen Regelapparats aufgehen kann, ja, daß sie den Schreibenden (ob Schriftsteller oder Interpret) immer schon hinterrücks (hinter seinem Rücken) überspielt oder – das Bild macht SinnSinn – übertrumpft (FORGETForget 1984:10).2

      Die Zweideutigkeit von Wörtern macht auch deren KontextKontext zweideutig:

Erschütterung1) geschüttelt werden, nicht mehr unbewegt sein
2) schütter werden, es entstehen Brüche und Leerstellen
Ungerechtigkeit1) unverdiente, nicht dem Recht entsprechende Behandlung
2) nicht mehr „recht“ sein, WahrheitWahrheit wird verrückt, entstellt
gleichgültig1) indifferent, egal, nicht interessierend
2) gleich gültig, Egalität
aufheben1) auflösen, vernichten
2) ineinander aufgehen lassen, Synthese
3) hochheben, aufnehmen
4) aufbewahren (Schwäbisch)
Aufgabe1) Vorhaben, Problemstellung, Pflicht
2) Kapitulation vor etwas
excéder1) übertreffen, hinausgehen über
2) ein Exzess sein, irritieren, übertrumpfen
sich auseinandersetzen mit1) sich befassen mit, die Meinung zu etwas sagen
2) sich wegsetzen von
3) Güter trennen (jur.)
un posteur d’écriture1) ein Schriftsteller (der entwirft, kein Garant der WahrheitWahrheit)
imposteur d’écriture2) Betrüger, „Hochstapler der Schrift“.3Forget

      Gras/Sarg: Das Anagramm (Wort rückwärts gelesen) wird auffällig, wenn in einem Roman oft Gras und Sarg verbunden werden, wie z.B. in „Die Leiden des jungen Werthers“ von Goethe.

      trace/écart: Gerne werden mit einem Anagramm auch die Spuren des Unbewussten (traces) im Text aufgespürt, die einen Sinnabstand (écart) zum bewusst Ausgesagten indizieren, die Behauptung im Text konterkarieren, überspielen, widerlegen (vgl. FORGETForget 1984:172ff).

      Das BewusstseinBewusstsein von der prinzipiellen Nicht-Beherrschbarkeit der SpracheSprache, der Nicht-Festlegbarkeit der Zeichen, die wir miteinander austauschen, widerspricht natürlich der Vorstellung einer bewussten kontinuierlichen Formulierung durch einen AutorAutors. Sender. Bei einer solchen Sprachauffassung ist es nicht verwunderlich, dass DERRIDADerrida auch die Übersetzung als eigentlich unmöglich, als eine Aporie ansieht, auch wenn er kein Übersetzungstheoretiker ist. Er knüpft an die Vorstellungen Walter BENJAMINS an, den er ausführlich kommentiert (vgl. DERRIDA 1987:207). Dessen Sprach- und ÜbersetzungstheorieÜbersetzungstheorie (s. Kap. 2.5) liegt ja der Gedanke zu Grunde, dass das mimetische (abbildende) Prinzip für die Besonderheit der Einzelsprachen verantwortlich sei. Nicht etwa ein bestimmter Aussagewille, sondern das Unreflektierte in einem Diskurs sei das Entscheidende. Schon deswegen könne es nicht darum gehen, wie LUTHERLuther verlangt hatte (s. Kap. 1.4), die Übersetzung den Anforderungen der Empfänger anzupassen.

      BENJAMINBenjamin stellte sich einen ÜbersetzerÜbersetzer vor, der in seiner eigenen SpracheSprache versucht, „die Art des Meinens“ des fremden Textes nachzubilden. Hier knüpft DERRIDADerrida (1987:201) an und unterstreicht mit dem Hinweis auf den Mythos von Babel die Unmöglichkeit des Übersetzens. Es sind vielfältige Sprachen entstanden, und der Übersetzer kann sich nicht über deren Ausdrucksebenen hinwegsetzen und so tun, als gäbe es ein Verhältnis der EntsprechungEntsprechung zwischen den Zeichen. Insbesondere Dichtung sei unübersetzbar, und so schreibt DERRIDA (1987:220, zit. nach ZIMA 1994:87):

      Die Übersetzung strebt nicht danach, dies oder jenes zu sagen, diesen oder jenen SinnSinn zu übertragen oder eine bestimmte BedeutungBedeutung mitzuteilen, sondern sie will die Affinität zwischen den Sprachen aufzeigen und ihre Möglichkeit erkennen lassen [remarquer l’affinité entre les langues].

      Das stets Intakte, Unfaßbare, Unberührbare