aufbietet, wo es darum geht, einen deutlichen, konfessionellen Bruch in der Überlieferung zu erklären. Bedingung der Möglichkeit der Entstehung dieser Schriften aber war – und das spricht dafür, diese Theorie nicht nur auf die Entstehung des Christentums anzuwenden – das jüdische Volk. In ihm habe die Bibel ihr „Gebietendes“ gehabt, sie sei der „Gerichtsstand allen Verstehens und Wissens.“ Als Wort des lebendigen Gottes in seiner Gegenwärtigkeit hatte sie gegenüber dem Alltag der Menschen „etwas Zwingendes“, ihr Wort tat dar, was wirklich und wahrhaft war. Was kann es dann aber heißen, daß das jüdische Volk das „Gebietende“ des Bibelwortes war, das seinerseits dem Leben dieses Volkes sein Maß gab? Doch nur, daß der Geist des lebendigen Gottes, wenn irgendwo, in diesem Volk seine Heimstätte hatte.
VI.
Unter dieser durchaus biblisch begründeten und belegten Überzeugung gewinnt das Programm einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik eine überraschende, in keiner Weise willkürliche Plausibilität. Daß das jüdische Volk diesen Gottesgedanken hervorbrachte, zeichnet es vor allen anderen Völkern aus; freilich spielen – neben den schöpferischen Individuen – bei Baeck auch Völker, nun ganz im Sinne der von Dilthey verwandelten Idee des Hegelschen Volksgeistes, eine systematisch zentrale Rolle, sind sie doch die Träger dessen, was der geisteswissenschaftlichen Forschung ihr Thema gibt, nämlich der Geschichte, wie sie zu Beginn der 1940 unter den grauenvollen Bedingungen von Theresienstadt verfaßten, letzten großen Schrift Dieses Volk vorgestellt wird:
„Geschichte zu erwerben, Geschichte zu haben, ist die Aufgabe eines jeden Volkes. Und wenn ein Volk dann eine Idee, einen bestimmten, echten Gedanken in sich entdeckt und ihn festhält, dann hebt die Zeit einer großen Geschichte an – auch die kleinen Völker, ja meist sie, sie mehr als die großen Völker, haben große Geschichte zu eigen gewonnen, von ihnen ist Weltgeschichte ausgegangen.“73
In dieser Perspektive gerät das jüdische Volk mit seinem prophetischen Blick, der über das jeweilige Hier und Jetzt hinausweist, zum geschichtlichen Volk par excellence, das diesen Sinn für die Geschichte wiederum aus einem sittlichen Lebenswillen zieht.
Dem Begriff des Volkes widerfährt eine sorgfältige Analyse. Mehr als ein leerer Begriff zu sein, verweist es im konkreten Fall des jüdischen Volkes auf das Gebot Gottes, das an ausnahmslos jeden Einzelnen gerichtet ist. Daher – so deutet Baeck die prophetische Gerechtigkeitspredigt – spielen in diesem Volk soziale Rangordnungen grundsätzlich keine Rolle, da jeder, der dem Volk angehört, durch das Hören der Weisung gleichsam geadelt wird. Das Verhältnis des Gottes Israels zu seinem Volk ist daher grundsätzlich ein Verhältnis Gottes zu den erwählten Einzelnen, die wiederum für eine sittliche Lebensführung einstehen. Anders als der Individualismus der Griechen, den Baeck als einen Individualismus des kosmischen Maßes ansieht, ist der Individualismus Israels gemeinschaftsbildend und verleiht zudem dem Einzelnen besondere Bedeutung, Würde, Verantwortung und damit die Aufgabe des sittlichen Fortschritts. Monotheismus der Moral und „bisweilen trotziger Individualismus“ verbinden sich so zu einem unauflöslichen Ganzen. Individualität und Wille zur Gesamtheit ergänzen einander wiederum, gemäß dem Prinzip des hermeneutischen Zirkels. Am Beispiel der Ehe läßt sich zeigen, daß sich die im Alltag gelingende Offenbarung der Individualität zweier Menschen zu einer neuen, übergeordneten und weitertreibenden Offenbarung entwickelt. An diesem Modell soll die besondere Offenbarungsfähigkeit des jüdischen Volkes klar werden. Mit diesen Überlegungen sind Konsequenzen für das Volk als Ganzes, für seine kollektive Individualität angezielt. In der Geschichte des jüdischen Volkes nämlich, in den geschichtsprägenden Worten der Propheten zumal wird nun gerade der Mensch, ja, die Menschheit im Ganzen, von geschichtlicher Dynamik ergriffen; man könnte sagen, daß Baeck Geschichtlichkeit und jüdische Existenz beinahe einander gleichsetzt. Im Fall der Juden schießen Individualität und Existenz zusammen: es ist die Individualität des jüdischen Volkes, dessen Existenz Baeck an und für sich bereits als eine Leistung ansieht. Seine Existenz in der Zeit wiederum, seine vollzogene Geschichte, gerät daher folgerichtig zur Weltgeschichte:
„Durch seinen Auszug aus Ägypten ist es zum Volke der Geschichte, zu einem Volke der Menschheit geworden. Was war, spricht darum ihm von dem, was kommen wird. Es ist ein Volk der Geschichte und darum ein messianisches Volk. Es ist das eine, weil es das andere ist, weil es keine Geschichte anerkennt, die nicht Weltgeschichte ist.“74
Doch läßt sich das angestrebte hermeneutische Wechselverhältnis von Individuum und anderen Individuen nicht durchhalten – in letzter Instanz kann sich auch Baeck dem romantischen Kult des schöpferischen Genius, den er über Dilthey und Schleiermacher rezipierte, nicht entziehen, lasse sich doch die Geschichte des jüdischen Volkes nicht ohne den Geist, ohne die „Kraft eines Genialen“75 verstehen. Freilich bleibt aus gutem Grund unbestimmt, ob der Geist, die Individualität, die hier beschworen wird, die einer Person oder des Volkes als Ganzem ist:
„Man kann die Geschichte und die Existenz dieses Volkes, diese Geschichte eines Geistes und diese Existenz durch den Geist, nur dann ganz begreifen, wenn man erkannt hat, wie hier die Kraft eines Genialen durchgebrochen und sich durchgesetzt hat, wie hier eine Revolution am Werke war und am Werke blieb. Ein genialer, ein revolutionärer Geist begann seinen Weg… Es war der Einbruch einer anderen Welt, der sich hier die Bahn schuf, in Menschen und durch Menschen, dieses Volk sie schuf…“76
Leo Baecks geisteswissenschaftliche Theorie des Judentums gipfelt so in einem den Hermeneutikern seit Schleiermacher teuren Prinzip: dem Entstehen des Neuen im Prozeß des Verstehens. Nun hat Baeck keine Theorie divinatorischen Verstehens vorgelegt, sondern den Gedanken des hermeneutischen Zirkels aus seiner Verbannung in Methodologie wieder in die Bereiche sachhaltiger Geschichtsbetrachtung zurückgeholt, mehr noch, am Beispiel des jüdischen Volkes das einzigartige Ineinanderübergehen von Text und individueller Lektüre, von Einzelnem und Gemeinschaft, von überhistorischer Wahrheit und erfülltem Kairos, von Tradition und Einbruch des Neuen demonstriert. Daß er dieses geisteswissenschaftliche Programm, das in gewisser Weise hinter Dilthey auf Hegel zurückgeht, in einem einzigen Fall entfaltet und diesen einzigen Fall zugleich als beispielhaft für die Analyse aller anderen geschichtlichen Existenz angesetzt hat, mag ironisch erscheinen. Die Philosophie des Idealismus, namentlich Hegels, nämlich sah die Juden zunächst als ein der Geschichte verlorengegangenes Volk an, Dilthey als Leser Hegels wiederum versuchte, die reale Dialektik der Geschichte methodologisch zu zähmen und so für sachhaltige historische Forschung zu retten. Leo Baeck schließlich gelang es, wenn auch unter stark normativen Vorzeichen, die Realdialektik ausgerechnet in der Geschichte des jüdischen Volkes zu retten. Daß der systematische Kern dieser Realdialektik in einer Theorie der sittlichen Persönlichkeit wurzelte, sollte man dem prominentesten Vertreter einer im besten Sinne bürgerlichen, klassischen Religion nicht ankreiden. Ob die von ihm angestrebte Synthese eines Kantianismus der Moral mit einer hermeneutischen Lebensphilosophie – selbst genial an der Existenz des jüdischen Volkes entfaltet – in Theorie und Sache aufgeht, wird sich nur durch eine erneute Analyse der von Baeck bemühten und bewunderswert sicher verarbeiteten Quellen erweisen lassen.
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