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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie


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unmöglich machen (vgl. dazu auch Popyk 2020: 8). Grade bei Geflüchteten kommen, bedingt durch unsichere Aufenthaltsperspektiven, massive Existenz- und Zukunftsängste hinzu (vgl. Kollender/Nimer 2020: 6). Primdahl et al. (2021) heben hierbei die besondere Rolle der Lehrkraft hervor, die dazu aufgefordert ist, den direkten Kontakt auf meist sehr kreative Weise aufrechtzuerhalten.1 Ohne Einzelkontakte, und dieser Punkt ist zentral, findet für viele Zugewanderte kaum Interaktion im Deutschen statt. Der besondere Förderbedarf besteht für Neuzugewanderte somit im Zugang zum Input zum Deutschen, der wiederum ausschließlich in Form des sozialen Miteinanders (in direktem Austausch mit der Lehrkraft oder in der Peergroup) zugänglich gemacht wird. Dies unterscheidet sie von anderen Gruppen mit ebenfalls drängenden, aber eben anders gelagerten Bedarfen. Die Erreichbarkeit der Betroffenen ist, wegen der schlechteren materiellen und besonders technischen Ausstattung, zugleich nicht immer gegeben und auch nicht immer möglich (vgl. Rude 2020: 52). Individuelle materielle, familiäre, soziale und sprachliche Ressourcen gehen somit Hand in Hand.

      Die große Notwendigkeit der sozialen Interaktion wird in einigen Empfehlungen explizit thematisiert (so z.B. bei Baumann et al. 2021), die bevorzugte Berücksichtigung von DaZ-Lerner:innen im Kontext von Öffnungsstrategien der allgemeinbildenden Schulen punktuell angemahnt (vgl. z.B. Geis-Thöne 2020: 20). Das Land Berlin hat diesen besonderen Bedarf für neu zugewanderte Lerner:innen erkannt und eine Empfehlung dahingehend ausgesprochen, dass sog. Willkommensklassen (d.h. Vorbereitungsklassen) im Kontext einer Priorisierung von Präsenzbedarfen zu berücksichtigen sind (vgl. SenBJF 2020). Auch andere Bundesländer wie z.B. Hessen sollen Vorbereitungsklassen den eingeschränkten Präsenzbetrieb präferiert ermöglicht haben.2 Ob und von wie vielen Schulen diese Empfehlungen in welcher Form umgesetzt wurden, ist u.W. nicht systematisch erfasst worden. Aktuell werden zudem erste Überlegungen zu der Frage sichtbar, wie neu zugewanderte Lerner:innen im nächsten Schuljahr zu fördern seien und wie sich (vermeintliche) Lernrückstände kompensieren lassen,3 auch hier ist die weitere Entwicklung noch nicht absehbar.

      In der Summe lässt sich folgern, dass bei neu zugewanderten Lerner:innen mehrere besonders ungünstige Faktoren zusammenkommen, die das Distanzlernen in der COVID-19-Pandemie schwierig bis unmöglich gemacht haben. Das Zusammenwirken von geringen materiellen und technischen Ressourcen, das Wegbrechen sozialer Unterstützungssysteme, prekäre Bleibeperspektiven und ganz besonders keine oder nur geringe Deutschkenntnisse stellen zusammen eine Bildungsbedrohung für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche wie auch Erwachsene dar. Trotz der teils dramatischen Situation für diese Lerner:innen und auch trotz der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe mit Blick auf die soziale und gesellschaftliche Integration dieser Lerner:innen zeigt sich in der bisherigen Forschung – oder ggf. auch ursächlich in der Verteilung von Forschungsaufträgen – eine fast schon systematische Vernachlässigung dieser Gruppe. Die wenigen Forschungsarbeiten, die sich zu neu zugewanderten Lerner:innen finden, beziehen sich zudem auf Kinder und Jugendliche. Studien oder Expertisen zu neu zugewanderten erwachsenen DaZ-Lerner:innen (wie etwa Studierende oder Lernende in Integrationskursen) fehlen u.W. bisher weitestgehend (vgl. für Schüler:innen mit DaZ auf dem zweiten Bildungsweg jedoch Demski et al. 2021). Einige wenige Erkenntnisse wie die Expertise der OECD (2020) zeigen jedoch, dass im Bildungssektor für Erwachsene (z.B. bei vhs-Sprachkursen) zwar Mittel zur Digitalisierung verfügbar gemacht wurden, die online-Lernangebote von den Kursteilnehmer:innen jedoch nicht immer wahrgenommen werden konnten. Auch hier liegen die Gründe in geringeren materiellen Ressourcen, allen voran jedoch in nicht weit genug ausgebauten sprachlichen Kompetenzen begründet (vgl. OECD 2020: 19f.). Die obigen Befunde gelten somit für kindliche, jugendliche und erwachsene Neuzugewanderte gleichermaßen.

      Der vorliegende Band möchte vor dem Hintergrund dieser Befunde einen Beitrag dazu leisten, die Gruppe neu zugewanderter Lerner:innen in den Fokus zu rücken und damit auf ihre besondere Problemlage hinweisen. Der Band verfolgt dabei das Ziel, die durch die COVID-19-Pandemie veränderten Lehr-Lern-Bedingungen für neu zugewanderte Lerner:innen in ihren unterschiedlichen Facetten, die sich auch durch die Heterogenität der Lernenden selbst ergibt, darzustellen. Neben den Perspektiven von und auf DaZ-Lerner:innen sollen auch Erfahrungen, Positionen und Handlungsspielräume weiterer Akteur:innen wie Lehrer:innen, und bildungspolitisch Verantwortlicher dargestellt werden. Das Ziel des Bandes erschöpft sich dabei nicht darin, lediglich Missstände und Probleme aufzuzeigen. Vielmehr sollen auch Problemlösungswege aufgezeigt und in Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit über die Pandemiezeit hinaus geprüft werden. Der Band ist hierbei in drei thematische Teile gegliedert.

      Teil I richtet den Fokus auf Schulunterricht und Schulentwicklung für neu zugewanderte Schüler:innen an allgemeinbildenden Schulen und berücksichtigt dabei Einschätzungen von Schüler:innen, Lehrer:innen und bildungspolitischen Akteur:innen.

      Satu Guhl und Daniel Rellstab eröffnen den Band mit einem Blick auf die Rolle der Lehrer:innen im pandemiebedingt veränderten Unterricht. Anhand episodischer Interviews mit Lehrer:innen in Vorbereitungsklassen an Grund- und weiterführenden Schulen in Baden-Württemberg werden deren Erfahrungen während der ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020 dargestellt und daraus gezogene Konsequenzen der Akteur:innen für die erneuten Schulschließungen zum Jahreswechsel 2020–21 reflektiert. Die im Kontext der kritischen Language Policy-Forschung angesiedelte Studie zeigt die Gestaltungsspielräume von Lehrkräften im Spannungsfeld bildungsinstitutioneller Vorgaben und (Sprach-)Ideologien auf, die über die Pandemiesituation hinaus gültig sind.

      Cosima Lemke, Kristina Nazarenus, Christin Schellhardt und Dorothée Steinbock analysieren anhand von problemzentrierten Interviews mit 13 Schüler:innen aus zwei Vorbereitungsklassen (mit und ohne Alphabetisierung) deren Einschätzungen zum Lernen in Distanz während der pandemiebedingten Schulschließungen. Sie arbeiten die schülerseitige Perspektive auf die Veränderungen bzw. Verlagerungen des Lernens ins Homeschooling, den dabei wahrgenommenen sprachlichen Lernfortschritt sowie die Konsequenzen für soziale Kontaktmöglichkeiten heraus und zeigen dabei die entscheidende Rolle von sprachlicher Interaktion untereinander sowie mit der Lehrkraft für den Spracherwerb und damit für gesellschaftliche Partizipation auf.

      Elisabeth Barakos und Simone Plöger liefern eine mehrperspektivische Problematisierung des Homeschoolings für Schüler:innen in Internationalen Vorbereitungsklassen. Sie verknüpfen dazu die Sichtweisen von Wissenschaft, Bildungspolitik (d.h. eine Schulbehörde) und Schulpraxis (d.h. eine Einzelschule) und verbinden dabei theoretische Vorüberlegungen mit illustrierenden O-Tönen aus Interviews mit dem Schulbehördenleiter und DaZ-Lehrkräften. Die Ausschnitte zeigen, dass schon die grundlegendsten Voraussetzungen (technische Ausstattung und digitale Erreichbarkeit) die schulbezogene Kommunikation auf Distanz erheblich stören können.

      In Teil II des Bandes finden sich Beiträge, die die Auswirkungen des Lockdowns auf die Sprachentwicklung von Schüler:innen mit Deutsch als Zweitsprache anhand von Analysen sprachlicher Daten sichtbar machen.

      Jessica Lindner rückt in ihrem Beitrag Schulanfänger:innen in den Fokus, die erst mit fünf Jahren und damit kurz vor Schuleintritt nach Deutschland eingewandert sind und Deutsch als Zweitsprache lernen. Sie greift auf Daten von 30 neu zugewanderten Erstklässler:innen des Schuljahres 2018/2019 (ohne Pandemie) und 2019/2020 (pandemiebedingte Schulschließungen von über zwei Monaten) zurück und vergleicht deren Leistungen in einschlägigen standardisierten Tests zu Lese- und Schreibfähigkeiten (WLLP-R, ELFE II und HSP 1+), zunächst quantitativ im Gruppenüberblick und dann differenzierter anhand von je einem Fokuskind der beiden Kohorten. Ihre Analysen bestätigen ihre Hypothese, dass die pandemiebedingten Schulschließungen zu Benachteiligungen in der Lese- und Rechtschreibentwicklung bei neu zugewanderten Zweitsprachlerner:innen führen.

      Julia Schlauch und Jana Gamper diskutieren die Schulschließungen im Lockdown im Frühjahr 2020 als mögliche Lernunterbrechung, die sich in der Sprachentwicklung neu zugewanderter Schüler:innen in Vorbereitungsklassen bemerkbar machen könnte. Um dieser Frage nachzugehen, analysieren sie 45 Lerner:innentexte, die kurz vor und nach den ersten Schulschließungen von 16 Schüler:innen geschrieben wurden, in Hinblick auf die darin realisierten Verbstellungsmuster. Ihr zweistufiges profilanalytisches Vorgehen bestätigt für einen Teil der Schüler:innen gewisse Rückschritte oder Stagnationen in den Erwerbsstufen,