vergangenen drei Monaten pausenlos an ihn gedacht hatte, obwohl ich genau das ausdrücklich vermeiden wollte. Aber für diesen einen noch beschisseneren Moment wanderte Jacob beiseite, denn es war eine absolute, himmelschreiende Scheiß-Unverschämtheit, dass der Hohlkopf die Bestnote bekam. Jeder wusste, dass er sich die Hälfte seiner Buchstabensuppe im Internet zusammengeklaut hatte. Und für die Umformulierungen hatte er garantiert jemanden bezahlt.
Aber der Professor hatte Besseres zu tun, als seiner verdammten Pflicht nachzugehen und seinem Lieblingsstudenten auf die kriminellen Fingerchen zu klopfen. Kentwell stand auf Arschkriecher.
Inzwischen glaubte ich sogar fast, dass der gut gewachsene Lehrkörper, dem das gesamte College nachsagte, dass er die Studentinnen reihenweise flachlegte, in Wirklichkeit schwul war. Wahrscheinlich galt dasselbe für Michael und seine ständigen Aufreißmanöver waren pure Tarnung.
„Glückwunsch“, sagte ich scheinheilig, denn das summa cum laude wünschte ich in diesem speziellen Fall nur mir. Und natürlich Ron, der den Termin nach mir hatte - und schon wieder nicht zur verabredeten Zeit anwesend war. Aber daran konnte ich jetzt auch nichts ändern. Meine eigene Urteilsverkündung stand kurz bevor. Da musste ich jetzt allein durch. Warum auch nicht? Ich war schließlich kein Baby. Und am Ende des Studiums sollte ich so langsam durch die Welt marschieren können, ohne dass mein bester Freund mir ständig das Händchen hielt.
Ich setzte mein strahlendstes Lächeln auf und betrat das Zimmer, in dem Prof. Kentwell mir in wenigen Minuten das Ergebnis meiner Masterthesis mitteilen würde.
Hoffentlich ging das hier so aus, wie ich es mir erträumte und wie ich es verdient hatte! Mit einem summa cum laude würde ich den begehrten Bonus erhalten, der mich über den nächsten Monat brachte, bis ich einen meinen Traumjob gefunden hatte.
Aber vielleicht bot Prof. Kentwell mir ja sogar eine Assistentenstelle an. Als seine studentische Hilfskraft war er mit meiner Arbeitsweise vertraut. Ich wünschte es mir so sehr. Doch ich war auch realistisch. Nachdem der Arschkriecher schon die Bestnote eingesackt hatte, war zumindest der Bonus schon halbiert - wenn Michael sich nicht längst den Assi-Job erschlichen hatte.
Aber damit hätte er doch auch gleich noch herumgeprahlt, oder?
„Guten Tag, Miss Smith.“
Ohne den Kopf zu heben, wies Prof. Kentwell auf den einzelnen Stuhl, der in der Mitte des runden Zimmers stand. Es war ein einfacher Holzstuhl, der mit Sicherheit aus dem Gründungsjahr der Uni stammte und im krassen Gegensatz zu der hochmodernen Rotunde mit den glänzend weißen Wänden und der indirekten Beleuchtung stand.
„Guten Tag, Professor Kentwell”, erwiderte ich und nahm Platz.
Es war ungewohnt, dem Professor hier zu begegnen, und dann auch noch quasi wie auf dem Präsentierteller zu sitzen. Ich fühlte mich wie der rote Fleck auf einer Zielscheibe. Das war gruselig. Wenn ich für Kentwell arbeitete, hielten wir uns stets in seinem kleinen Büro auf. Doch das wurde gerade renoviert. Ich wusste das, weil ich sämtliche siebentausendvierhundertdreiunddreißig Mathebücher in Kartons geräumt und dabei in eine Computerdatei eingegeben hatte. Inklusive Coverfotos, die ich mit meinem Smartphone geschossen hatte.
Kentwell hob nicht mal den Kopf. Er blätterte in meiner Masterarbeit. 50 Seiten reine Mathematik, in einem klassischen blauen Einband. Der von dem Arschkriecher war rot. Ekelhaft. Hauptsache auffallen.
Heute fiel allerdings auch ich mehr auf als sonst.
Auf Tinas dringendes Anraten hatte ich ein Kleid angezogen und hoffte, dass mir mein weibliches Äußeres half. Ich war sogar versucht, die Beine sexy übereinander zu schlagen, aber ich verkniff es mir. Tina würde mich natürlich nachträglich dafür steinigen. Die Bestnote war nämlich nicht nur für den Bonus erforderlich, sondern auch für eine qualifizierte Arbeitsstelle.
„Nun, Miss Smith. Ich weiß, wie sehr Sie die Mathematik lieben. Und, ich muss sagen, die Mathematik liebt Sie. Ich bin in weiten Teilen mit Ihrer Arbeit einverstanden.“
Kentwell hob endlich den Kopf, stutzte kurz und lächelte mir dann zu, während mir die Gesichtszüge entgleisten.
„In weiten Teilen?“, stammelte ich und schlug jetzt doch die Beine übereinander.
Der Professor grinste beinahe unmerklich. „Mit ihren Schlussfolgerungen bin ich nicht ganz einverstanden.“
„Was ist denn mit meinen Schlussfolgerung nicht in Ordnung?“
Ich gab’s ja zu, dass ich gerade bei den Schlussfolgerungen besonders häufig mit den Gedanken bei Jacob gewesen war, aber davon war die Qualität meiner Arbeit unberührt geblieben.
„Ich habe den Eindruck, dass Sie mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache waren.”
Oh nein!
„Wie meinen Sie denn das?“
„Ihre Ausführungen wirken fahrig, nicht vollständig durchdacht. Gerade von Ihnen hatte ich mehr erwartet. Dieser Meinung ist übrigens auch der Zweitgutachter. Ich dürfte Ihnen das eigentlich nicht verraten, aber da Sie meine ehemalige Hilfskraft sind und ich stets sehr zufrieden …“
Jetzt war ich doppelt geschockt. Ich schnappte nach Luft, was zu meinem Erschrecken klang wie das Katzentörchen an der Haustür meiner Eltern, wie ein blechernes Klappern. Kentwell hob beide Augenbrauen. Er war mir plötzlich so fremd. Dabei hatte ich doch drei Jahre für ihn gearbeitet.
„Wieso bin ich Ihre ehemalige Hilfskraft?“
„Miss Smith, dass ich das ausgerechnet Ihnen erklären muss. Sobald die Masterthesis beurteilt ist, sind Sie keine Studentin mehr und damit können Sie auch nicht mehr als studentische Hilfskraft für mich arbeiten. In jedem Fall möchte ich mich bei Ihnen für die langjährige, stets zufriedenstellende Zusammenarbeit bedanken. Zugleich möchte ich Ihnen zu einem ganz hervorragenden magna cum laude gratulieren.“
Ich sank in meinem Stuhl zusammen wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwich. Magna cum laude. Ernsthaft?
Das war nur die zweitbeste Note.
„Aber Prof. Kentwell …”
„Suchen Sie sich eine schöne, gemütliche Stelle an einer kleinen, gemütlichen Schule auf dem Lande, heiraten Sie, setzen Sie ein paar nette Kinder in die Welt. Dabei wird Ihnen die Mathematik sehr nützlich sein …”
Ich wollte aufspringen, mich auf Kentwell stürzen und ihm die Fresse polieren. Aber ich besann mich. Ich klimperte mit den Wimpern, senkte die Lider, öffnete sie wieder und schaute Kentwell verführerisch an. Außerdem hatte ich in meinem ganzen Leben niemandem die Fresse poliert.
Und an der Endnote kann man gar nichts mehr ändern?, klangen Tinas Worte in meinen Ohren.
„Und an der Endnote kann man gar nichts mehr ändern?“, erklang meine eigene Stimme.
Das war ekelhaft. Wie ich mich schämte! Ich spürte, dass ich knallrot anlief. Ich hätte mir selbst vor die Füße kotzen können. Aber hier ging es um mein Leben. Um meine Zukunft. Die konnte ich mir doch nicht von einem übrig gebliebenen Macho versauen lassen. Oder von einem schwulen Feigling, wie Ron glaubte. Ich musste mich zur Wehr setzen. Meine Arbeit war wirklich sehr gut. Sehr sehr gut. Ich hatte auch sämtliche Vorleistungen mit der allerbesten Note bestanden. Ich konnte ganz objektiv beurteilen, wie gut meine Masterthesis war. Sie war eindeutig besser als die von dem blöden Michael. Darum hätte ich zumindest dieselbe Note verdient wie er. Das war so ungerecht!
„Miss Smith?”
„Ja, Professor?” Ich schürzte die Lippen.
„Haben Sie mir etwa gerade Sex angeboten, damit ich Ihre Note anhebe?“
Wie tief konnte man eigentlich sinken? Jetzt hatte ich mein Studium in meinem absoluten Traumfach abgeschlossen, in dem Fach, in dem meine einzige Begabung lag. Ich war