Micha Brumlik

Vernunft und Offenbarung


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jeder Jude soll es wissen: Die innere religiöse Entwicklung unserer Religionsverfassung verdanken wir nur Deutschland.“21 Diese Einsichten – so meint Cohen – sollten jeden Juden auf der Welt an die Seite des kriegführenden Deutschland treiben, das mit seinem Waffengang sowohl die praktischen Interessen der Juden wahrnähme als auch einen welthistorisch-messianischen Auftrag erfülle:

      „Liebe Brüder in Amerika! Ihr werdet mich jetzt verstehen, wenn ich Euch sage: Jeder Jude des Abendlandes hat neben seinem politischen Vaterland als das Mutterland seiner modernen Religiösität, wie seiner ästhetischen Grundkraft und damit des Zentrums seiner Kulturgesinnung, Deutschland zu erkennen, zu verehren und zu lieben. Ich habe die Überzeugung, daß auch in jedem gebildeten russischen Juden diese Pietatät für die deutsche Bildung lebendig ist. Und ich habe daher auch die Zuversicht, daß er unseren deutschen Waffengang mit Rußland aus seinem jüdischen Herzen heraus begleiten muß.“22

      Aus einer jüdischen Perspektive rechtfertigt Cohen den Krieg gegen Rußland vor allem mit der Rechtlosigkeit der russischen Juden, denen noch nicht einmal das allgemeine Schulrecht zugestanden sei. Dem Aufruf eines englischen Juden, mit den Juden Rußlands gegen Deutschland zu kämpfen, mag Cohen daher nur noch mühsam gebremsten prophetischen Zorn entgegensetzen. In dieser Weltstunde dürfe wohl die Frage aufsteigen, ob etwa das Weltgericht über Rußland hereinbreche,

      „nicht zuletzt aus der Rücksicht auf seine unverhüllten Maßregeln zur Austilgung des jüdischen Volkes. Jeder Jude, der von der Kulturkraft und daher von dem Lebensrecht seiner Religion überzeugt ist, muß sich glücklich schätzen, wenn sein Patriotismus ihm wenigstens Neutralität in diesem Krieg auferlegt. Er muß uns deutsche Juden aber beneiden“, so hebt Cohen hervor, „daß wir für unser Vaterland kämpfen, getragen zugleich von der frommen Zuversicht, daß wir mit dem größten Teil unserer Glaubensgenossen seine Menschenrechte erkämpfen werden. Deutschland, das Mutterland der abendländischen Judenheit, das Land der Geistesfreiheit und Sittenzucht, Deutschland wird mit seinem Siege Gerechtigkeit und Völkerfrieden in der Welt begründen. Darüber können wir“ – so schließt sein Aufruf an die Juden Amerikas – „auf diplomatische Zusicherungen verzichten. Wir vertrauen auf die Logik unseres Geschickes und unserer Geschichte.“23

      VII.Kritik am Zionismus

      Auf der Basis dieser Voraussetzungen, das heißt auf der Basis eines eigentümlichen Gemisches von rigoroser universalistischer Moral, partiellen Konzessionen an das Rassedenken und einer Deutung des prophetischen Judentums, das in seinem Sinn gerade die Zerstreuung unter die Völker als metageschichtlichen Sinn jüdischen Schicksals akzeptieren mußte, konnte Cohen die damals entstehenden zionistischen Gedanken, etwa Martin Bubers, nur ablehnen. Die Sammlung der Juden und die Beschränkung auf eine womöglich religiös inspirierte Nationalstaatsgründung in Palästina mußten in dieser Perspektive als Verrat am prophetischen Messianismus erscheinen. In doppelter Frontstellung sowohl gegen die ihm als relativistisch erscheinenden Ansichten Moritz Lazarus’, der ihm in seiner Ablehnung der Rassenlehre gewichtige materialistische Einsichten preiszugeben schien, als auch gegen Martin Bubers Partikularismus beharrt Cohen auf dem Gedanken einer jüdischen Nation als weltweiter Kulturnation. Dieses Beharren beruhte, wie kurz darauf sein Eintreten für das kriegführende Deutschland, auf dem, was man als „historisches Bewußtsein“ bezeichnet, was aber in Cohens Variante wenig anderes war als eine Variante geschichtsphilosophischen Fortschrittsglaubens. Wenn Cohen am Ende seines Appells an die amerikanischen Juden von der „Logik“ der Geschichte und des Geschickes der Juden spricht, so handelt es sich dabei nicht um eine nachlässige façon de parler, sondern um ein wohlüberlegtes geschichtsphilosophisches Argument.

      Religion war für Cohen ein Teil der allgemeinen kulturellen Entwicklung der Menschheit, einer Entwicklung, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Den Zionismus lehnte Cohen nicht nur deshalb ab, weil er ihm zu sehr an utilitaristischen Zwecken eines glücklicheren Lebens und zu wenig am Rigorismus des Sittengesetzes orientiert war („Die Kerls wollen glücklich sein […]“), sondern aus der geschichtsphilosophischen Überzeugung heraus, daß er hinter das von den Propheten erreichte Niveau moralischer Universalität zurückfalle. Wo Theodor Herzl etwa aus dem Antisemitismus der Dreyfusaffäre die Konsequenz eines jüdischen Staates zog, beglaubigte Cohen den „geschichtlichen Sinn des Abschlusses der Dreyfusaffäre“:

      „Wir dürfen in der Zuversicht leben, daß unser Leiden zu einem glorreichen Abschluß kommt; glorreich nicht etwa nur für uns, sondern für die ganze Menschheit. Es muß Recht auf Erden werden; die Gerechtigkeit darf nicht im Stande der Gnade und Toleranz bleiben. Wie unserem französischen Märtyrer, unserem Glaubensbruder in der französischen Armee, die Ehre wieder hergestellt wird, weil die heilige Gerechtigkeit es erfordert, so dürfen wir ein gleiches Schicksal für alle unsere Märtyrer erhoffen. Und für unsere religiöse Gesamtheit erkennen wir zuversichtlich den Zusammenhang unseres Martyriums mit dem Siege der Wahrheit und mit dem wahrhaften sittlichen Heile dere Menschheit.“24

      VIII.Geschichtsphilosophie nach Hegel

      Nun sind derlei Meinungen, als politische und religiöse Äußerungen aufs Ganze des deutschen Judentums des neunzehnten Jahrhunderts bezogen, alles andere als ungewöhnlich.

      Systematisch stellt sich freilich bei dem methodologisch und wissenschaftstheoretisch versierten Autor des Prinzips der Infinitesimalmethode und seiner Geschichte aus dem Jahre 1883 die Frage nach der Legitimität der Neuformulierung einer Geschichtsphilosophie. Insofern sich nun die jüdische wie auch jede andere Religion in der Geschichte entfaltet hat, „Religion“ aber wie „Geschichte“ ein Begriff ist und alle Begriffe in der Vernunft ihren systematischen Ursprung haben, kann die Aufgabe einer zeitgemäßen Religionsphilosophie in nichts anderem bestehen, als den „Begriff der Religion durch die Religion der Vernunft zur Deckung“ zu bringen.25 Kaum anders als Hegel in seiner Philosophie der Geschichte beharrt auch Cohen auf dem Verfahren einer vernunftgeleiteten Konstruktion der Geschichte, und zwar so, daß ein vernünftiger Begriff von Religion im Reich der geschichtlichen Entwicklung genau die Elemente auffindet, die er ohnehin systematisch zu konstruieren hätte. Gerät damit das geschichtliche, kulturelle, religiöse Material zur blanken Illustration einer auch unabhängig von ihm zu konstruierenden sittlichen Wahrheit? Das ist für den späten Cohen deshalb nicht der Fall, weil auf der Basis seiner Voraussetzung in der Geschichte die menschliche Vernunft immer schon am Werke ist und somit nichts anderes als deren Wirken zutage bringt. Alleine aus diesem Grund hält es Cohen für legitim, die Religion der Vernunft ausgerechnet aus den Quellen des Judentums zu konstruieren:

      „Dieser Allgemeinheit, welche zur Grundbedingung sonach für die Religion der Vernunft wird, scheint es nun aber zu widersprechen, daß wir aus den Quellen des Judentums die herleiten wollen: die der geschichtlichen Wirklichkeit ihren einzelnen Erscheinungsformen gegenüber Notwendigkeit verleiht, das ist ja gerade die Allgemeinheit, die sich trotz allen sozialen Hemmnissen und trotz allen Unzulänglichkeiten in der Geschichte der Völker dennoch hindurchzuringen vermöge, und die in diesem Ringen und Sich-an-das-Licht-des-Tages-bringen einen Fortschritt und insbesondere eine Kontinuität vollziehe, in welcher der Sinn der Geschichte sich begründet, in welcher die Geschichte zur Geschichte der Vernunft wird.“26

      Cohens stärkstes Argument für diese geschichtsphilosophische Betrachtungsweise besteht somit in seiner Annahme des psychischen und sozialen, somit realen Wirkens der auf Allgemeinheit zielenden Vernunft, des Organs der Gesetze. Das Wesen der Vernunft besteht für Cohen in dem, was er mit einer heute wenig glücklich wirkenden Beleihung eines neutestamentlichen Begriffs als „Gesetzlichkeit“ bezeichnet. Diese „Gesetzlichkeit“, das heißt die Fähigkeit der Menschen zur Bildung allgemeiner Begriffe und zur formalen Überprüfung von Unstimmigkeiten, stelle zugleich das Band zwischen der menschlichen und einer anderen Vernunft dar. Über diese Vernunft kann freilich nur eine begrifflich angeleitete Untersuchung der Religion Aufschluß geben. Dabei geht Cohen realistisch und induktiv vor, das heißt von ihrem Inhalt und ihrem Umfang aus, die Cohen mit einer folgenschweren Entscheidung beide als „Mensch“ bestimmt.27 So ist ein Weg gewiesen, den Menschen seiner – wie Cohen es ausdrückt – „empirischen Zweideutigkeit“ zu entreißen.28 Dabei