systematischen Überlegungen gerecht werden konnte. Er hat aber sehr genau gesehen, daß all diese Überlegungen zu judentumsfeindlichen Überlegungen führen, was sich wiederum an Schellings Philosophie der Offenbarung zeigen läßt. Dort sagt Schelling im XXVII. Kapitel, das sich mit der Offenbarung im Judentum auseinandersetzt, daß die Offenbarung an Abraham an ein falsches göttliches Prinzip geknüpft gewesen sei, daß kein Volk solcher Knechtschaft in seinem Tun und Lassen unterworfen gewesen sei wie das jüdische und daß das Typische des Mosaismus das Heidnische sei.51 Diese Überlegungen gipfeln in der Feststellung:
„Denn so schlaff zeigte sich dies Volk, daß es nicht einmal sein Land erobern konnte, obwohl mit göttlichem Befehl. Es hatte durch seinen Gottesdienst keinen religiösen oder moralischen Einfluß. Scheint es das begünstigste Volk zu sein, so hat es diesen Vorzug gebüßt. Es war immer potentielles Christentum oder gehemmtes Heidentum. Im Judentum war das Kosmische Hülle des Zukünftigen, darum auch selbst geheiligt […] Die Juden waren aber nur Etwas als die Träger der Zukunft, und das Mittel ward zwecklos, wie die Hülle vom Kern hinweggeweht wird […] Aber der Tag wird erscheinen, da sie in die göttliche Ökonomie werden aufgenommen werden. Inzwischen sollte man ihnen die nothwendigen menschlichen Rechte zugestehen.“52
IV.
Der reaktionäre späte Schelling verbindet so spekulativen Antisemitismus auf höchstem Niveau mit einem eindeutigen Eintreten für die Menschenrechte der Juden. Der Demokrat, Positivist, Aufklärer und Kantianer Steinheim wollte wider diese Formen des Antijudaismus den klaren Rückgang auf Kant und war damit Nachfolger und Vorläufer all jener liberalen deutschen Juden, die von Marcus Herz bis zu Hermann Cohen bei Kant das Wesen des Judentums als einer vernünftigen Religion freier Sittlichkeit angelegt sahen.
Die letzte Phase deutsch-jüdischer Philosophie – das Werk Franz Rosenzweigs – ist dann, wie die neuere Forschung zeigen konnte,53 von Schelling inspiriert und interessierte sich für Kant und den orthodoxen Offenbarungspositivismus zunehmend weniger. Das führt uns endlich zu der Frage, ob Steinheims Offenbarungspositivismus, auf den sich zum Beispiel Hans-Joachim Schoeps und Jakob Petuchowski unter den neueren jüdischen Denkern bezogen, dem Wesen des Judentums überhaupt gerecht werden kann. Entgegen dem Titel von Steinheims Werk Die Offenbarung nach dem Lehrbegriff der Synagoge bezieht sich Steinheim gut protestantisch vor allem auf die Bibel und bemüht – soweit ich sehe – kaum oder nur sehr wenig das talmudische Schrifttum. Ihm mochte daher auch jene Passage entgehen, die ihm als naturwissenschaftlichem Positivisten ohnehin fremd vorkommen mußte, jene Passage im Traktat Bawa Mezia,54 in der erzählt wird, daß die Rabbiner sich bei ihrer Interpretation der Thora auch durch eine göttliche nicht beeindrucken ließen, da sie aus dem Deuteronomium wußten, daß die Weisung nicht im Himmel, sondern nah bei den Menschen ist. Das deuteronomistische und rabbinische Judentum hat im Prinzip – und das unterscheidet es jedenfalls vom Protestantismus – das Problem der Vermittlung von Gottes Wille und geschichtlicher Welt nicht auf die Offenbarung eines Messias als des menschgewordenen und als Mensch gestorbenen Gottes geschoben, sondern dort angesiedelt, wo die Vermittlung tatsächlich geschieht: in der Mitte jener, die die Lehre im geschichtlichen Prozeß empfangen, aufnehmen, um- und fortbilden, also in dem Prozeß der Tradition einer ebenso verbindlichen wie dem geschichtlichen Prozeß gegenüber offenen Interpretation.
Nun ist mit dem Verweis auf die Inkompatibilität von rabbinischem Judentum und Offenbarungspositivismus noch nichts über das Recht religiöser Spekulation gesagt - ob ein Jude nach Auschwitz ohne sie auskommt, darf indessen bezweifelt werden.
Leo Baecks Theorie des Judentums als Vollendung der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik
I.
In den Arbeiten Leo Baecks über das Judentum hat die Theorie Wilhelm Diltheys, bei dem Baeck mit einer Arbeit über Spinoza promoviert hatte, ihren idealen Anwendungsfall gefunden. Dilthey hatte um die Jahrhundertwende den sich inzwischen konsolidierenden Geisteswissenschaften nicht nur ein methodologisches Gerüst, sondern damit zugleich eine Theorie ihres Selbstverständnisses geboten. Darin wollte er vermittels einer empirischen Transformation von Hegels Theorie des Geistes die Ausprägungen kultureller Gehalte in ganzen Lebensvollzügen sowohl in ihrem inneren Zusammenhang als auch insbesondere in ihren Auswirkungen auf die Individuen, die einer solchen Kultur angehörten, verdeutlichen. Wenn über Baecks Beziehung zu Dilthey gehandelt wird, wird meist Diltheys Theorie der Polaritäten, das heißt einander entgegengesetzter geistiger Strömungen, in den Mittelpunkt gestellt sowie dessen Methode eines nachvollziehenden Verstehens der Sinngehalte einer Kultur beziehungsweise der ihre Individuen motivierenden geistigen Kräfte. In Diltheys Argumentationsfigur des hermeneutischen Zirkels – gemäß dem sich Selbstverständnis und Handeln der Individuen aus dem Ganzen der Kultur, in der sie leben, erschließen lassen, während sich umgekehrt der Sinngehalt einer ganzen Kultur nur aus den Lebensvollzügen ihrer Individuen erschließen läßt – wurde Hegels spekulative Theorie der Volksgeister, das heißt übergeordneter geistiger Strukturen, in ein einzelwissenschaftlich bearbeitbares Forschungsprogramm umgewandelt.
Leo Baecks nicht nur wissenschaftliches Verständnis des, seines Judentums basiert auf diesem Programm einer romantischen, weil einfühlenden Hermeneutik auch noch dort, wo er sich selbst äußerst kritisch mit dem, was er für Romantische Religion hält, auseinandersetzt. Auch die in dieser Schrift getroffene Unterscheidung zwischen klassischer und romantischer Religion ist noch dem romantischen Programm verhaftet, wonach die gelingende Einfühlung – und was anderes ist das als ein methodisch eingesetzter Affektgebrauch? – Typen und Strukturen geistigen und das heißt wirklichen Lebens erschließt. Diesem Programm ist Leo Baeck, der seit 1894 bei Wilhelm Dilthey studiert und nur ein Jahr später bei ihm mit einer Arbeit über Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland 1895 promoviert wurde, Zeit seines Lebens treu geblieben. In seinen Hauptwerken – angefangen mit dem Wesen des Judentums aus dem Jahr 1905, bis zu Dieses Volk. Jüdische Existenz, das in seiner abschließenden Fassung 1957 erschien – bleibt er einer ansonsten eher impliziten methodischen Maxime treu, die er jedoch im Vorwort zur zweiten Auflage des Wesens des Judentums, erstmals erschienen 1906, dann wiederaufgelegt im Jahre 1921, folgendermaßen entfaltet hatte. Im Ausgang von der platonisch klingenden Annahme, daß, wer das Wesen erkennen wolle, etwas als das Ganze betrachten und den Blick auf die Entwicklung einer Grundkraft richten solle, die das Treibende des in den einzelnen Erscheinungen wirkenden geschichtlichen Lebens bewirke, charakterisierte Baeck das Wesen des Geschichtsforschers:
„Er will zusammenschauen, auf das Offenbarende und Bestimmende, auf das Organische den Blick richten, auf das, wovon alles Wachstum, alle Entwicklung kommt und was in allem Wachsen und aller Entwicklung sich entfaltet; er will das Treibende, die Grundkraft erfassen, die in einzelnen Erscheinungen eines großen geschichtlichen Lebens wirkt. Die Einheit und damit der Zusammenhang in einem geistigen Geschehen, sein Prinzip soll dargelegt werden. Das Historische und Systematische, das Wissen von den Tatsachen und die Erkenntnis der Ideen, verbinden sich hierzu miteinander und führen einander…“55
II.
Mit dieser methodologischen Einlassung trifft Baeck eine folgenschwere Vorentscheidung: historische Phänomene wie Religionen, Nationen oder Kulturen sollen letzten Endes auf eine Grundkraft, ein Prinzip reduziert werden oder umgekehrt: das, was sich in einer gegebenen Kultur als vielfältig oder sogar unübersichtlich erweist, gilt als Epiphänomen, als Oberflächenphänomen, hinter dem sich ein nachvollziehbares und verstehbares, aus einem Prinzip resultierendes Geschehen verbirgt. Es ist kein Zufall, daß Baeck hier Metaphern des Organischen bemüht: Kulturen und das hinter ihnen stehende Prinzip verhalten sich ebenso zueinander, wie der Phänotyp von Lebewesen, etwa Pflanzen, zu ihrem Genotyp. Für ein kulturwissenschaftliches und historisches Forschungsprogramm bedeutet die Wahl dieser Metaphorik nichts anderes als den systematischen Ausschluß der wechselseitigen Beeinflussung von Kulturen, die Betonung ihrer inneren Abgeschlossenheit und Vollständigkeit sowie die Negation einer möglichen Überdeterminiertheit und damit Kontingenz ihrer Artikulationen. Für eine mindestens dem Anspruch nach auch empirisch orientierte Kulturwissenschaft ist damit der