Lingyan Qian

Sprachenlernen im Tandem


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und aufzeichnen. Dies führt jedoch zu einem ethischen Problem. Es ist daher kein Wunder, dass es aufgrund der schwierigen Datenlage bisher wenige umfassende wissenschaftliche Aussagen über den ungesteuerten Zweitspracherwerb erwachsener Lerner gibt.

      1.1.1.2.1 Ungesteuerter Zweitspracherwerb des Kindes

      In linguistischen Forschungen über den ungesteuerten Zweitspracherwerb des Kindes wird häufig der Zusammenhang zwischen dem Spracherwerb und den sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen betont. Mehrere Untersuchungen zeigen, dass bestimmte gesellschaftliche Rahmenbedingungen den Zweitspracherwerb des Kindes nachhaltig beeinflussen.

      Auf der Basis einer linguistischen Analyse des Sprachstandes von 47 sieben- bis achtjährigen türkischen Migrantenkindern findet Röhr-Sendlmeier (1985) heraus, dass ein häufiger Kontakt zur deutschen Sprache signifikant für den Erwerb der deutschen Sprache ist. Dieser Kontakt geschieht auf zwei Ebenen. Erstens geht es um direkte Begegnungen der Migrantenkinder mit deutschsprachigen Kindern auf dem Spielplatz oder mit anderen Muttersprachlern im Alltag. Zweitens sind indirekte Kontakte durch ihre Eltern gemeint. Die türkischen Eltern, die selber Kontakte zu Deutschen haben, sind in der Lage, den Erwerb der deutschen Sprache ihrer Kinder zu fördern.

      Zwar wird der Zusammenhang zwischen dem Zweitspracherwerb und den Sozialisationsbedingungen in der Forschung oft thematisiert. Allerdings gibt es noch keine wissenschaftlich umfassende Untersuchung mit mikroanalytischen Verfahren wie Interaktionsanalyse oder Konversationsanalyse.

      In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass im Bereich des ungesteuerten Erstspracherwerbs des Kindes relativ viele Studien vorliegen. Nach Bruner (1977) beginnt der Spracherwerb direkt nach der Geburt im ersten interaktiven Austausch zwischen Mutter und Kind. Bruner (1987) ist der Auffassung, dass die Eltern für die sprachliche Interaktion mit Kindern ein LASS (Language Acquisition Support System) haben. Die Sprache, die die Eltern in Interaktionen mit Kindern verwenden, ist zum Beispiel ein Aspekt von LASS. Sie zeichnet sich durch kurze und wenig komplexe Sätze, ein langsames Sprechtempo, höhere Tonlagen, einen geringen Abstraktheitsgrad usw. aus. Von Beginn an ist die sprachliche Interaktion auf die Entwicklung der sprachlichen Kompetenz von Kindern zugeschnitten. Das Scaffolding, also die elterliche Unterstützung, die dem lernenden Kind angeboten wird, prägt ebenfalls die Eltern-Kind-Interaktionen beim Erstspracherwerb (Hausendorf/Quasthoff 1996, Becker 2011, Hauser 2005).

      Aus den oben genannten Forschungsperspektiven lässt sich bereits ableiten, dass zielsprachliche Interaktionen mit Muttersprachlern oder kompetenten Erwachsenen, die die zu erlernende Sprache beherrschen, eine wichtige Rolle für den Zweitspracherwerb des Kindes spielt, obwohl bisher keine wissenschaftlich systematische Untersuchung über den Zweitspracherwerb des Kindes in Interaktion zu finden ist.

      1.1.1.2.2 Ungesteuerter Zweitspracherwerb der erwachsenen Lerner

      Sprachwissenschaftliche Untersuchungen über ungesteuerte Interaktionen zwischen erwachsenen Lernern und Muttersprachlern der Zielsprache beschäftigen sich in den letzten Jahrzehnten vor allem mit der Sprache, die die Muttersprachler in Interaktion mit Lernern verwenden.

      Der von Ferguson (1975) geprägte Begriff „foreigner talk“ versteht sich als ein simplifiziertes Register mit einfacher Syntax, langsamer Aussprache, Wiederholungen und Feedback. Roche (1989) gibt in seiner Studie einen detaillierten Einblick in die Struktur und Variation im Deutschen gegenüber Ausländern. Anhand transkribierter Daten untersucht er die Äußerungen von Muttersprachlern im Gespräch mit Nichtmuttersprachlern hinsichtlich ihrer Äußerungsstruktur, personalen Referenz, Temporalität, lokalen Referenz, Skopusstrukturierungen und lexikalisch-semantischen Simplifizierungen systemtisch. Er stellt fest, dass die Abweichung der Xenolekte der Bezugssprache von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. Zu den Hauptfaktoren gehören die sprachlichen Fertigkeiten des Gesprächspartners, die kommunikativen Bedürfnisse, inhaltliche und thematische Relevanz und der ökonomische Kompromiss zwischen den Mitteln zum Erreichen des Ziels und den Mitteln zum Vermeiden kommunikativer Schwierigkeiten (Roche 1989: 177–179). Ähnliche Merkmale von „foreigner talk“ sind auch in Hinnenkamps (1982) Untersuchung von Sprechweisen gegenüber Ausländern am Beispiel des Deutschen und des Türkischen zu finden.

      Solche Untersuchungen zeigen die sprachlichen Anpassungen, die die Muttersprachler in Interaktion mit Lernern benutzen, um sich verständlich zu machen und sie damit in die Interaktion einzubeziehen. Das zeigt sich nach Kotthoff (2012: 4) schon als eine Art von Zuschnitt auf den Lerner. Die Lerner werden dadurch also von den Muttersprachlern unterstützt.

      Untersuchungen zu Verfahren und Strategien in Kommunikationen zwischen Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern werden im Bielefelder Forschungsprojekt „Kontaktsituation“ durchgeführt (Dausendschön-Gay 1987). Anhand von 70 aufgezeichneten und kommentierten Gesprächen zwischen Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern mit ihren jeweiligen unterschiedlichen Kompetenzen in der Sprache des anderen finden Forscher mit gesprächsanalytischen oder ethnomethodologischen konversationsanalytischen Verfahren heraus, dass in solchen authentischen Kommunikationssituationen häufig Lehrsequenzen vorkommen wie Erklärungsverfahren (Sader-Jin 1987) oder Wortsuchprozesse (Dausendschön-Gay 1987), die als Nebensequenzen zur Verständigungssicherung in der Kommunikation gelten. Solche Interaktionen dienen zwar nicht explizit dem Zweck des Spracherwerbs, aber Beobachtungen sukzessiv im Gespräch verlaufender Worterwerbsaktivitäten nach Dausendschön-Gay (1987: 77) bieten jedoch die Möglichkeit, die Funktion von Interventionen und die Abfolge von Aktivitäten der Interaktanten als wichtige Teile eines systematisch ablaufenden Erwerbsprozesses zu interpretieren.

      1.1.2 Tandem: eine besondere Interaktionsform für Zweitspracherwerb

      Als Tandem bezeichnet man gewöhnlich ein Fahrrad, das mittels zwei hintereinander liegender Sättel und Tretlager gleichzeitig zwei Personen in Bewegung setzen kann. Überträgt man die Grundidee der gegenseitigen Unterstützung beim gemeinsamen Voranschreiten auf das Fremdsprachenlernen, geht es um die Begegnung zweier Menschen verschiedener Sprachen und Kulturen, die sich wechselseitig ihre Sprache beibringen. Dabei ist die Muttersprache des einen die Zielsprache des anderen. Jeder übt seine Fremdsprache und hilft dem Tandempartner beim Erlernen der Sprache, die für ihn Muttersprache ist. Das Lernen im Tandem stellt eine Sonderform des Sprachenlehrens und -lernens dar.

      Nach Brammerts/Hedderich (1998: 253) zeichnet sich diese Lernform durch zwei Merkmale aus, nämlich das „Gegenseitigkeitsprinzip“ und das „Lernerautonomieprinzip“. Unter dem „Gegenseitigkeitsprinzip“ versteht man, dass die Tandempartner im selben Maße zur gemeinsamen Arbeit beitragen und von der Zusammenarbeit profitieren. Das setzt voraus, dass beide Sprachen benutzt werden müssen und für beide Sprachen gleich viel Zeit bleibt. Die Tandempartner setzen sich im gleichen Maße füreinander ein. Mit dem „Lernerautonomieprinzip“ meint man, dass jeder im Tandem für sein Lernen verantwortlich ist. Jeder der Tandempartner bestimmt in seinem Teil der Tandemarbeit Lernziele und Methoden selbst.

      1.1.2.1 Geschichte des Begriffs

      Die Tandemgeschichte ist auf die deutsch-französischen Jugendbegegnungen in den 1960er Jahren zurückzuführen. Seit 1968 veranstaltete das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) binationale Sprachprogramme für die Jugendlichen aus den beiden Ländern. Anders als zuvor wurde der Unterricht nun sowohl am Vormittag als auch am Nachmittag zweisprachig durchgeführt. Diese neue Unterrichtsidee war so erfolgreich, dass sie 1970 durch das DFJW immer bekannter wurde. In demselben Jahr beauftragte das DFJW die neu gegründete „Arbeitsgruppe Angewandte Linguistik Französisch“ (AALF), ein eigenes Sprachprogramm mit der Tandemidee zu entwickeln.

      In Kenntnis der zahlreichen deutsch-französischen Ansätze übertrugen Klaus Liebe-Harkort und Nükhet Cimilli das Modell auf die Arbeit mit Immigranten im deutsch-türkischen Bereich. 1973 folgten deutsch-türkische Tandemkurse zwischen türkischen Migranten und deutschen Sozialarbeitern unter der Trägerschaft der „Volkshochschule München“ und des „anatolischen Solidaritätsvereins“. Ähnliche Kurse wurden auch im „Türkischen Volkshaus“ in Frankfurt a.M. (Faust/Schneider-Gürkan 1984) organisiert.

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